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Umgarnt

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607451 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{5}1


Im April wäre Charles fast gestorben. Seine Frau Martha pflegte ihn gewissenhaft und mit einer verbissenen Kompetenz, die Charles in seinen klaren Momenten belustigte. Selbst an der Schwelle des Todes wußte er, daß er sie langweilte.

Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn seine Krankheit etwas Heroisches gehabt hätte – wenn er spektakulär von einem Wolkenkratzer gesprungen oder in einen See gehechtet wäre, um ein Kind zu retten. Tatsächlich aber war er schlicht mit scheußlichen Kopfschmerzen aus dem Büro gekommen und hatte die beiden Schmerztabletten genommen, die seine Frau Martha ihm gab. Es war natürlich nicht Marthas Schuld, daß er gegen so vieles allergisch war und daß die Kopfschmerztabletten sich als Aspirin erwiesen. Aspirin war, wie der Arzt erklärte und wie Charles später guten Grund zu glauben hatte, schieres Gift für ihn.

Der Arzt, ein Mann namens MacNeil, schien sehr an dem Fall interessiert und eifrig darauf bedacht, seine Diagnose zu erhärten. Bei fast jedem Besuch brachte er alte medizinische Zeitschriften oder Zeitungsausschnitte mit, um vorzulesen, wie ein alter Mann in Manchester nach nur einem Aspirin gestorben oder ein Junge in Kansas durch die bloße Berührung damit krank geworden war. {6}Charles hörte aufmerksam zu. Manchester und Kansas schienen ihm gleichermaßen fern. Seine Welt hatte sich auf vier Wände verengt, in denen nur zwei Menschen lebten: er selbst und Martha. Andere Menschen kamen und gingen, andere Geräusche drangen durch die Wände, und die Uhr tickte ihre Minuten hier genauso unerbittlich ab wie in der Welt draußen, aber Zeit und Raum waren hier eine engere Beziehung eingegangen. Der Raum war dieses Zimmer, und die Zeit war an der zunehmenden Langeweile auf Marthas Gesicht abzulesen.

Jedes Zucken ihrer Augenlider, jede Bewegung ihrer Hände, jede Veränderung ihres Tonfalls hatte inzwischen eine Bedeutung für Charles. Schon die Art, wie sie ein Buch aufnahm, um ihm vorzulesen, zeigte ihm, ob sie das Buch mochte und ob sie gerade Lust zum Vorlesen hatte oder nicht.

»Du mußt mir nicht vorlesen«, sagte er zu ihr. »Brown kann das machen. Er tut nicht viel im Haus.«

»Aber ich möchte gern.«

»Na gut.«

Sich etwas vorlesen zu lassen machte ihm nicht viel mehr Spaß als ihr das Vorlesen, aber es war zu kompliziert, ihr das geradeheraus zu sagen. So wurde er gezwungen, sie immer genauer zu beobachten, und wenn ein unbeabsichtigter Seufzer oder eine Geste sie verriet, bat er sie, ein anderes Buch zu nehmen oder ihn allein zu lassen, damit er ausruhen konnte.

Es war eine seltsame Verkehrung der Dinge, daß sie und nicht er unter Beobachtung stand. Er war der Patient, sie die Pflegerin. Eigentlich hätte Martha ihn beobachten und seine Reaktionen vorausberechnen müssen. Sie beobachtete ihn natürlich, aber mit dem unbeteiligten und {7}prüfenden Blick einer professionellen Krankenschwester, so, als ob er durch das Kranksein keine Identität mehr hätte, abgesehen von der seiner Krankheit. Es war nicht mehr Charles, ihr Mann, sondern eine anonyme, kaputte Maschine. Eine Maschine konnte man mit Geduld und Sorgfalt wieder reparieren; man mußte sich darüber weiter keine Gedanken machen.

Er mochte es ganz und gar nicht, daß sie ihn pflegte und dabei Tag für Tag seine Hilflosigkeit sah, seine babyhafte Abhängigkeit. Allerdings waren Babys wesentlich niedlicher als ein Mann von sechsunddreißig. Ein Baby konnte man pflegen, ohne es zu verachten.

Auch hierbei war es, wie beim Vorlesen, nicht leicht, etwas zu sagen. Manchmal winkte er mit dem Zaunpfahl.

»Geh doch heute nachmittag mal mit deiner Mutter und Laura ins Kino.«

»Ich gehe nicht besonders gern ins Kino. Außerdem sieht Laura schon viel zu viele Filme. Sie kommt dadurch nur auf dumme Gedanken.«

»Alle Sechzehnjährigen haben sowieso dumme Gedanken.«

»Ich will, daß Laura anders ist.«

Laura war ihre jüngere Schwester, aber Martha redete immer von ihr, als wäre sie ihre Tochter.

»Martha.«

»Ja?«

»Ich hätte dich gern gekannt, als du sechzehn warst.«

Sie schien erstaunt. »Warum?«

»Ich wüßte einfach gern, wie du damals warst.«

»Ich war nicht sehr interessant.«

Damit war das Thema beendet. Er konnte sie nie dazu bringen, über die Vergangenheit zu reden. Ernst und {8}geduldig hörte sie den stundenlangen Erzählungen aus seiner Jugend zu, wie Brown seine Mutter angelogen hatte, um ihm Ärger zu ersparen, von seinen Streichen in der Vorschule, seinen Freunden im College, seiner Mutter, seinen Schwierigkeiten, aber sie ließ sich nie dazu verleiten, seine Vertraulichkeiten zu erwidern. Manchmal überlegte er, ob ihre Vergangenheit möglicherweise so schmerzlich für sie war, daß sie nicht darüber sprechen wollte, obwohl das eigentlich unwahrscheinlich war. Von ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte er genug über sie erfahren, um zu wissen, daß sie, abgesehen von ihrem guten Aussehen, ein durchschnittliches Stadtkind war, das in einer ganz normalen Familie in einem ganz normalen Haus aufgewachsen war. Sie hatte die High School und danach eine Handelsschule besucht, und er hatte sie im Büro eines Freundes kennengelernt, wo sie als Stenotypistin arbeitete. Sie war einundzwanzig gewesen, als er sie vor fünf Jahren heiratete.

Das war alles. Es gab nichts Außergewöhnliches an Martha, außer daß er sie liebte. Alles, was sie tat oder auch nicht tat, war ihm wichtig, seit er sie kannte. Er konnte es sich nicht leisten, hier im Bett zu liegen und ihr Gelegenheit zu geben, ihn für seine Schwäche zu verachten. Darum mußte er ihr beweisen, daß er ganz und gar nicht hilflos war. Sein Körper mochte vorübergehend zu nichts nütze sein, aber er hatte andere Waffen. Er konnte Wörter durchs Zimmer schleudern wie Messer. Die Maschine war vielleicht kaputt, aber sie durfte nicht anonym bleiben, und mit Messern konnte man sich nicht nur verletzen, sondern sich auch Beachtung verschaffen. Besonders wenn man soviel Zeit hatte, sie auszuwählen und zu schärfen und sein Ziel anzupeilen.

{9}»Martha, warum hast du mich geheiratet?«

»Hör mal, Charles, du weißt doch, daß der Arzt gesagt hat, du sollst nicht soviel reden.«

»Aber ich will es wissen. Warum?«

»Ich kann dir nicht vorlesen, wenn du mich immer unterbrichst.«

»Ich verstehe nicht, warum du eine solche Frage nicht beantworten kannst.«

»Weil man solche Fragen nicht stellt. Das ist so – so …«

»Persönlich?« fragte er trocken. »Das ist doch das Wort, nach dem du gesucht hast, oder?«

»Nein. Ich wollte sagen, ist es denn nicht klar, warum Menschen heiraten?«

»Meine liebe Martha, meinst du vielleicht Sex?«

»Ich habe keine Lust …«

»Erwartest du womöglich, daß ich glaube, du hättest mich geheiratet, weil du mit mir ins Bett gehen wolltest?«

»Also, Charles. Du regst dich nur auf.« Und ernsthaft fügte sie hinzu: »Das dumme ist, daß du zuviel nachdenkst

»So was Dummes!«

»Der Arzt hat gesagt …«

 

Der Arzt sagte sehr viel, das meiste zu Martha, unter vier Augen, unten, im Wohnzimmer. Sie fand vieles verwirrend, nicht weil sie es nicht verstand (Dr. MacNeil bemühte sich sehr, jede seiner Äußerungen zu erläutern), sondern weil sie dabei an andere Dinge denken mußte. »Anaphylaktisch« konnte sich leicht auf ein Unkrautvernichtungsmittel beziehen; »Histamin« klang wie eine Blume, und bei »Allergie« stellte sie im Geiste den Essensplan für die kommende Woche auf. Sie konnte {10}nicht verhindern, daß ihre Gedanken abschweiften. Und je mehr ihre Gedanken abschweiften, desto ausführlicher wurden MacNeils Erklärungen; so zogen die Sitzungen im Wohnzimmer sich manchmal unerträglich in die Länge. Darüber hinaus gaben sie ihr das Gefühl, in der Defensive zu sein und daß Charles und nicht MacNeil hinter all diesen Reden stand. Denn MacNeil hatte begonnen, ihr ebenso viele Fragen nach ihr selbst zu stellen wie nach Charles und die Angelegenheit damit als einen doppelten Fall zu behandeln. Sie ärgerte sich eigentlich darüber. Sie war ihr ganzes Leben lang keinen Tag krank gewesen, und sie hatte so viel getan, um Charles wieder gesund zu machen, wie man nur konnte. Er hatte kein Recht, sie auszufragen.

Ende April hatte MacNeil gesagt, Charles könne jeden Tag ein Weilchen aufstehen und in einem Sessel sitzen.

Sie gab die Neuigkeit sofort an Charles weiter. »Der Arzt sagt, du darfst aufstehen, sobald du magst.«

»Wirklich?« Charles lag mit geschlossenen Augen da und hatte seine langen, dünnen Hände über der Brust gekreuzt. Er sah tot und ziemlich unschuldig aus. Geläutert.

»Er meint, es würde dir guttun aufzustehen«, sagte Martha, ohne sich einer Übertreibung bewußt zu sein, »selbst wenn dir nicht danach ist.«

»Ach ja? Nun, ich glaube nicht, daß ich es in allernächster Zeit schon tun werde. Ich bin noch nie in meinem Leben mit soviel Aufmerksamkeit bedacht worden.« Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah nachdenklich zu ihr auf. »Du bringst mich ja fast um mit deiner Nettigkeit, Liebes.«

Sie errötete leicht. »Ich tue, was ich kann.«

{11}»Ich weiß, und was du kannst, das kannst du sehr gut. Ich wäre beinah gestorben, nicht?«

»Also, Charles. Dr. MacNeil sagt, es sei krankhaft, dauernd davon zu reden.« MacNeil hatte nichts dergleichen gesagt, aber er hätte sich wahrscheinlich so ähnlich geäußert, wenn es ihm eingefallen wäre. »Du sollst es endlich vergessen und dich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden und an deine Arbeit zu gehen.«

»O nein«, sagte er mit...