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Der Scherbensammler

Monika Feth

 

Verlag cbt Jugendbücher, 2009

ISBN 9783641023249 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1
 
Es war, als hätte sie sich in ihrem Innern ein Nest gebaut. Als säße sie darin versteckt, sicher und geborgen, während draußen ihr Körper weiter funktionierte. Dunkel war es hier drinnen. Warm. Weich. Sie hatte keinen Hunger und keinen Durst, empfand keine Schmerzen und keine Traurigkeit.
Irgendwer hatte die Kontrolle übernommen. Das war beruhigend. Irgendwer fühlte sich immer verantwortlich. Sie ließen sie nicht im Stich. Zusammengekauert in ihrer Höhle, schloss sie die Augen und horchte auf die Stille. Für eine Weile war alles gut.
»Bis morgen dann!«
Tilo Baumgart sah von den Unterlagen auf und verabschiedete seine Sekretärin mit einem zerstreuten Lächeln. Er war damit beschäftigt, die Notizen der letzten Sitzung zu vervollständigen. Der Patient hatte ihn erregt angebrüllt und die Sitzung vorzeitig abgebrochen. Beim Hinausgehen hatte er mit voller Wucht die Tür hinter sich zugeschlagen.
Der erste Schritt. Er hatte so viel Vertrauen gefasst, dass er loslassen und Gefühle zeigen konnte. Tilo war zufrieden. Er hatte schon gar nicht mehr darauf zu hoffen gewagt.
»Viel Spaß!«, rief er Ruth hinterher, weil ihm eingefallen war, dass sie ja ihre Tochter zu Besuch haben würde. Das Mädchen lebte beim Vater. Ruth holte sie an jedem zweiten Wochenende zu sich und manchmal auch für ein paar Stunden zwischendurch.
Anscheinend hatte Ruth ihn nicht mehr gehört, denn sie antwortete nicht. Ihre Absätze klackerten über den Flur, dann war es ruhig. So ruhig, dass Tilo sich zum ersten Mal an diesem Tag entspannte.
Gähnend schaute er auf die Uhr. Seltsam. Eigentlich müsste Mina längst hier sein. Mit achtzehn Jahren war sie die jüngste seiner Patientinnen. Seit Beginn der Therapie vor zwei Jahren hatte sie keinen Termin versäumt und sich nie verspätet. Verwundert schob er die Papiere in den Hefter, trug ihn ins Nebenzimmer und ordnete ihn in die Kartei ein. Dabei fiel sein Blick auf Ruths Schreibtisch.
Er war ein Spiegel ihrer Persönlichkeit. Der üppige Blumenstrauß in der Vase. Das Foto ihrer kleinen Tochter. Der rote Stein, den sie als Briefbeschwerer verwendete. Die Ansichtskarte aus Irland, die an der Schreibtischlampe lehnte. All das war Ruth. Ein freundliches Durcheinander (Ruth nannte es kreatives Nebeneinander) von Dingen.
Tilo kehrte in sein Zimmer zurück, setzte sich auf seinen Stuhl, legte die Füße auf den Schreibtisch und schloss die Augen. Er liebte die Augenblicke, die ihm ganz allein gehörten, die wenigen Minuten zwischen den Terminen. Träge sah er sich um.
Er nannte seine Räume nicht gern Praxis. So wie er die Menschen, die ihn hier aufsuchten, nicht gern Patienten nannte. Er hatte sich oft andere Begriffe überlegt, doch auch die hatten nicht standgehalten. Die Menschen, die er therapierte, waren in ihrer Vielschichtigkeit unmöglich über einen Kamm zu scheren. Sie waren ihm fast immer lieber als die angeblich Gesunden draußen, ehrlicher, offener, selbst wenn sie sich versteckten. Sie waren zutiefst aufrichtig in ihrem Bemühen, der Welt mit all ihren Ängsten zu begegnen, ohne sich vollends der Panik zu überlassen.
»Du liebst jeden von ihnen«, hatte Imke neulich zu ihm gesagt. »Und ab und zu liebst du den einen oder andern noch ein bisschen mehr.«
Als Schriftstellerin konnte sie gar nicht anders, als genau zu beobachten. Manchmal merkte Tilo, dass er ihr gegenüber vorsichtig wurde. Menschen, Dinge und Situationen waren für Imke oft hauptsächlich Material für ihre Bücher. Er hatte nicht vor, zu einer ihrer Figuren zu werden. Und noch weniger wollte er, dass einer seiner Patienten es wurde.
Nach einem letzten Blick auf die Uhr griff er nach dem Telefon. Mina würde nicht mehr kommen. Er hatte Imkes Nummer eingespeichert. An erster Stelle. Die Taste war schon abgegriffen, die Beschriftung verblasst.
»Thalheim.«
Sie meldete sich immer mit einem leise fragenden Unterton in der Stimme. Als wartete sie auf irgendwas. Oder irgendwen? Er lächelte. Das fehlte noch, dass er auf einmal anfing, eifersüchtig zu werden.
»Ich habe gerade an dich gedacht«, sagte er.
»Wie schön.«
Ihre Stimme hatte sich augenblicklich verwandelt, war zärtlich geworden und ein klein wenig atemlos.
»Soll ich dich heute zu einem fulminanten Abendessen ausführen?«, fragte er.
»Wenn du Frauen mit fulminanten Pfunden begehrenswert findest.« Sie lachte leise. Ihre Figur war einwandfrei. Sie konnte es sich leisten, damit zu kokettieren.
»Ich liebe jedes Pfund an dir«, sagte er, und das stimmte. Diese Frau hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Morgens beim Abschied freute er sich schon aufs Wiedersehen. Die meisten Abende und Nächte verbrachte er inzwischen bei ihr. Nur manchmal zog es ihn noch in seine Wohnung. Ab und zu brauchte er ein paar Stunden des Alleinseins, um sich daran zu erinnern, dass es auch abseits von Imke Thalheim noch ein Leben gab.
»Bist du fertig für heute?«, fragte sie.
»Ja. Mein letzter Termin ist geplatzt.« Er klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr und fing an, seine Tasche zu packen. »Ich mache mich gleich auf den Weg.«
»Ich freu mich auf dich«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Immer hatte sie das letzte Wort. Doch auch das liebte er an ihr. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Draußen verglühte der Sommer. Eine schwarze Katze räkelte sich auf den warmen Steinen am Brunnen. Das Wasser plätscherte. Plötzlich hatte Tilo große Lust, sich Imke zu schnappen und für ein paar Tage ans Meer zu fahren. Einfach so. Spontan, unvernünftig und abenteuerlich.
Aber da war der Terminkalender. Da waren seine Patienten. Und außerdem war Imke nicht die Frau, die sich schnappen und ans Meer entführen ließ. Seufzend machte er das Fenster zu und griff nach seiner Tasche. Er hatte jetzt zwei Jahre nonstop durchgearbeitet. Vielleicht sollte er das Abendessen nutzen, um Imke einen ersten gemeinsamen Urlaub schmackhaft zu machen. Der Gedanke beflügelte ihn. Pfeifend schloss er die Praxis ab und durchquerte beschwingt den langen, angenehm kühlen Flur.
Überall war Blut. Auf dem Boden. An der Wand. An ihren Schuhen. Ihren Kleidern. Entsetzt starrte sie ihre Hände an.
Rot. Klebrig.
Es ließ sich nicht abreiben. Trotzdem fuhr sie wieder und wieder über ihre Jeans. Bis ihr die Hände brannten.
Ein Fenster. Sie musste ein Fenster öffnen! Mühsam rappelte sie sich auf. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh. Tief atmen. Sauerstoff in die Lungen schaffen. Kraft sammeln.
Und Mut.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und warum sie in diesem Zimmer auf dem Boden gekauert hatte. Vor allem aber wusste sie nicht, woher das Blut kam. All das rote, glitschige Blut.
Ihr wurde schwindlig. Sie stützte sich an der Wand ab, bemerkte entsetzt, dass sie schwache rote Abdrücke auf der weißen Tapete hinterließ. Stöhnend setzte sie einen Fuß vor den andern und folgte dem Licht, das sie zu einem Fenster führen musste.
Vielleicht war das ein Traum. Und sie steckte darin fest. In einem seltsam eindrücklichen Traum, der ihr vorgaukelte, dies hier sei die Wirklichkeit. Sie konnte fühlen, hören, Farben sehen. Waren Träume farbig? Oder nur schwarz-weiß?
Hastig riss sie das Fenster auf. Nahm wahr, dass eine Pflanze zu Boden fiel und der Übertopf mit einem Knall in Scherben ging. Und dann lehnte sie sich hinaus und sog gierig die frische Luft ein.
Ich hatte das Geschirr in die Spülmaschine geräumt und mir einen Eimer Seifenwasser geholt, um die Tische abzuwischen. Alles, was mit Küche und Speisesaal zu tun hatte, roch für mich gleich und erinnerte mich an Krankenhaus.
Es war ein muffiger, abgestandener Geruch, der hartnäckig an jedem Gegenstand zu haften schien, erst recht an dem warmen, feuchten Putzlappen. Wenn ich mit dem Dienst fertig war, hatte sich dieser Geruch auch in meinen Kleidern verfangen und in meinem Haar. Er lag sogar auf meiner Haut. Ich konnte abends nicht schnell genug unter die Dusche kommen.
Die Tische waren immer völlig versaut. Die meisten alten Leute waren nicht mehr in der Lage, die Hände ruhig zu halten. Manche mussten gefüttert werden. Ab und zu verschluckten sie sich und spuckten beim Husten das Essen umher. Sie warfen ihr Glas oder ihre Tasse um. Zogen eine Kleckerspur, wenn sie sich Gemüse oder Kartoffeln nahmen.
Heute hatte es zum Abendessen Brot mit Aufschnitt und Käse gegeben. Dazu Tomatensalat. Und Tee in allen Variationen. Besonders beliebt waren Kamille, Fenchel und Pfefferminz. Und schwarzer Tee. Doch der war am Abend nicht mehr erlaubt.
Ich arbeitete gern hier. Schon vor dem Abi hatte ich mich um eine Stelle bemüht. Mir war immer klar gewesen, dass ich ein freiwilliges soziales Jahr machen wollte. Und ich hatte immer gewusst, dass ich mich am liebsten um alte Menschen kümmern würde.
Meine Großmutter behauptet, das sei mein Helfersyndrom. Sie ist ein großartiger Mensch, fit und vital und mit einer dermaßen spitzen Zunge ausgestattet, dass sie glatt ein zu Boden segelndes, hauchfeines Seidentuch damit spalten...