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Die letzten Tage der Nacht

Graham Moore

 

Verlag Eichborn AG, 2017

ISBN 9783732539826 , 463 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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KAPITEL 2


Der Zauberer von Menlo Park

Zur Hölle noch eins, Regeln gibt es hier nicht – schließlich wollen wir doch etwas auf die Beine stellen.

– THOMAS EDISON,
HARPER’S MAGAZINE, SEPTEMBER 1932

Bevor er zur Tür ging, zog Paul sich die Krawatte fest und griff nach seinem Mantel. Seit beinahe einem halben Jahr war er mit einem Gerichtsverfahren beschäftigt, das er gegen Thomas Edison führte, aber kennengelernt hatte er den berühmtesten Erfinder der Welt bislang noch nicht.

Edison musste von dem Ereignis gehört haben, dem überaus öffentlichen tödlichen Stromunfall eines Mannes auf einer innerstädtischen Straße. Mit Sicherheit würde er darauf reagieren. Aber was wollte er von Paul?

Bevor er das Büro verließ, zog Paul einen Ordner aus einer Schublade, entnahm ihm einige Unterlagen und steckte sie sich in die Innentasche seines Wollmantels. Was Edison auch planen mochte: Er hätte eine eigene Überraschung auf Lager.

Zu derart später Stunde war es auf dem Broadway duster. Die wenigen Gaslaternen malten lediglich einen dünnen gelblichen Schein auf das Kopfsteinpflaster. Nur in einiger Entfernung funkelte es: Die Wall Street im Süden war eine Festung aus hell strahlendem elektrischem Licht inmitten einer schmutzig über Manhattan hängenden Glocke aus Rauch und Gas.

Paul wandte sich dem dunklen Norden zu und hielt schnell eine vierrädrige Droschke an.

»Fifth Avenue Nummer 65«, wies er den Kutscher an. Während die Edison General Electric Company ihr berühmtes Labor zwar immer noch in New Jersey betrieb, hatte der Hauptsitz des Unternehmens mittlerweile eine deutlich schickere Adresse.

Der Fahrer drehte sich zu Paul herum. »Treffen Sie den Zauberer?«

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass seine Mutter ihn so nennt.«

»Seine Mutter ist doch schon lange tot«, gab der Droschkenkutscher zurück. »Wissen Sie das nicht?«

Die Legenden, die sich um Edisons Geschichte rankten, fand Paul ein ums andere Mal erstaunlich. Binnen eines knappen Jahrzehnts im Licht der Öffentlichkeit hatte Edison sich zum Hänschen Apfelkern der Gegenwart gemausert. Was einen wütend machen konnte – aber man musste ihm schon lassen, dass er das geschickt angestellt hatte.

»Edison ist auch nur ein Mensch«, sagte Paul. »Selbst wenn die Sun anderes behauptet.«

»Er vollbringt Wunder! Blitze in einer Glasflasche. Stimmen in einem Kupferdraht. Welcher Mensch vermag denn so etwas?«

»Ein reicher.«

Die vor sich hin trottenden Pferde brachten sie den Broadway hinauf, vorbei an der ruhigen Houston Street und den modernen Reihenhäusern auf der 14. Straße. Die Stadt lag im Dunkeln. Dann aber bogen sie auf die Fifth Avenue ein. Plötzlich rückten die elektrischen Lampen in den Blick, die diese Straße erhellten. Noch wurde der Großteil New Yorks nachts mit Kohlengas beleuchtet, jenem flackernden Licht, das die Stadt seit hundert Jahren heller machte. Aber in jüngster Zeit hatte eine Handvoll begüterter Geschäftsleute ihre Häuser mit diesen neuartigen elektrischen Glühbirnen ausgestattet. In einigen wenigen Straßen traf man jetzt auf ungefähr 99 Prozent der Elektrizität Amerikas, Straßen, deren Namen allgemein bekannt waren: Wall Street, Madison Avenue, 34. Straße. Und mit jedem Tag wurden diese Straßen einen Hauch heller, immer dann, wenn ein weiteres Haus ans Stromnetz angeschlossen wurde. Die hoch oben hängenden Kabel wirkten wie Festungsmauern rund um jeden dieser Häuserblocks. Wenn Paul die Fifth Avenue hinaufschaute, sah er Fortschritt.

Und trotzdem: Sollte er erfolgreich sein, würde er das illuminierte Imperium von Edison einstürzen sehen.

Es war elf Uhr abends, als Paul das Haus Nummer 65 auf der Fifth Avenue betrat. Die untersetzten Männer hinter den Fensterscheiben trugen ihre Schusswaffen recht beiläufig mit sich herum. Sie hatten aber auch keinen Grund für kriegerische Drohgebärden. Nur jemand sehr Dummes hätte dieses Gebäude furchtlos betreten.

Ein bärtiger Mann mittleren Alters wartete am zentralen Treppenaufgang und streckte Paul die Hand entgegen. Er lächelte nicht. »Ich bin Charles Batchelor.«

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Paul. Batchelor war Edisons rechte Hand: der Vorsteher seines Labors und gleichzeitig sein oberster Schläger. Wenn Edison schmutzige Wäsche zu waschen hatte, dann ließ Batchelor den Zuber ein. In den Zeitungen stand, man treffe den einen nie ohne den anderen an. Im Unterschied zu seinem Arbeitgeber gab Batchelor allerdings keine Interviews. Nie war sein Gesicht neben dem von Edison auf einer Titelseite zu sehen.

»Er wartet bereits auf Sie«, sagte er jetzt und führte Paul die Treppe hinauf. Edisons Büro lag im dritten Stock. Batchelor öffnete eine Flügeltür aus Eichenholz und hieß Paul eintreten, blieb selbst aber ohne ein weiteres Wort gleich hinter dem Eingang stehen. Es war, als würde er unsichtbar, solange er keine weiteren Anweisungen erhielt.

Der Raum war üppig ausgestattet. Mit Antikleder bezogene Sessel. Ein Mahagoni-Schreibtisch mit Glasplatte, auf dem elektrische Gerätschaften herumstanden. Eine Liege in einer der hinteren Ecken. Den Gerüchten zufolge schlief Edison nur drei Stunden pro Nacht. Wie bei den meisten Gerüchten über Thomas Edison war Paul sich nicht sicher, wie glaubwürdig dieses war.

Entlang der Wände mit ihren gemusterten Tapeten waren alle paar Meter hübsche elektrische Glühbirnen in Rosenform angebracht worden. Und Grundgütiger, was waren sie hell!

Paul blickte auf seine Hände hinunter. Ihm wurde bewusst, dass er die eigenen Hände noch nie bei elektrischem Licht gesehen hatte. Er konnte die blauen Adern unter der Haut erkennen. Dazu Sommersprossen, Pockennarben, Schrammen, Schmutz und die unansehnlichen Furchen, über die ein Mann im Alter von sechsundzwanzig Jahren bereits verfügte. Der verräterische Mittelfinger, der immer zuckte, wenn er nervös war. Paul hatte das Gefühl, dass nicht nur das Licht neu war, sondern er gleichermaßen. Es brauchte lediglich einen glühenden Faden, und schon war er enttarnt als einer, der zu sein er nie für möglich gehalten hatte.

Hinter dem breiten Mahagoni-Schreibtisch saß Thomas Edison und rauchte eine Zigarre.

Er sah besser aus, als Paul erwartet hatte, und war schlanker, als es auf Fotos den Anschein hatte, dazu besaß er den kräftigen Unterkiefer eines Mannes aus dem Mittleren Westen. Obwohl schon jenseits der vierzig, war Edisons Haar noch immer so wirr und ungekämmt wie das eines Schuljungen. Einen weniger imposanten Mann hätte das älter aussehen lassen; bei Edison wirkte es, als gäbe es eben wichtigere Dinge, um die er sich zu kümmern hatte. In dem grellen Licht konnte Paul sogar das Grau seiner Augen ausmachen.

»Guten Abend.«

»Warum bin ich hier, Mr Edison?«

»Gleich zur Sache also. Diese Eigenschaft schätze ich bei meinen Anwälten.«

»Ich bin nicht Ihr Anwalt.«

Edison hob auf eigentümliche Art die Augenbrauen und schob dann ein Blatt Papier über den Schreibtisch. Paul zögerte erst – er hatte nicht vor, seine Stellung aufzugeben. Dann aber wollte er doch sehen, was Edison ihm da zeigte, und trat vor.

Es war eine Kopie der Titelseite der New York Times. TOD IN DEN KABELN!, lärmte die Schlagzeile. ENTSETZLICHES SCHAUSPIEL – LEITUNGSMONTEUR AUF KABELNETZ GEGRILLT. In der Spalte darunter stand ein erregter Artikel, der die Gefahren der Elektrizität anprangerte. Die Redakteure stellten infrage, ob es tatsächlich sicher war, kreuz und quer durch die Stadt Stromleitungen zu spannen, die voller roher, noch unzureichend verstandener Energie steckten.

»Das ist die Zeitung von morgen«, sagte Paul. »Wie sind Sie da denn drangekommen?«

Edison überhörte die Frage. »Ihre kleine Firma, wie heißt sie noch? Sie sitzen da doch ganz in der Nähe, oder nicht?«

»Ich habe gesehen, wie es passiert ist.«

»Ach, tatsächlich?«

»Ich habe gesehen, wie der Mann in Flammen aufging, und ich war da, als die Feuerwehrleute seinen Leichnam aus den Kabeln schnitten. Aber die Leitungen auf dem unteren Broadway sind ja nicht die Ihrigen. Und auch nicht die meines Mandanten. Das sind Leitungen der U. S. Illuminating Company. Und da ich – dem Himmel sei Dank – nicht der Anwalt von Mr Lynch bin, geht mich diese Angelegenheit nichts an. Genauso wenig hat sie zu tun mit dem Zwist zwischen Ihnen und George Westinghouse.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Warum bin ich hier?«

Edison hielt kurz inne und sagte dann: »Für den Fall, dass Sie das noch nicht bemerkt haben, Mr Cravath: Hier wird ein Krieg geführt. Innerhalb der nächsten Jahre wird jemand ein Stromnetz errichten, das die gesamte Nation mit Licht versorgt. Dieser Jemand könnte ich sein. Oder Mr Westinghouse. Nach dem heutigen Tag wird es sicher nicht mehr Mr Lynch sein. Der wird bis morgen früh von der Presse vernichtet worden sein.«

»Klingt nach einem guten Tag für meine Seite.«

Edison ließ Asche von seiner Zigarre auf ein goldenes Tablett fallen und sagte dann:

»Im vergangenen Jahr hatte ich eine Menge Gegenspieler, denen ich mich hätte widmen können. Nach dem heutigen Tag habe ich nur noch einen. Ihren Mandanten. Entweder ich gewinne – oder Mr Westinghouse. So einfach ist das. Mein Unternehmen ist zehnmal so groß wie seines. Ich bin ihm in der Herstellung dieser Technologie um sieben Jahre voraus. J. P. Morgan selbst hat mir nie versiegende finanzielle Mittel für unsere Expansion zugesagt. Und ich … Nun ja. Ich denke, Sie wissen, wer ich bin.«

Edison nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre und stieß dann eine Rauchwolke in die Luft. »Ich habe...