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Nussschale

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607772 , 288 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{9}1


So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau. Ich warte, die Arme geduldig gekreuzt, warte und frage mich, in wem ich bin und worauf ich mich eingelassen habe. Sehnsüchtig schließe ich die Augen, denke ich daran zurück, wie ich einst im durchsichtigen Fruchtsack trieb, verträumt in der Blase meiner Gedanken schwebte, in Zeitlupe Purzelbäume durch meinen privaten Ozean schlug und dann und wann sanf‌t an die transparenten Grenzen meiner Umfassung stieß, dieser mitteilsamen Membran, die vibrierte vom Widerhall der leicht gedämpf‌ten Stimmen der Verschwörer und ihrer schändlichen Pläne. Das war in meiner sorglosen Jugend. Nun – längst gedreht und ohne einen Zentimeter freien Raum, Knie eng an den Bauch gezogen, Kopf ins Becken gesenkt – laufen meine Gedanken auf Hochtouren. Das Ohr Tag und Nacht an die blutdurchströmten Wände gepresst, bleibt mir auch keine andere Wahl. Ich lausche, merke mir alles und mache mir Sorgen, denn ich {10}höre Bettgeflüster, das von einer tödlichen Intrige kündet, und zittere bei dem Gedanken an das, was mich erwartet. Wo werde ich da hineingezogen?

Ich schwimme in Abstraktionen, und allein die sich ständig mehrenden Beziehungen zwischen ihnen schaf‌fen die Illusion einer bekannten Welt. Wenn ich ›blau‹ höre, eine Farbe, die ich nie gesehen habe, stelle ich mir ein mentales Ereignis vor, das jenem von ›grün‹ ähnlich ist, einer Farbe, die ich gleichfalls noch nie sah. Ich zähle mich zu den Unschuldigen, bin von Bündnissen und Verpf‌lichtungen unbeschwert, ein freier Geist trotz meines beschränkten Lebensraumes. Es gibt niemanden, der mir widerspräche, der mich ermahnte, ich habe keinen Namen, keine Adresse, keine Religion, keine Schulden und keine Feinde. Mein Terminkalender, wenn es ihn denn gäbe, vermerkte höchstens den baldigen Tag meiner Geburt. Ich bin – oder war –, trotz allem, was die Genetiker heute behaupten, ein unbeschriebenes Blatt, eine leere Schiefertafel. Wenn auch eine aus glitschigem, porösem Schiefer, wie er in keinem Klassenzimmer, keinem Häuserdach Verwendung fände, eine Schiefertafel, die wächst und sich dabei selbst beschreibt und deren leere Fläche stetig abnimmt. Ich zähle mich zu den Unschuldigen, und doch spiele ich offenbar eine Rolle in einem Komplott. Meine Mutter, gesegnet {11}sei ihr unablässig laut mahlendes Herz, scheint darin verwickelt zu sein.

Scheint, Mutter? Nein, ist. Du bist. Du bist verwickelt. Ich habe es von meinem Anfang an gewusst. Lasst mich ihn heraufbeschwören, jenen Moment der Schöpfung, der übereinfällt mit meinem ersten Gedanken. Vor langer Zeit, vor mehreren Wochen, wölbten sich die Neuralwülste auf, um mein Rückgrat zu bilden, und viele Millionen junger Neuronen, wuselig wie Seidenwürmer, spannen und webten mit Hilfe ihrer Axonschweife das herrliche goldene Gewebe meiner ersten Idee – ein so simpler Begriff, dass er sich mir heute wieder entzieht. War es ich? Zu selbstverliebt. War es jetzt? Zu dramatisch. Dann etwas, das beidem vorausgeht und beides enthält, ein einzelnes Wort, Ausdruck eines stillen Seufzers, eines Schwindelgefühls der Hinnahme, des reinen Seins, etwas wie – dies? Zu gewählt. Meine Idee, ganz nahe dran, hieß sein. Und wenn nicht sein, dann die grammatische Variante ist. Das war mein Urbegriff, der springende Punkt – ist. Nur das. Im Geiste von: Es muss sein. Der Beginn des bewussten Lebens war das Ende der Illusion – der Illusion des Nichtseins – und zugleich die Eruption des Realen. Der Triumph des Realismus über die Magie, von ist über scheint. Meine Mutter ist in eine Verschwörung verwickelt, {12}und folglich bin ich es auch, selbst wenn es mir zufiele, ihre Pläne zu durchkreuzen. Oder mich zu rächen, falls ich – zaudernder Narr, der ich bin – zu spät zur Welt komme.

Doch ich will nicht jammern, denn eigentlich habe ich Glück gehabt. Von Beginn an, als ich aus goldenem Tuch das Geschenk meines Bewusstseins wickelte, begriff ich, dass ich zu schlimmerer Zeit an schlimmerem Ort hätte ankommen können. Das Allgemeine steht bereits fest, meine familiären Probleme sind dagegen vernachlässigbar, sollten es zumindest sein. Es gibt Anlass zur Freude. Ich erbe alle Vorzüge der Moderne (Hygiene, Ferien, Narkosemittel, Leselampen, Apfelsinen im Winter) und lebe in einer privilegierten Gegend dieses Planeten, im wohlgenährten, seuchenfreien Westeuropa. Das alte Europa, verkalkt und überwiegend altersmilde, von den eigenen Geistern heimgesucht, wehrlos gegen Brutalität und Tyrannei, seiner selbst unsicher und zugleich ersehntes Ziel Millionen Leidender. Meine unmittelbare Umgebung wird indes nicht das unbeschwerte Norwegen sein – meine erste Wahl schon wegen des gewaltigen Staatsfonds und der großzügigen Sozialleistungen. Auch nicht Italien, wegen der Küche und des sonnengebadeten Verfalls meine zweite Wahl. Nicht einmal die dritte Wahl {13}wird es sein, Frankreich mit seinem Pinot Noir und dem sorglosen Selbstbewusstsein seiner Bewohner. Stattdessen werde ich in einem ganz und gar nicht Vereinigten Königreich leben, regiert von einer allseits verehrten, betagten Queen, in welchem der Prinz – bekannt für seinen Geschäftssinn, seine guten Werke, seine Elixiere (Blumenkohlsud zur Reinigung des Blutes) und seine verfassungswidrigen Einmischungen – ungeduldig auf die Krone wartet. Dies wird meine Heimat sein, und sie wird genügen. Ich hätte auch in Nordkorea zur Welt kommen können, wo die Thronfolge zwar ebenso unangefochten ist, Freiheit und Essen aber zu wünschen übriglassen.

Wie kommt es, dass ich, der ich noch nicht einmal jung bin, noch nicht einmal von gestern, so viel weiß, oder doch genug weiß, um mich in so vielem irren zu können? Ich habe meine Quellen, ich lausche. Trudy, meine Mutter, hört, wenn sie nicht mit ihrem Freund Claude zusammen ist, gern Radio und lieber Wortbeiträge als Musik. Wer hätte in den Anfängen des Internets den unaufhaltsamen Aufstieg des Radios vorhergesehen? Oder die Renaissance des archaischen Wortes ›drahtlos‹? Über den Waschmaschinenlärm von Magen und Gedärm hinweg höre ich Nachrichten, diesen Born aller bösen Träume. Ein Drang zur Selbstkasteiung lässt {14}mich aufmerksam alle Analysen, jeden Widerspruch verfolgen. Stündliche Wiederholungen und halbstündliche Kurzfassungen langweilen mich nicht. Ich dulde sogar den BBC World Service mit seinen infantilen Fanfaren – synthetische Trompeten und Xylophone – zwischen den einzelnen Beiträgen. In so mancher langen, ruhigen Nacht habe ich meiner Mutter einen hef‌tigen Tritt verpasst. Sie wurde wach, konnte nicht wieder einschlafen und tastete nach dem Radio. Grausam, ich weiß, aber am Morgen waren wir beide besser informiert.

Außerdem hört sie sich mit Vorliebe Podcasts an: Hörbuch-Ratgeber – Werde Weinkenner in fünfzehn Folgen –, Biographien von Dramatikern des siebzehnten Jahrhunderts oder Klassiker der Weltliteratur. Bei James Joyces Ulysses schläft sie ein, obwohl ich hell begeistert bin. Und wenn sie sich Kopfhörer aufsetzt, vernehme ich jedes Wort noch klarer und deutlicher, so gut werden Schallwellen durch Kieferknochen und Schlüsselbein übertragen, hinab durch ihr Skelett und zügig weiter durchs nährende Fruchtwasser. Selbst das Fernsehen entfaltet den Großteil seines bescheidenen Nutzens durch Schall. Und manchmal, wenn sich meine Mutter mit Claude triff‌t, reden sie auch über den Zustand der Welt, beklagen ihn zumeist, obwohl sie planen, zu seiner Verschlechterung {15}beizutragen. In meiner Wohnstatt, in der mir nichts weiter bleibt, als an Körper und Geist zu wachsen, nehme ich alles wahr, selbst Triviales – und davon gibt es reichlich.

Denn Claude ist ein Mann, der es liebt, sich zu wiederholen. Ein Mann der immerselben Leier. Schüttelt er einem Fremden die Hand, sagt er – zweimal schon hab ich’s gehört – »Claude, wie in Debussy«. Doch er irrt. Er ist Claude wie in Bauunternehmer, ein Mann, der nichts erfindet, nichts komponiert. Gefällt ihm ein Gedanke, spricht er ihn laut aus, denkt er ihn später noch einmal, spricht er ihn wieder aus – warum auch nicht? Die Luft mit seinem Gedanken ein zweites Mal in Schwingung zu versetzen, bereitet ihm Vergnügen. Er weiß, dass jeder weiß, dass er sich wiederholt. Nur weiß er nicht, dass andere es nicht so toll finden wie er selbst. Aus einer »Reith Lecture« der BBC habe ich gelernt, dass man so was ein Referenzproblem nennt.

Hier ein Beispiel für Claudes Art zu reden und auch dafür, wie ich Informationen sammle. Meine Mutter und er haben sich am Telefon (ich höre beide Seiten) für den Abend verabredet. Ein Essen à deux bei Kerzenschein – wie so oft zählen sie mich nicht mit. Woher ich das mit dem Kerzenschein weiß? Als es so weit ist und sie zu ihrem {16}Platz geführt werden, höre ich, wie meine Mutter sich beklagt. Überall brennen die Kerzen, nur nicht an unserem Tisch.

Der Reihe nach folgen: ein verärgertes Luftschnappen von Claude, ein herrisches Schnippen trockner Finger, serviles Gemurmel, wie es ein vermutlich vornübergebeugter Kellner von sich gibt, das Ratschen eines Feuerzeugs. Und schon haben sie ihren Kerzenschein. Fehlt nur noch das Essen. Die schweren Speisekarten liegen jedoch bereits auf ihrem Schoß – quer über mein Kreuz kann ich den unteren Rand von Trudys Karte spüren. Und erneut muss ich mir Claudes abgedroschene Kommentare zur...