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Die Spur des Lichts - Commissario Montalbano stellt sich der Vergangenheit. Roman

Andrea Camilleri

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783732539468 , 269 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Zwei


Auf seinem Schreibtisch lag der übliche Stapel Dokumente, die seiner Unterschrift harrten. Unter den persönlichen Briefen war eine Einladung für Dottor Salvo Montalbano zur Eröffnung der Kunstgalerie Il piccolo porto. Gezeigt wurde Malerei des 20. Jahrhunderts, die ihm besonders gefiel, aber der Brief kam zu spät, die Eröffnung hatte am Vortag stattgefunden.

Es war die erste Kunstgalerie in Vigàta überhaupt. Der Commissario steckte die Einladung in seine Jackentasche, er hatte die Absicht, die Ausstellung zu besuchen.

Nach einer Weile kam Fazio herein.

»Neuigkeiten?«

»Keine. Aber fast hätte es eine gegeben, und die hätte es in sich gehabt.«

»Inwiefern?«

»Wenn der Minister nicht seinen Plan geändert und Vigàta doch mit seinem Besuch beehrt hätte, wäre das womöglich in die Hose gegangen.«

»Und warum?«

»Weil die Flüchtlinge einen massiven Protest organisiert haben.«

»Wann hast du davon erfahren?«

»Kurz bevor Dottor Signorino eingetroffen ist.«

»Hast du es ihm gesagt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Dottor Signorino hat uns antreten lassen und uns ermahnt, einen kühlen Kopf zu bewahren und bloß nicht in Alarmismus zu verfallen. Vor den vielen Fernsehkameras und Journalisten sollten wir den Eindruck erwecken, wir hätten alles im Griff. Und da bekam ich Zweifel, ob ich ihm wirklich sagen soll, was mir zu Ohren gekommen war. Womöglich hätte er mir Panikmache vorgeworfen. Also hab ich unseren Leuten eingeschärft, Augen und Ohren offen zu halten und gegebenenfalls einzuschreiten. Mehr nicht.«

»Das hast du gut gemacht.«

Mimì Augello kam aufgeregt herein.

»Salvo, ich habe gerade einen Anruf aus Montelusa erhalten.«

»Und?«

»Vor zwei Stunden wurde Bonetti-Alderighi ins Krankenhaus eingeliefert.«

»Tatsächlich? Und warum?«

»Plötzliche Übelkeit. Anscheinend das Herz.«

»Ist es denn ernst?«

»Das konnte man mir nicht sagen.«

»Erkundige dich und gib mir dann Bescheid.«

Augello verschwand. Fazio fixierte den Commissario mit dem Blick.

»Dottore, was ist?«

»Wieso fragst du das?«

»Als Dottor Augello mit der Nachricht kam, sind Sie ganz blass geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihnen das so nahegeht.«

Konnte Montalbano ihm sagen, dass er für einen kurzen Moment Bonetti-Alderighi in einem Sarg hatte liegen sehen, den Kopf mit einem Tuch umwickelt, wie in seinem Traum?

Er reagierte mit gespielter Entrüstung.

»Selbstverständlich geht mir das nahe! Wir sind doch hier unter Menschen, oder? Was sind wir denn, Tiere?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Fazio.

Sie schwiegen, bis nach einer Weile Augello zurückkehrte.

»Gute Nachrichten. Es ist nicht das Herz und auch sonst nichts Ernstes. Nur Verdauungsbeschwerden. Heute Abend wird er entlassen.«

Montalbano verspürte ein aufrichtiges Gefühl der Erleichterung. Sein Traum war also keine Vorahnung kommender Ereignisse gewesen.

In der Kunstgalerie, die genau in der Mitte des Corso lag, war kein einziger Besucher. Montalbano freute sich, denn so konnte er die Gemälde in aller Ruhe betrachten. Fünfzehn Bilder von fünfzehn Malern, darunter Mafai, Guttuso und Donghi, aber auch Pirandello, Morandi und Birolli. Alles vom Feinsten.

Aus einer kleinen Tür, hinter der sich vermutlich das Büro befand, trat eine elegante Frau Anfang vierzig in einem Etuikleid. Sie war groß, hatte wohlgeformte Beine, ausdrucksvolle Augen, hohe Wangenknochen und lange pechschwarze Haare. Man konnte sie für eine Brasilianerin halten.

Lächelnd kam sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Sie sind Commissario Montalbano, richtig? Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Mariangela De Rosa, für meine Freunde Marian. Ich bin die Galeristin.«

Montalbano mochte sie auf Anhieb. Das passierte nicht oft, aber es kam vor.

»Gratuliere. Schöne Bilder.«

Marian lachte.

»Zu schön und zu teuer für die Vigateser.«

»In der Tat. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine Galerie wie diese hier in Vigàta …«

»Commissario, ich bin keine Anfängerin. Ich weiß, was ich tue. Diese Ausstellung ist nur ein Lockmittel. Demnächst werde ich Kupferstiche zeigen, qualitativ hochwertige natürlich, die erschwinglicher sind.«

»Dann kann ich Ihnen nur viel Erfolg wünschen.«

»Danke. Darf ich fragen, ob es ein Bild gibt, das Ihnen besonders gut gefällt?«

»Ja, aber wenn das ein Versuch ist, mich zum Kauf zu überreden, verschwenden Sie Ihre Zeit. Ich bin nicht in der Lage …«

Marian lachte.

»Meine Frage ist nicht ganz uneigennützig, das stimmt, aber in erster Linie geht es mir darum, Sie besser kennenzulernen. Ich glaube, dass man viel von einem Menschen verstanden hat, wenn man weiß, welche Maler er mag und welche Bücher er liest.«

»Ich kannte einen Mafioso, der vierzig Morde auf dem Gewissen hatte und vor einem Gemälde van Goghs in Tränen ausbrach.«

»Seien Sie nicht ungnädig, Commissario. Wollen Sie nicht meine Frage beantworten?«

»Na gut. Das Gemälde von Donghi und das von Pirandello. Sie gefallen mir beide gleich gut, ich kann mich nicht entscheiden.«

Marian sah ihn an, dann schloss sie ihre funkelnden Augen.

»Sie sind ein Kenner.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich bin kein Kenner, aber ein bisschen Ahnung habe ich schon.«

»Da untertreiben Sie ganz sicher. Geben Sie zu, Sie haben ein paar Bilder zu Hause.«

»Ja, aber nichts von Bedeutung.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein, ich lebe allein.«

»Laden Sie mich dann einmal zu sich ein und zeigen mir Ihre Schätze?«

»Gern. Und Sie?«

»Was?«

»Sind Sie verheiratet?«

Marian verzog ihren schönen roten Mund.

»Das war ich bis vor fünf Jahren.«

»Und was hat Sie ausgerechnet nach Vigàta verschlagen?«

»Ich stamme aus Vigàta! Meine Eltern sind nach Mailand gezogen, als ich zwei und mein Bruder Enrico vier Jahre alt war. Enrico ist ein paar Jahre nach seinem Universitätsabschluss hierher zurückgekehrt. Ihm gehört die Salzmine bei Sicudiana.«

»Und Sie, warum sind Sie zurückgekehrt?«

»Weil Enrico und seine Frau mich dazu gedrängt haben … Es war eine schwere Zeit für mich, nachdem mein Mann …«

»Sie haben keine Kinder?«

»Nein.«

»Und wie sind Sie auf die Idee gekommen, in Vigàta eine Kunstgalerie zu eröffnen?«

»Um etwas zu machen. Ich habe viel Erfahrung auf dem Gebiet, wissen Sie. Ich hatte zwei Galerien, kleine Galerien, eine in Mailand und eine in Brescia.«

Ein Mann und eine Frau um die fünfzig traten ein. Sie schauten sich zögernd und unsicher um, als befürchteten sie, in einen Hinterhalt gelockt zu werden.

»Was kostet es?«, fragte der Mann auf der Türschwelle.

»Der Eintritt ist frei«, sagte Marian.

Der Mann murmelte seiner Frau etwas ins Ohr, sie murmelte etwas zurück. Und dann sagte der Mann:

»Bonasira.«

Das Paar drehte sich um und verschwand. Montalbano und Marian mussten lachen.

Als eine halbe Stunde später auch Montalbano die Galerie verließ, hatte er sich mit Marian für den nächsten Abend zum Essen verabredet.

Es war ein warmer Abend, deshalb deckte er den Tisch auf der Veranda und ließ sich die Pasta ’ncasciata schmecken, die vom Mittagessen übrig war. Dann zündete er sich eine Zigarette an und ließ den Blick übers Meer schweifen.

Nach dem Streit am Morgen würde Livia bestimmt nicht anrufen. Sie würde mindestens vierundzwanzig Stunden verstreichen lassen, um ihn ihren Ärger spüren zu lassen.

Montalbano hatte weder Lust zu lesen noch fernzusehen. Er wollte einfach nur dasitzen, ohne an etwas zu denken.

Ein aussichtloses Unterfangen, denn der Geist sträubt sich dagegen, an nichts zu denken, sondern wartet mit hunderttausend Gedanken auf, einem nach dem anderen. Wie bei einem Feuerwerk.

Der Traum mit dem Sarg. Die auf das Leichentuch gestickten Initialen Bonetti-Alderighis. Das Gemälde von Donghi. Catarella, der Latein gesprochen, und Livia, die seine Stimme nicht erkannt hatte. Das Gemälde von Pirandello. Marian.

Apropos Marian.

Warum hatte er sofort Ja gesagt, als sie ihm den Vorschlag machte, zusammen essen zu gehen? Vor zwanzig Jahren hätte er völlig anders reagiert. Er hätte abgelehnt, und zwar auf ziemlich unfeine Art.

Vielleicht weil es ihm schwerfiel, eine so schöne und elegante Frau zurückzuweisen. Aber hatte er in seinem Leben nicht schon häufiger Frauen einen Korb gegeben, auch schöneren Frauen als Marian?

Das konnte nur eines bedeuten: Mit dem Alter hatte sich sein Charakter verändert. Die tiefe Wahrheit jedoch lautete, dass er mit den Jahren zunehmend Einsamkeit verspürte, den Verdruss der Einsamkeit, die Bitternis der Einsamkeit.

Wenn er an manchen Abenden so lange auf der Veranda sitzen blieb, rauchte und Whisky trank, dann nicht, weil er nicht schlafen konnte, sondern weil er keine Lust hatte, allein im Bett zu liegen.

Gern hätte er Livia an seiner Seite gehabt, und wenn nicht Livia, dann eine andere schöne Frau.

Das Merkwürdige an diesem Verlangen war, dass es nicht das Geringste mit Sex zu tun hatte. Er wollte nur die Wärme eines anderen Körpers...