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Kannibalen-Herz

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607383 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{13}2


Die Staubkörner trafen Evelyns Gesicht wie Nadelstiche, und ihr braunes Haar, das ihr gegen den Hals geweht wurde, fühlte sich an wie Stroh.

»Das nächste Mal sollten Sie einen Hut aufsetzen«, sagte Mr. Roma. »Mrs. Wakefield trug immer einen, wenn sie in die Stadt fuhr, einen Strohhut mit Krempe. Sie hatte eine sehr helle Haut.«

Er wich schwungvoll einem Schlagloch aus, so daß die Kartons mit den Lebensmitteln über den Rücksitz rutschten und die in Eis eingepackten Milchkannen schepperten und gluckerten.

»Auf dieser Straße«, sagte er, »ist es wie in der Wüste. Man muß sich schützen.«

Trotz der Hitze trug er eine schwere, bis zum Hals zugeknöpfte karierte Wolljacke und einen tief in die Stirn gezogenen Filzhut, so daß nur im Nacken ein wenig von seinem weißen Haar sichtbar war. Er hatte Augen wie aus braunem Plüsch und einen vollen, sinnlichen Mund, der zitterte, wenn er von Gefühlen ergriffen wurde – aber es war in der Hauptsache das vorzeitig weiß gewordene Haar, dem Mr. Roma sein würdevolles Aussehen verdankte. Evelyn erschien er wie ein britischer Oberst, den eine tropische Sonne tief gebräunt hatte. Es hatte sie überrascht, als er ihr sagte, daß er Mulatte sei.

{14}»Vielleicht kann ich ja«, sagte Mr. Roma, »am nächsten Samstag dann allein zum Einkaufen fahren.«

»O nein, mir macht das Einkaufen wirklich Spaß.«

»Das ist nicht unbedingt eine Stadt, die was zu bieten hätte«, sagte er in einem halb entschuldigenden, halb hoffnungsvollen Ton. Marsalupe war die einzige Stadt, die er genau kannte, und obwohl er sich ihrer Beschränkungen sehr wohl bewußt war, lag ihm doch auch daran, daß sich andere Menschen anerkennend über sie äußerten, zumal wenn es sich um Fremde aus dem Osten handelte. »Es gibt keine Delikatessen.«

»Ich mag Delikatessen gar nicht so«, sagte Evelyn mit einem schwachen Lächeln.

»Sie können jederzeit Sachen aus Los Angeles kommen lassen. Mrs. Wakefield tat das manchmal. Einmal Palmherzen in der Dose. Mr. Wakefield hatte plötzlich Lust darauf. Das ist eine große Köstlichkeit. Verglichen mit Palmherzen ist Kaviar was ganz Ordinäres.« Nach einer kleinen Weile fügte er hinzu: »Von dieser Kurve hier sind’s nur noch anderthalb Meilen. Man kann das Meer schon riechen.«

Evelyn konnte das Meer noch nicht riechen, obwohl sie angestrengt Luft durch die Nase einsog, Mr. Roma zuliebe, der sich immer so äußerte, als verfüge er, was das Meer und das auf der Klippe darüber erbaute Haus anbetraf, über eine Mehrheitsbeteiligung, die ihm das Sagen sicherte.

»Riechen Sie’s nicht, Mrs. Banner?«

»Nein, noch nicht so richtig. Das ist eigentlich kein Geruch, eher so ein Gefühl auf meiner Haut.«

»Ich riech’s ganz deutlich.«

»Da. Ich glaube, jetzt ich auch. Ja, ganz sicher.«

{15}Evelyn mochte niemanden enttäuschen. Es war eben dieser Charakterzug, der einige ihrer Freunde denken ließ, sie sei willensschwach. Und einmal hatte ihr Mark anläßlich eines seiner Ausbrüche vorgehalten, sie sei schwächlich, sie habe eine schwächliche Persönlichkeit und einen schwächlichen Kopf. Manchmal – und vor allem, wenn sie morgens aufstand und noch nicht ganz wach war – fühlte sie sich in der Tat schwächlich, wie ein losgelöst dahinschwebender Nebelfleck. Wenn sie sich aber erst einmal den Schlaf aus den Augen gewaschen hatte, dann sah sie sich selbst durchaus als ein Wesen von einiger Substanz, und wenn sie dann in das angrenzende Schlafzimmer hinüberging, um Jessie beim Anziehen zu helfen, dann fühlte sie sich so klar und scharfkantig und hart wie ein Diamant.

Tatsache war, daß Evelyn – wie schon seit eh und je – auch mit ihren zweiunddreißig Jahren noch ein überaus praktisch denkendes Geschöpf war. Und es erwies sich eben oft als sehr praktisch, sich so zu verhalten, daß sich Leute wie Mark oder Mr. Roma gut fühlten. Deshalb roch sie jetzt das Meer und erklärte Mr. Roma, daß sie sich bereits ganz erfrischt fühle.

Mr. Roma war sehr angetan, daß die heilsamen Eigenschaften seines Ozeans anerkannt wurden, und er fuhr mit so schwungvoller Grandezza um die nächste Kurve, daß sich Evelyn mit beiden Händen an die Tür klammern mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und die Lebensmittel, Milchkannen und Bücher für Mark in geräuschvoller Einigkeit zur anderen Seite des Jeeps hinüberrutschten.

Seit acht Jahren unternahm Mr. Roma nun schon diese samstäglichen Einkaufsfahrten nach Marsalupe. Es waren kaum neun Meilen, aber nur wenige Menschen benutzten {16}diese Straße, weshalb man sie in ihrem jämmerlichen Zustand beließ. Während der Regenzeit pflegte Mrs. Wakefields schwerer Lincoln bis zu den Radkappen im Schlamm zu versinken, während der Trockenzeit aber war die Straße staubig und voller Schlaglöcher, und es gab da eine abschüssige Strecke von etwa einer Meile, auf der unerwartet auftauchende Felsbrocken den Reifen des alten Lincoln zusetzten und seine alternden Federn marterten. Nach dem Krieg hatte Mrs. Wakefield dann einen gebrauchten Jeep gekauft, der über die Straße dahinjagte wie ein niemals ermüdendes oder kleinzukriegendes Kind. Als Mrs. Wakefield vor einem Jahr ganz plötzlich abgereist war, hatte sie Mr. Roma diesen Jeep hinterlassen.

Jeden Monat erhielt Mr. Roma einen Scheck von Mrs. Wakefields Bank, der sein Gehalt und notwendig werdende Reparaturen am Haus abdeckte. Er und Carmelita hatten zusammen das Haus für einen neuerlichen Bezug instandgehalten, erwarteten sie doch jederzeit eine Nachricht von Mrs. Wakefield, daß sie und Billy heimzukehren gedächten. Aber die einzigen Lebenszeichen, die er von ihr hatte, waren zwei Briefe, der erste von Billys Kinderschwester:

 

Lieber Mr. Roma,

 

Mrs. Wakefield schrieb mir und bat mich, das Haus einem Immobilienmakler hier in San Diego anzuvertrauen. Sie möchte, daß Sie bleiben, bis der Verkauf perfekt ist. Das kann nun sehr lange dauern, wegen der Trockenheit, die sich ja auf die Wasserversorgung auswirkt, aber auch, weil das Haus so abgelegen ist, müssen die meisten Menschen doch raus und sich ihren Lebensunterhalt {17}zusammenkratzen – gerade so wie ich! Mrs. Wakefield und Billy sind vor drei Monaten aus Port-au-Prince zurückgekommen, aber sofort wieder zu einer Kreuzfahrt die Küste hinunter aufgebrochen. (Ein komischer Zufall wollte, daß sie mit der Eleutheria fuhren, meines Wissens das letzte Schiff, das der arme Mr. Wakefield zu konstruieren half. Das Leben ist schon merkwürdig, nicht wahr?) Meine besten Wünsche für Sie und Carmelita, und sagen Sie Luisa, daß ich ihr für ihre Prüfungen alles nur erdenkliche Gute wünsche.

 

Norma Lewis

 

P.S. Ich habe gerade mit dem Immobilienmenschen gesprochen, und der meint, daß keinerlei Aussicht bestünde, das Haus zu verkaufen, bevor sich nicht etwas an der Wassersituation geändert habe – ich nehme an, daß er wohl Regen damit meint. In der Zwischenzeit aber hat er die Möglichkeit, es möbliert zu vermieten, nur über den Sommer, an irgendwelche Leute aus New York, Mann, Frau und schulpflichtiges Kind. Der Mann hat irgendwas mit dem Verlegen von Büchern zu tun, und die Bankauskünfte sind gut. Er ist bereit, für die Zeit bis zum 15. September 2000 Dollar zu zahlen (Sie und Carmelita natürlich eingeschlossen). Ich meine, daß das in Anbetracht der Nachteile des Hauses ein gutes Angebot ist. Jedenfalls habe ich dem Makler grünes Licht gegeben. Ich nehme an, daß das so in Ordnung geht, obwohl ich meine, daß es netter wäre, wenn Mrs. Wakefield engeren Kontakt zu mir hielte!

 

N.L.

{18}Eine Woche nach dem Einzug der Banners war der zweite Brief eingetroffen. Es handelte sich um eine kurze Notiz von Mrs. Wakefield selbst, die Mr. Roma mitteilte, daß er mit ihrer Rückkehr in ein oder zwei Wochen rechnen solle, und daß sie »einige Dinge zu klären« gedenke.

»Noch ein Hügel«, sagte Mr. Roma und schaltete in den zweiten Gang zurück. »Vielleicht möchten Sie anhalten und den Ausblick bewundern?«

»Einen Augenblick, ja.«

»Mrs. Wakefield ist schon überall gewesen, in fast allen Ländern, und sie sagt, daß man hier an dieser Stelle den wundervollsten Blick der Welt habe.«

Evelyn lächelte erneut. Sie konnte nicht anders als sich über Mr. Romas sanfte Eindringlichkeit zu amüsieren, über seinen Ausdruck unschuldigen Ernstes. »Vielleicht empfindet sie ja eine so große Liebe zu diesem Ort, weil sie hier zu Hause ist.«

Mr. Roma warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Von so einer Liebe kann gar keine Rede sein.«

»Dann muß sie außergewöhnlich sein.«

»Außergewöhnlich, o ja. Sie ist eine wirkliche … wirkliche Herrin.« Er ging unbeholfen mit dem Wort um, als sei ihm sehr wohl bewußt, daß es veraltet sei, er aber kein besseres finden würde, um es an seine Stelle zu setzen.

»Ist sie hübsch?«

»Manche Menschen sind dieser Auffassung. Das ist Ansichtssache. Sie hat schöne Augen und Haare – rotes Haar, ziemlich dunkel.«

Er hielt den Jeep oben auf dem Hügel an. Die Straße wand sich unter ihnen durch ein Gehölz riesiger Eukalyptusbäume. Jenseits der Bäume leuchtete die See blau und silbern, und die Klippen liefen im Zickzack die Küste {19}entlang. Diese Felsenklippen erstreckten sich, so weit das Auge...