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Dein Leuchten

Jay Asher

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2016

ISBN 9783641203061 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

KAPITEL 1

»Ich hasse diese Jahreszeit«, sagt Rachel. »Tut mir leid, Sierra. Wahrscheinlich sage ich das ständig, aber es stimmt einfach.«

Auf der gegenüberliegenden Seite des Rasens verschleiert der Morgennebel den Eingang zu unserer Schule. Wir bleiben auf dem Gehweg, damit wir uns keine feuchten Schuhe holen, aber Rachel meint nicht das Wetter.

»Hör bitte auf«, sage ich. »Sonst fange ich wieder an zu heulen. Ich möchte diese Woche einfach nur durchstehen, ohne dass …«

»Aber es geht doch gar nicht mehr um eine Woche!«, sagt sie. »Wir haben nur noch zwei Tage. Zwei Tage bis zu den Herbstferien und dann bist du wieder für einen ganzen Monat weg. Mehr als einen Monat!«

Ich hake mich bei Rachel ein, als wir weitergehen. Obwohl ich diejenige bin, die wieder einmal die Adventszeit weit weg von zu Hause verbringen wird, tut Rachel jedes Jahr so, als würde ihre Welt auf den Kopf gestellt. Ihre Schmoll-Schnute und die hängenden Schultern gelten mir, damit ich weiß, dass sie mich vermissen wird, und jedes Jahr bin ich dankbar für ihre Theatralik. Obwohl ich gern dort bin, wohin ich fahre, fällt der Abschied trotzdem schwer. Zu wissen, dass meine besten Freundinnen die Tage zählen, bis ich wiederkomme, macht es tatsächlich leichter.

Ich deute auf die Träne in meinem Augenwinkel. »Siehst du, was du angerichtet hast? Jetzt fängt es an.«

Am Morgen, als Mom mich zur Schule gefahren hat, ist der Himmel noch überwiegend klar gewesen über der Farm, auf der wir Tannenbäume züchten. In den Wäldchen waren die Arbeiter damit beschäftigt, die diesjährige Ausbeute zu fällen, das entfernte Summen der Kettensägen klang wie von Mücken.

Der Nebel begann weiter unten. Er erstreckte sich über die kleinen Bauernhöfe, die Schnellstraße, bis in die Stadt, und trug den typischen Geruch dieser Jahreszeit mit sich. Zu dieser Zeit riecht unsere Kleinstadt hier in Oregon nämlich nach frisch gefällten Weihnachtsbäumen. Zu anderen Jahreszeiten riecht sie auch mal nach Mais oder Zuckerrüben.

Rachel hält mir eine der Glasdoppeltüren auf und trottet mir dann bis zu meinem Schließfach hinterher. Dort hält sie mir ihre glitzernde rote Armbanduhr unter die Nase. »Wir haben noch eine Viertelstunde«, sagt sie. »Ich hab schlechte Laune und mir ist kalt. Komm, wir holen uns einen Kaffee, bevor es klingelt.«

Die Theaterregisseurin der Schule, Miss Livingston, ermuntert ihre Schüler schamlos dazu, so viel Koffein wie nötig zu inhalieren, um die Aufführungen rechtzeitig auf die Beine zu stellen. Hinter der Bühne steht daher immer eine Kanne Kaffee bereit. Da Rachel Haupt-Bühnenbildnerin ist, hat sie jederzeit Zugang zur Aula.

Am vergangenen Wochenende hat die Theatergruppe zum letzten Mal »Der kleine Horrorladen« aufgeführt. Die Bühne wird nicht vor den Herbstferien abgebaut, deshalb steht noch alles so, wie es war, als Rachel und ich hinten im Zuschauerraum das Licht einschalten. Auf der Bühne, zwischen der Theke des Blumenladens und der großen, grünen, fleischfressenden Pflanze, hockt Elizabeth. Sie richtet sich auf und winkt uns zu, als sie uns sieht.

Rachel marschiert jetzt zielstrebig vor mir den Mittelgang entlang. »Dieses Jahr wollten wir dir etwas Besonderes schenken, bevor du nach Kalifornien fährst.«

Ich folge ihr, vorbei an den leeren, rot gepolsterten Stuhlreihen. Offenbar legen die beiden es darauf an, dass ich die letzten Schultage ständig heule. Ich steige die Treppe zur Bühne hinauf. Elizabeth steht auf, läuft zu mir herüber und umarmt mich.

»Ich hatte recht«, sagt sie über meine Schulter zu Rachel. »Ich hab dir ja gesagt, sie würde heulen.«

»Ich hasse euch alle beide«, sage ich.

Elizabeth überreicht mir zwei Geschenke, die in glänzendes, silbernes Weihnachtspapier gewickelt sind, doch ich ahne bereits, was darin steckt. Letzte Woche waren wir gemeinsam in der Innenstadt in einem Geschenkeladen, und dabei haben sie sich Bilderrahmen angeschaut, die dieselbe Größe hatten wie diese Schachteln. Um sie auszupacken, setze ich mich hin und lehne mich direkt unter der altmodischen Registrierkasse an den Ladentresen.

Rachel hockt sich im Schneidersitz mir gegenüber, unsere Knie berühren sich fast.

»Ihr brecht gerade die Regeln«, sage ich. Ich fahre mit dem Finger die Falte vom Geschenkpapier einer der Schachteln entlang. »Wir haben doch abgemacht, wir tun das erst, wenn ich wieder da bin.«

»Wir wollten dir etwas schenken, das dich jeden Tag an uns erinnert«, sagt Elizabeth.

»Ein bisschen peinlich ist es uns ja schon, dass uns das nicht eingefallen ist, als du das erste Mal weggefahren bist«, fügt Rachel hinzu.

»Was, damals, als wir noch Kleinkinder waren?«

An unserem allerersten Weihnachten blieb Mom allein mit mir auf der Farm zurück, während Dad unseren Weihnachtsbaumverkauf unten in Kalifornien betrieb. Im folgenden Jahr fand Mom, wir sollten besser noch eine Saison zu Hause bleiben, aber Dad wollte nicht noch einmal ohne uns sein. Lieber würde er den Stand für ein Jahr unbesetzt lassen, sagte er, und stattdessen die Käufer im ganzen Land beliefern. Aber Mom taten die Familien leid, die traditionellerweise ihre Weihnachtsbäume bei uns kauften. Und auch wenn es ein Geschäft war, das Dad schon in der zweiten Generation betrieb, war es für sie beide auch eine lieb gewordene Tradition. Tatsächlich hatten sie sich kennengelernt, weil Mom und ihre Eltern treue Kunden waren. Daher verbringe ich jedes Jahr meine Tage von Thanksgiving bis Weihnachten dort.

Rachel stützt die Hände auf dem Bühnenboden ab und lehnt sich zurück. »Überlegen deine Eltern immer noch, ob das euer letztes Weihnachten in Kalifornien wird?«

Ich ziehe ein Stück Tesa von der anderen Seite des Geschenks ab. »Habt ihr das hier im Laden einpacken lassen?«

Rachel flüstert Elizabeth so laut zu, dass ich es hören kann: »Sie wechselt das Thema.«

»Tut mir leid«, sage ich, »ich will nur nicht darüber nachdenken. So sehr ich euch liebe, würde es mir trotzdem fehlen runterzufahren. Abgesehen davon, weiß ich nur das, was ich zufällig mitgehört habe – sie haben mir gegenüber immer noch nichts erwähnt –, aber sie scheinen ziemliche Geldsorgen zu haben. Bis sie sich entschieden haben, will ich mein Herz an keine der beiden Möglichkeiten hängen.«

Wenn wir die Saison dort noch drei Jahre durchziehen, wird meine Familie den Stand dreißig Jahre lang betrieben haben. Als meine Großeltern damals das Grundstück kauften, expandierte die kleine Stadt gerade rapide. Städte, die viel näher an unserer Farm in Oregon lagen, hatten bereits Verkaufsplätze für Weihnachtsbäume eingerichtet, eigentlich gab es damals schon viel zu viele. Heute verkauft jeder Weihnachtsbäume: Supermärkte, Eisenwarengeschäfte oder Leute, die Spenden sammeln. Verkaufsplätze wie unserer sind nicht mehr so üblich. Wenn wir ihn aufgäben, würden wir unser Geschäft über diese Supermärkte oder Spendenaktionen laufen lassen oder andere Verkäufer mit unseren Bäumen beliefern.

Elizabeth legt mir die Hand aufs Knie. »Ein Teil von mir möchte, dass du nächstes Jahr wieder hinfährst, weil ich weiß, dass du es so gerne tust, aber falls du doch bleibst, könnten wir Weihnachten zum ersten Mal gemeinsam verbringen.«

Bei dem Gedanken muss ich unwillkürlich lächeln. Ich habe diese beiden unglaublich gern, aber auch Heather ist eine meiner besten Freundinnen, und ich sehe sie nur einen Monat im Jahr, wenn ich in Kalifornien bin. »Seit Ewigkeiten fahren wir da runter«, sage ich. »Unvorstellbar wie es wäre, wenn das plötzlich … anders wäre.«

»Wie das wäre?«, sagt Rachel. »Wir wären im Abschlussjahr! Skifahren. Whirlpools. Und das im Schnee!«

Aber ich liebe unsere schneefreie Stadt in Kalifornien, die direkt an der Küste liegt, nur drei Stunden südlich von San Francisco. Ich kann es kaum erwarten, die Weihnachtsbäume zu verkaufen und die Familien wiederzusehen, die Jahr um Jahr zu uns kommen. Es ginge mir sehr gegen den Strich, die Bäume mühsam hochzuziehen, nur um sie dann an einen Verkäufer zu verschicken.

»Klingt doch verheißungsvoll, oder?«, fragt Rachel. Sie beugt sich dicht zu mir und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. »Und stell dir jetzt noch Jungs dazu vor.«

Ich lache prustend los und halte mir schnell den Mund zu.

»Oder auch nicht«, sagt Elizabeth, während sie Rachel an der Schulter zurückzieht. »Wär doch schön, einfach unter uns zu bleiben, ohne irgendwelche Jungs.«

»So läuft für mich ungefähr jedes Weihnachten«, sage ich. »Wisst ihr noch, letztes Jahr hat mein Ex am Abend, bevor wir nach Kalifornien gefahren sind, mit mir Schluss gemacht.«

»Das war furchtbar«, meint Elizabeth, lacht aber auch ein bisschen. »Und dann bringt er noch diese Hausunterrichts-Schnalle mit den großen Möpsen zum Winterball und …«

Rachel legt Elizabeth einen Finger auf die Lippen. »Ich glaube, sie erinnert sich noch ganz gut.«

Ich blicke auf mein Geschenk hinab, das immer noch zum Großteil verpackt ist. »Ich kann ihm beim besten Willen keinen Vorwurf daraus machen. Wer will schon über die Feiertage eine Fernbeziehung? Ich jedenfalls nicht.«

»Allerdings hast du auch mal erwähnt, es gäbe ein paar gut aussehende Typen beim Weihnachtsbaumverkauf«, sagt Rachel.

»Na sicher.« Ich schüttle den Kopf. »Als ob Dad das je zulassen würde.«

»Okay, Schluss mit dem Thema«, sagt Elizabeth. »Pack lieber deine Geschenke aus.«

Ich ziehe ein Stück Tesafilm ab,...