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Forellenquintett

Ulrich Ritzel

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641023966 , 384 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Dienstag, 27. September
Aus dem Schatten, den die Morgensonne in die Häuserschluchten warf, rollte eine blaue Tramwaj, ruckte über eine Weiche und nahm wieder Fahrt auf. Dem Mann, der mit einer Plastiktüte in der einen Hand stehen geblieben war und mit der anderen die Augen abschirmte, kam es so vor, als liefen die Waggons auf ungewöhnlich kleinen Rädern, wie Raupenfahrzeuge, die enge Kurven und steile Rampen überwinden müssen. Die Haltestelle war nur fünfzig Meter entfernt. Wenn er sich beeilte, würde er sie noch rechtzeitig erreichen und mitfahren können, vielleicht bis zur Endstation, irgendwo da draußen zwischen Abraumhalden und Schrottplätzen müsste eine geeignete Stelle zu finden sein.
Aber er wollte nicht rennen. Nicht mit der Plastiktüte und dem Ding darin, das ihm gegen die Beine schlagen würde. Außerdem hatte er kein Bilet. Soviel er wusste, hätte er sich vorher eins in einem Tabak- oder Zeitungsladen kaufen müssen. Die Straßenbahn hielt, ein paar Leute stiegen aus, darunter zwei Frauen, die nun auf ihn zukamen, mit kleinen energischen Schritten, und als sie an ihm vorbei waren, folgte ihnen der Mann, weil es offenkundig einen vernünftigen und unverdächtigen Grund gab, diese Richtung zu nehmen.
In der Nacht hatte es geregnet, und noch immer roch es, als sei ein Teil des Staubs und der Abgase aus der Luft herausgewaschen. Zumindest schienen die Bewohner der Stadt es so zu empfinden, denn sie hatten ihre altersschwarzen Wohnblocks verlassen, überall sah er Leute, alte und junge, gebrechliche, gleichgültige oder solche, deren Gesicht Misstrauen verbergen mochte.
Es ist lächerlich, dachte der Mann, dem die Plastikträger in die Hand schnitten, aber seit dem Frühstück war er unterwegs und hatte nirgendwo einen Platz gefunden, an dem er es gewagt hätte, die Tüte abzustellen. Dabei war es eine Tüte wie hunderttausend andere auch, von einer Hamburger-Kette ausgegeben, deren gelbroter Schriftzug deutlich zu sehen war, ziemlich genau an der Stelle, an der sich die Plastikfolie über einer Wölbung spannte. Vor einer halben Stunde noch hatte er sich damit getröstet, wie komisch es sein würde, wenn er von seiner Irrfahrt erzählen könnte, seiner Odyssee durch die staubigen, von Schlaglöchern übersäten Straßen der Stadt, auf der Suche nach einer Ruine, von denen es doch genug geben musste, oder auch nur nach einem abseits gelegenen Müllbehälter, und wie er sich dabei immer genauer, immer hartnäckiger beobachtet fühlte, bis er schließlich begriff, dass es nicht allein die Menschen auf der Straße waren, denen er sich ausgeliefert fühlte.
Wirkliche Gefahr droht von dem, den man nicht sieht, der vielleicht nur aus einem Fenster späht, hinter einem Vorhang verborgen. Es gab unzählige Fenster in dieser Stadt, mit Gardinen oder bunten Vorhanglappen drapiert und dicht an dicht in die staubgrauen Mauern gestanzt, als bohrten sich hunderttausend Augen in seinen Nacken, aber wer glaubt einem das?
Die beiden Frauen vor ihm bogen nach links ab, die ältere der beiden trug einen mausgrauen Mantel mit einem mausgrauen Pelzkrägelchen und ging etwas schneller als die andere, die jünger war und schwerfälliger, die breiten Hüften in Jeans gezwängt. Der Mann blieb etwas zurück. Vor einem Motorradladen mit schweren japanischen Maschinen waren zwei Tische und die Plastikstühle dazu auf das Trottoir gestellt, an einem der Tische saßen zwei Burschen in Lederjacken und räkelten ihre Beine über den Gehsteig, die Bierdosen vor sich, und musterten ihn, fast belustigt, als sei etwas komisch daran, wie er hinter den Frauen herlief und ihm die rot und gelb bedruckte Plastiktüte neben den Knien baumelte. Aus dem Laden dröhnte ein Lautsprecher, fast gerührt erkannte der Mann den alten Seelenfeger »Bobby Mc-Gee«, und es war wirklich und wahrhaftig die Stimme von Janis Joplin, wie schön, dass es eben auch Lieder mit Worten gab, wenn man sie nur singen konnte. Für einen Augenblick überlegte er, stehen zu bleiben und den Biertrinkern zuzunicken, wie jemand, der gerade genug Zeit hat, sich an einem guten alten Lied zu erfreuen, aber im gleichen Atemzug verscheuchte er den Gedanken wieder, dies war kein Morgen für den Austausch von Sentimentalitäten, schon gar nicht mit Leuten, die die Zeit und das Geld übrig hatten, sich vormittags vor einer Kneipe herumzudrücken.
Nicht mit mir, dachte der Mann und ging weiter, zügig tat er das, aber nicht so schnell, dass es irgendjemandem hätte auffallen können, dann bog auch er ab, hinter sich hörte er die beiden Biertrinker auflachen, er geriet in eine Seitenstraße, an deren Ende eine rußgeschwärzte, geduckte Kirche stand, mit einem kümmerlichen neogotischen Aufsatz, der gerne so getan hätte, als sei er ein himmelhoch ragender Turm.
Du bist Betschwestern nachgelaufen, dachte der Mann, das hättest du eigentlich etwas früher merken können, in diesem Land musst du mit so etwas rechnen. Fast zu spät bemerkte er, dass ihm ein Passant mit einem Hund entgegenkam, der Hund trug einen Maulkorb, aber trotzdem wechselte er rasch über die Fahrbahn auf die andere Straßenseite. Hunde hatte er noch nie leiden können und das Geschnüffel schon gar nicht, was hast du da, was riecht da so? Die Fahrbahn war an manchen Stellen mit grobem Klinker gepflastert, und an anderen war sie asphaltiert, es sah aus, als sei die Straße niemals neu gewesen, sondern immer nur ausgebessert worden.
Er sah sich um und nahm die Plastiktüte in die andere Hand. Der Mann mit dem Hund war um die Ecke gebogen. Niemand schien ihn zu beachten. Die beiden Frauen hatten das Kirchenportal erreicht und verschwanden darin, zuerst die eine im Mäntelchen hineingehuscht, dann die andere nachgewalzt. Das Fragment eines Bibelspruchs tauchte aus seiner Erinnerung auf, wie von einem Suchscheinwerfer erfasst, irgendetwas von Mühseligen und Beladenen, das Fragment verschwand wieder und machte einem Gedanken Platz.
An Rabatten und vom Regen grün gewaschenen Hecken vorbei kam er zum Portal, stieß die Kirchentür auf und schob einen erstickend muffigen Vorhang zur Seite.
 

 

 

Die Frau, die die Tür des Appartementhauses aufgezogen hatte und nun auf der Schwelle stehen blieb, war groß und schlank und hatte langes, dunkles, von einer einzelnen grauen Strähne durchzogenes Haar. Ihre rechte Hand steckte in der Tasche eines ausgebeulten grauen Jacketts mit Fischgrätmuster, mit der linken Hand hielt sie die Tür geöffnet, während sie sich draußen umsah. In einigen, wenigen Briefkästen steckten Zeitungen, Post war noch nicht gekommen, aber das ging sie nichts an, denn sie hatte schon vor Wochen ihren Briefkasten zugeklebt und das Namensschild entfernt.
Auf den überdachten Vorplatz neben den Briefkästen hatte der Wind ein paar Blätter geweht. Sonst lag da nichts, nicht an diesem Morgen. Schließlich hatte die Frau genug gesehen, sie ging an der hoch gemauerten Gartenböschung vorbei zur Straße. Wieder blieb sie stehen. Die meisten Wagen, die entlang der Straße geparkt waren, kannte sie. Auch die anderen waren nicht auffällig, keine Nummernschilder mit der Zahl 88, aber was hieß das schon!
Der Morgen versprach einen schönen Spätsommertag, wenn sich der Nebel über der Stadt erst aufgelöst haben würde. An der Bushaltestelle wartete ein einzelner Mann, rauchend, unförmig dick, und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Bus, der von der Universität kam und zum Hauptbahnhof fuhr, war pünktlich und fast leer. Der Dicke nahm einen letzten Zug aus der Zigarette, ehe er sie wegwarf und schnaufend das Trittbrett erklomm.
Die Frau wartete, bis er seinen Körper vollends in den Fahrgastraum gewälzt hatte, und folgte ihm dann. Im Bus saßen ein paar Frauen und zwei oder drei Rentner. Sie setzte sich nicht, sondern blieb an der Ausstiegstür stehen.
Nach zwei Stationen, am Theater, verließ sie den Bus, überquerte die Kreuzung und nahm den Weg durch die Gassen in Richtung Münster, dessen Umrisse allmählich aus dem Nebel hervortraten. Das sah sie freilich erst, als sie durch eine Passage auf den Münsterplatz selbst gelangte. Dort hielt sie sich rechts und kam so zum Eingangstor eines massigen rotbraunen Ziegelbaus, der in der Stadt nur der Neue Bau hieß. Das Tor führte auf einen mit Einsatz- und Zivilfahrzeugen der Polizei voll gestellten Innenhof.
Die Frau betrat den Haupteingang und nickte den beiden uniformierten Beamten zu, die hinter dem mit einer Glasscheibe abgetrennten Tresen saßen, dann stieg sie mit raschen Schritten die Treppe hoch, die zu den Räumen der Kriminalpolizei führte. Wie jeden Morgen schaute sie zuerst bei der Post- und Fernschreibstelle vorbei und wünschte einen guten Tag. Schaufler, der Beamte, der dort Dienst tat, war seit einem Unfall gehbehindert. Trotzdem stemmte er sich hoch und humpelte ihr entgegen, einen Umschlag im DIN-A4-Format in der Hand.
»Ich glaube, die haben sich wieder gemeldet.«
Die Frau nahm den Umschlag entgegen, ohne erkennbares Widerstreben. Der Umschlag war dünn und fühlte sich an, als sei nur ein einziges Blatt darin. Die Adresse:
An die Kriminalkommissarin Tamar Wegenast, Neuer Bau, Ulm/Donau
sah aus, als sei sie mit einem Computer geschrieben worden.
»Ja«, sagte Tamar, »sieht wohl so aus.«
Schaufler hatte sie beobachtet, nun blickte er weg. »Es ist die schiere Ohnmacht«, sagte er. »Sonst können die nichts.«
»Wer weiß das schon«, antwortete sie und ging in ihr Büro. Es war leer, denn ihr Kollege Markus Kuttler feierte Überstunden ab. Für einen oder zwei Augenblicke hielt sie den Umschlag in der...