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Wer die Kälte liebt - Skandinavien für Anfänger

Tilmann Bünz

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641016500 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Erstes Kapitel
Schweden: Leben von Sommer zu Sommer
Konzert in Wollhosen – Sommerland in Hospitantenhand -

Bitte kein Gedränge – Deutsch-schwedische

Missverständnisse – Transparenz total – Die Hassliebe

zum Schnaps – Open Party – Fähren mit Anhänger -

Kleine Fluchten – Menschen sind keine Rentiere -

Die Kunst, auf dem Eis zu überleben – Das Gesetz von

Jante – Eine unerwiderte Liebe – nordische Familie

Konzert in Wollhosen


Der Mai beginnt damit, dass überall in Schweden tapfere Menschen singend den Winter verabschieden. Sie stehen in wollenen Unterhosen um große Scheiterhaufen und trällern aufmunternde Lieder, in denen von der Macht des Sommers die Rede ist. In diesen Liedern lacht die Maisonne. Sie sollen darüber hinweghelfen, dass es tatsächlich nur sieben Grad warm ist. Jahr um Jahr lauschen die Schweden den schönen Liedern und treten dabei von einem Bein auf das andere, um die Blutzirkulation in Gang zu halten.
Es ist der Abend vor dem ersten Mai, die Walpurgisnacht ist nah. Auch der Motettenchor unserer Insel hat heute seinen festen Auftritt unter freiem Himmel, diesmal mit einer neuen Sängerin, die fröstelnd rechts am Rand bei den dunkleren Stimmen steht. Jutta verstärkt den Alt und freut sich, einen angemessenen Platz für ihre schöne Stimme gefunden zu haben. Ein bisschen Neid ist bei ihr auch dabei, auf die Schweden und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Bräuche pflegen. Das halbe Land singt, und die andere Hälfte hört zu. Schweden ist das Land der Chöre und der ungebrochenen Sangestradition, wie das Wetter auch sein mag.
Hinter uns stürmt die Ostsee, vor uns singt der Chor gegen die Kälte an, und seitlich wartet ein Holzhaufen von zwanzig Meter Durchmesser darauf, in Brand gesteckt zu werden. Die Festrednerin im Wollmantel und in dicken Strümpfen beschwört den nahenden Sommer und erinnert sich an ihre eigene Jugend, als sie an Walpurgis ausgelassen feiern wollte und sich schrecklich darüber ärgerte, dass die Mutter sie in wollenen Unterhosen auf das Fest schickte.
Kleine Jungs stehen am Strand und schnipsen Steine ins Wasser. Das Ufer liegt voll Treibholz. Der Winter war lang, wie gut, dass er vorbei ist.
Das letzte Lied ist verklungen. Mit brennenden Stöcken nähern sich ein paar Auserwählte dem Scheiterhaufen, und dreihundert Menschen raunen gleichzeitig »Oooh«, als die ersten Flammen züngeln.

Sommerland in Hospitantenhand


Nach Walpurgis dauert es noch sieben Wochen, bis der richtige schwedische Sommer beginnt. Den merkt man daran, dass alle weg sind. Verschwunden, untergetaucht, niemand ist zu sprechen. Bei der Schulabschlussfeier Mitte Juni verabschieden sich die Familien mit den Worten »bis nach dem Sommer«. Das kann man durchaus wörtlich nehmen.
Weil es Jahr für Jahr nur einen Sommer gibt, machen während dieser Zeit alle Ferien. Wenn man behauptet, »alle« seien im Urlaub, so stimmt das nicht ganz. Es trifft aber immerhin auf achtundachtzig Prozent der Beschäftigten zu. Schweden ist zweifellos eines der Länder, die den Sommer erfunden haben – und die passende Philosophie dazu. Urlaub ist hier wichtiger als Umsatz. Die Praktikanten übernehmen die Macht. Wer dennoch arbeiten muss, tut es murrend. Es ist besser, Geburtstermine außerhalb der Sommerferien zu legen – wenn es sich denn einrichten lässt. Die Sommerferien sind so heilig, dass an Ostern 2006 die SAS-Stewardessen in Norwegen für ihren fairen Anteil an Sommerzeit streikten. Das alles muss man wissen, wenn man in den Norden zieht. Es gibt Schlimmeres. Wie schön, dass ein Land kollektiv die Seele baumeln lässt und Kraft schöpft nach dem langen, harten Winter.
 

Unangenehm kann es allerdings werden, wenn die allgemeinen Zeitläufe dem Sommer in die Quere kommen. So wie im Juli 2004: Es herrscht die übliche Funkstille. Unsere schwedische Büroleiterin Lisa versucht vergeblich, auf den Ämtern Leute zu erreichen, selbst der zuständige Pflichtverteidiger ist auf seiner Schäreninsel verschwunden. Es geht immerhin um das Urteil in letzter Instanz gegen den Mörder der Außenministerin Anna Lindh. Zurechnungsfähig oder psychisch gestört, lebenslänglich Gefängnis oder Einweisung in die Heilanstalt – das sind die spannenden Fragen.
Wir warten in der Halle des Reichsgerichts auf den Urteilsspruch, zusammen mit ein paar Kollegen. Gleich wird sich eine Holztür öffnen, der Gerichtsdiener wird einen Stoß Kopien auf den Tisch legen, und wir werden uns alle darauf stürzen.
Es ist ein wichtiger Termin: Als Erste wird die junge Kollegin vom schwedischen Rundfunk berichten, Sekunden nach der Urteilsverkündung. Sie kann jederzeit in das laufende Programm schalten, sobald sie das Papier in Händen hält. Den Sender mit den langen Antennenstäben hat sie wie einen Rucksack auf den Rücken geschnallt.
Ich werfe einen Blick in die Runde und stelle wie selbstverständlich die Frage, ob wir uns diesmal wieder an den Druckkosten für die Urteilsbegründung beteiligen müssen wie bei den beiden Vorinstanzen. Zur Antwort ernte ich erstaunte Blicke. Um mich herum erkenne ich nur neue Gesichter. Da wird mir schlagartig klar: Alle anderen sind in Urlaub – hier steht die zweite Garnitur, die Ersatzreserve. Alle anderen sind ausgeflogen.
Der Mörder von Anna Lindh wurde übrigens für schuldfähig erklärt und musste lebenslänglich hinter Gitter.
 

 

Bei vielen Berufsgruppen mag es angehen, wenn die Hospitanten im Sommer die Macht übernehmen, meinetwegen auch bei Journalisten. Was aber ist mit wirklich zentralen Figuren des öffentlichen Lebens wie Polizisten und Krankenschwestern? Was ist, wenn etwas passiert? Ein Thema, das uns in geradezu schwejksche Abgründe führt: Zehn Monate lang funktioniert Schweden wie ein hoch effektives Industrieland, den Rest der Zeit leistet es sich eine Sommerpause wie in einer Dorfschule. Ist dieses Urteil übertrieben?
Im kleinen Landstädtchen Kisa machen wir die Probe aufs Exempel. Es liegt in Mittelschweden und verfügt über 493 Badeseen. Kisa gehört nicht zu den sechzig unglücklichen Gemeinden, in denen es im Sommer gar keine Polizeiwache gibt. In Kisa wird immerhin eine Art Notdienst gefahren. Die beiden Streifenpolizisten Arne und Mans reagieren am Telefon zunächst etwas zögerlich auf unsere Anfrage: Wir würden gerne am Beispiel einer ländlichen Polizeistation erfahren, wie man die Verbrecher in Schach halten kann, ohne auf seinen Urlaub als Polizist zu verzichten. Die beiden Polizisten sehen dann aber doch ein, dass dies eine berechtigte Frage ist.
Arne und Mans stecken in der klassischen blauen Uniform. Beide haben breite Schultern, sprechen das gedehnte Idiom des südlichen Schwedens und strahlen Freundlichkeit und Ruhe aus. Arne ist der Ältere und seit fünfundzwanzig Jahren Polizist. Mans arbeitet seit einigen Jahren mit ihm zusammen.
Die Polizeiwache ist ein schmuckloser Flachbau im Zentrum der Kreisstadt, mit Platz für sechs Polizisten und ein Empfangszimmer. Dort sitzt die Sekretärin Barbro, die aber nächste Woche für vier Wochen in Urlaub gehen wird. Sie wird während dieser Zeit nicht ersetzt, die Polizei muss sparen. Die beiden Herren müssen in den kommenden Wochen allein zurechtkommen.
Der Ventilator dreht sich, es ist warm im Büro. Arne und Mans hören den Anrufbeantworter ab und beschließen, den Tag mit einer Streife durch die Landgemeinde zu beginnen. Die beiden Polizisten halten in Kisa die Stellung, aber nur an ausgewählten Tagen. Es ist schwer, den Dienst aufrechtzuerhalten, wenn zwei Drittel des Personals Urlaub machen. Die Kernzeiten der Wache von Kisa kann jeder in der Zeitung nachlesen:
Montag 7.00 – 15.00 Uhr
Dienstag 7.00 – 15.00 Uhr
Freitag 14.00 – 23.00 Uhr
Samstag 14.00 – 23.00 Uhr
Sonntag 14.00 – 23.00 Uhr
 

Für den Rest der Woche hat die Wache geschlossen. Heute ist einer der aktiven Tage, und Arne und Mans nehmen uns mit durch ihr ländliches Revier. Wir kurven über sanfte Hügel, grüne Weiden, vorbei an kleinen Holzhäusern in Rot oder Gelb, und landen an einem der größeren Badeseen mit Bootsanleger. Fünfzig Motorboote schaukeln in der Mittagsbrise, neunundvierzig davon haben einen Motor am Heck hängen. Einer fehlt.
Letzte Nacht haben sich Diebe auf dem Steg herumgetrieben. Arne und Mans hatten da gerade Feierabend – doch die Wache verfügt zum Glück über einen Anrufbeantworter. Sie erfuhren von dem Diebstahl, als sie gleich am Morgen alle Nachrichten abhörten. Nun sehen sie nach, ob sich die Lage am Tatort wieder beruhigt hat. Sie machen ein Foto und notieren den Bootstyp. Jährlich verschwinden in Schweden viele Tausende von Außenbordmotoren. Die Aufklärungsquote bei diesen Verbrechen ist minimal.
Ganz verstanden haben wir die innere Logik des sommerlichen Dienstplans noch nicht. Im Winter zählt der Landkreis etwa zwanzigtausend Einwohner, im Sommer kommen noch einmal genauso viele Sommergäste dazu. Diebe machen im Allgemeinen keinen Urlaub, sie arbeiten im Gegenteil am liebsten im Sommer.
»Aber warum haben Sie dann ausgerechnet im Sommer geschlossen, wenn doch zu dieser Zeit mehr los ist?«, fragen wir...