dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Gott ist nicht schüchtern - Roman

Olga Grjasnowa

 

Verlag Aufbau Verlag, 2017

ISBN 9783841212863 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

Someone in a Cambridge common room asked the self-designated »non-Jewish Jew« and Marxist historian Isaac Deutscher about his roots. »Trees have roots«, he shot back, scornfully, »Jews have legs«.

Landscape and Memory

Simone Schama

In der Küche wirft Amal einen letzten Blick auf ihren Text, dann noch einen in den Spiegel und verlässt schließlich die Wohnung. Die Tür zur Terrasse steht offen. Wahrscheinlich ist sie wieder von Scharfschützen besetzt. Amal schaut nicht nach, schließt aber dennoch die Eingangstür und die Tür zur Terrasse ab.

Erst jetzt erinnert sie sich an die Vorhänge, die sie vom Schneider abholen sollte und geht zurück. Sie packt die Quittung, die ihr bescheinigt, die Hälfte des Betrags bereits bezahlt zu haben, in ihre Hosentasche und rennt die Treppen hinunter, wobei jede Stufe eine andere Höhe hat. Die massive Holztür im ersten Stockwerk ist angelehnt, bestimmt ist der Architekt, der hier sein Büro hat, nur kurz Frühstück holen.

Amal begrüßt den Optiker, dessen Geschäft sich im Erdgeschoss ihres Hauses befindet. Er hat dichte, zusammengewachsene Augenbrauen und ein freundliches Gesicht, obwohl die nichtentspiegelten Gläser seiner Brille die Augen übernatürlich groß erscheinen lassen. Der Optiker winkt Amal in seinen Laden, der nach Reinigungsmitteln riecht, und bietet ihr einen Tee an, aus dem sie die Schmierseife herauszuschmecken meint. Dann sagt er, dass die Satellitenschüssel, die Amal sich mit ihm teilt – er hat sie bezahlt, und Amal hat ihm erlaubt, sie auf ihrer Terrasse aufzustellen –, nicht mehr funktioniert. Ob er jemanden schicken könne, um sie zu reparieren? Amal hat nichts einzuwenden.

Der Himmel ist blass und wolkenlos, vor kurzem hatte es noch geregnet. Nun glitzert der Asphalt vor Nässe, und auf den Zweigen und Blättern der Bäume funkeln Wassertropfen im Sonnenlicht. Die Jasminsträucher verströmen ihren betörenden Duft.

Amal zieht ihren Mantel enger und biegt nach links ab. Sie bemerkt, dass auf der Hauptstraße keine Autos fahren – wahrscheinlich ist der Platz vor dem Parlament wieder abgeriegelt, weil die Assad-Anhänger ihre Demonstration des guten Willens vor dem Parlament abhalten. Es sind die leidenschaftlichsten Anhänger, regelrechte Gläubige, die Fotos von Baschar al-Assad, aber auch die seines Vaters und des verunglückten älteren Bruders, der an seiner statt hätte herrschen sollen, wie Ikonen während eines orthodoxen Gottesdienstes in die Höhe halten. Unter ihnen sind aber auch Schulkinder, Studenten und Beamte, die von der Regierung in Bussen zu den Demonstrationen gefahren werden, ohne sich dagegen wehren zu können.

Damaskus befindet sich mehr denn je in den Händen der Geheimpolizei. Die strategisch wichtigen Punkte der Stadt werden überwacht, weil die Machthaber jede Demonstration und jede Menschenansammlung im Blick behalten wollen. Trotz allem ist Damaskus der Ort, an dem Amal geboren wurde und aufgewachsen ist, die Stadt, deren Straßen und Gassen sie wie keine anderen kennt, deren Sprache und Bräuche ihr geläufig sind und deren Menschen sie mal mehr, mal weniger versteht. Sie möchte nicht weg, und doch weiß sie, dass sie keine andere Wahl hat. Vielleicht muss sie ja gar nicht lange wegbleiben, so hofft sie. Die neuen Vorhänge sollen dafür bürgen.

Ihre Absätze klappern auf dem Kopfsteinpflaster. Die vielen Restaurants in der Straße sind alle schon voll und der Essensgeruch liegt in der Luft. Sie betritt die Schneiderei. Der Inhaber, klein und rund, gewährt Amal Rabatt und steckt ihr einen Bonbon zu, und sie lacht aus vollem Herzen. Eine füllige Frau im schwarzen Gewand betritt den Raum und fängt an, kokett mit dem Schneider zu schwatzen. Amal ergreift die Gelegenheit und verabschiedet sich rasch.

Sie spaziert an der beliebten Smoothie-Bar »Abou Shaker« vorbei, die winzig ist und in deren Schaufenster Fotographien vom Besitzer, seiner Familie und seinem Großvater – eines Bodybuilding-Champion – ausgestellt sind. Die Atmosphäre ist angespannt. Sorge und Angst haben sich bereits in die Gesichter der Passanten eingeschrieben. Es gibt viele Zugezogene in der Stadt, sie sind vor den Kämpfen in Idlib, Deir az-Zour, Homs und Aleppo in die noch sichere Hauptstadt geflohen. Ihre Mienen sehen durch die mitgebrachten Sorgen noch verbitterter aus als die der Damaszener. Sie passen zum neuen Sound der Stadt: den Sirenen der Polizei- und Rettungswagen.

Amal geht am Parlament und dem Club der Generäle vorbei, sie ist nun am al-Hamra-Theater und betrachtet die Plakate für die neuen Produktionen. Das Kino Scham ist geschlossen, offiziell wegen Renovierungsarbeiten, aber der eigentliche Grund ist ein anderer. Das Assad-Regime führt Dschihad gegen die darstellenden Künste und hat fast alle Theater und Kinos geschlossen. Dafür wurden Tausende von neuen Moscheen erbaut.

Amal biegt nach rechts ab. Vor der Dar al’Saalam-Schule, der Schule des Friedens, wurde über Nacht ein Checkpoint errichtet. Die Straßensperre besteht aus zwei Kleinwagen und fünf bewaffneten Soldaten, die mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck willkürlich Menschen anhalten. Es sind Teenager, die zum ersten Mal im Leben Waffen tragen und die Erfahrung machen, Macht über Leben und Tod zu haben. Das macht sie arrogant und dumm. Amal lächelt einen der Soldaten an, er grinst verlegen zurück. Vorsichtshalber beschließt sie, den Checkpoint nicht zu passieren. Viele Soldaten betonen jetzt ihren alevitischen Akzent, um deutlich zu machen, dass sie dem Regime treu ergeben sind. Sie sind überall. Mit ihren Opels und Geländewagen haben sie sogar den Geruch von Damaskus verändert.

Am Kiosk, der fast nur vom Geheimdienst frequentiert wird, kauft Amal Zigaretten der Marke Gitanes Blondes und drei Taschenlampen, da der Strom ständig ausfällt und sie Angst hat, sich in ihrem Treppenhaus die Knochen zu brechen.

Amal hat Hunger, kann sich aber nicht entscheiden, ob sie sich in der Patisserie Damer ein Eis oder einfach eine Falafel kaufen soll. Da es für das Eis noch ein wenig kühl ist, entscheidet sie sich für die Falafel am Stand nebenan. Sie isst im Gehen. In den letzten Wochen ist ihr aufgefallen, dass sie von einem schmächtigen Jungen verfolgt wird, der eine auffallende Ähnlichkeit mit Bassel hat. Auch jetzt glaubt sie ihn zu bemerken, wie er sich umsichtig an der Straßenecke versteckt. Wahrscheinlich gehört er den Shabiha an, denkt Amal und wirft einen zögerlichen Blick in seine Richtung. Er sieht überhaupt nicht wie ein Staatsdiener aus, aber vielleicht ist gerade das seine Stärke, denkt Amal. Er steht immer noch da und versucht so zu tun, als würde er sich die Auslage eines Schaufensters ansehen.

Amal überquert die Straße, der Polizist an der Verkehrsinsel, den sie dort schon seit Jahren jeden Morgen trifft, lächelt sie an und fragt nach ihrem Auto. Amal entgegnet, sie hätte es verkauft, zu viele Checkpoints, keine Parkplätze, und das Benzin sei auch zu teuer. Sie fährt nun Taxi, wenn es sein muss. Sie sieht noch einmal nach dem Jungen, aber er ist verschwunden.

Amal betritt das Café Pages, wo ihr Kommilitone Raajai mit übereinandergeschlagenen Beinen in der hintersten Ecke sitzt und in einer Zeitung blättert. Der Kragen seines schneeweißen Hemdes ist zwei Knöpfe weit offen. Raajai studiert klassische Musik mit dem Schwerpunkt Harfe, weswegen viele junge Männer falsche Schlüsse über seinen Charakter ziehen. Amal legt die Plastiktüte mit den Vorhängen auf den Tisch, begrüßt ihren Freund mit Wangenküssen und setzt sich.

»Wie geht es dir?«, fragt Amal und betrachtet den dichten Kranz seiner Wimpern. Sie empfindet für ihn eine ihr selbst unerklärliche Zärtlichkeit. Vielleicht bin ich ja in ihn verliebt, denkt Amal.

»Klar«, sagt er mit einem Lächeln.

Amal schiebt ihm die Schlüssel zu: »Ich komme erst gegen Abend nach Hause.«

»Vielen Dank!«, sagt Raajai, als er die Schlüssel in seine Hosentasche steckt. Hin und wieder nutzt er Amals Wohnung, um ungestört seinen Freund treffen zu können. Sie sind seit einem halben Jahr zusammen, aber die Beziehung entwickelt sich kaum weiter, wie Raajai sich immer wieder beklagt.

»Passt auf euch auf!«, sagt Amal, und als der Kellner sich nähert, hören die beiden auf zu reden. Sie bestellen zwei Kaffee, und während sich der Kellner wieder entfernt, lacht Rajai laut auf. Er ist Iraker und kennt diese Vorsichtsmaßnahmen aus der Zeit von Saddam Hussein.

»Geht es dir gut?«, fragt Raajai und senkt seine Stimme.

»Jemand folgt mir.«

Raajai hebt eine Augenbraue und schüttelt den Kopf voller dichter Locken. Sein Gesicht drückt tiefes Mitgefühl aus, das Amal sofort verscheuchen möchte. Sie zuckt mit den Schultern und sagt möglichst nonchalant: »Er sieht nicht gefährlich aus!«

»Vielleicht ja ein Fan«, sagt Raajai und Amal muss lachen.

Zum Abschied drückt sie zärtlich seine Hand und sagt: »Wir sehen uns nachher. Einen schönen Nachmittag euch.«

»Pass auf dich auf«, sagt Raajai. Sein Ton ist ernst.

»Ich kann ja sowieso nichts machen.«

Amal überquert einen winzigen Platz, der einem Stern gleicht, und die al-Assad-Brücke. Sie sieht auf die Blume von Massar, ein riesiges Bauvorhaben der First Lady am Flussufer. Neben ihr schiebt eine Frau ein schlaftrunkenes Kind im Buggy vor sich her, und Amal versucht, einen Blick auf das Baby zu erhaschen, doch es ist so dick verpackt, dass sie nur den Schnuller zwischen zwei rosigen...