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Blue City

Ross Macdonald

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607581 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{5}1


Wenn man sehr lange nicht in der Stadt gelebt hat, in der man aufgewachsen ist, dann denkt man an sie und spricht von ihr, als wäre die Luft dort frischer als anderswo. Und wenn man einem Menschen aus dieser Stadt begegnet, fühlt man sich ihm verbunden, bis der Gesprächsstoff ausgeht und einem keine Namen mehr einfallen.

Ich sah die ersten Häuser früher als erwartet. Innerhalb von zehn Jahren war die Stadt der Landstraße entlang gewuchert und hatte immer mehr Ackerland mit den Betonvierecken von Siedlungsprojekten überzogen. Beiderseits der Straße konnte ich die Reihen kleiner Holzhäuser sehen, die einander so sehr glichen, als ob es in der Stadt nur einen einzigen Architekten gäbe, der von einer gewaltigen Vision besessen war.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, meinte der Fahrer des Lastwagens. Er gähnte am Steuer, hielt aber die Augen fest auf die Straße gerichtet. »Jedenfalls brauche ich heute abend keine Tabletten zum Einschlafen.«

»Leben Sie hier?«

»Ich habe hier ein Zimmer. Das kann man vermutlich leben nennen.«

»Gefällt Ihnen die Stadt nicht?«

»Ach Gott, die Stadt ist schon recht, wenn man nichts Besseres kennt.« Er spuckte durchs offene Fenster in den Fahrtwind, und feine Tröpfchen sprühten über meinen Nacken. »Eigentlich bin ich in Chicago zu Hause. Dort wohnt auch meine Frau.«

»Das ist natürlich ein Unterschied.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein«, erwiderte ich, »ich schlag mich alleine durch.«

{6}»Sie suchen wohl Arbeit?«

»Stimmt.«

»Das sollte hier kein Problem sein. Im Moment brauchen wir übrigens selbst Leute bei uns im Lagerhaus. Die halbe Zeit muß ich meinen Laster selber beladen. Sind Sie kräftig?«

»Das schon. Ich bin kräftig genug. Aber an solche Arbeit dachte ich nicht.«

»Sie wird aber ganz gut bezahlt. Siebzig Cent die Stunde. Mehr kann man hier in der Gegend nicht bekommen.«

»Ich vielleicht doch. Ich habe Beziehungen.«

»Ja?« Er warf mir einen raschen Blick zu. Ich sah nicht gerade elegant aus. Ich hatte mich weder gewaschen noch rasiert und in meinen Kleidern geschlafen.

Er stufte mich als Angeber ein. Jedenfalls meinte er mit offenkundiger Ironie: »Tja, wenn das so ist –« und hörte auf, mit mir zu reden.

Die Landstraße war inzwischen zum östlichen Ende der Hauptstraße geworden und führte durch ein gemischtes Wohn- und Geschäftsviertel. Kleine Kaufläden, Kohlenhalden, Tankstellen, billige Kneipen, große alte heruntergekommene Häuser, ein paar Kirchen, deren blanke Fassaden einen betretenen Eindruck machten. Ich wußte nicht im voraus, welche Gebäude folgen würden, erkannte aber die meisten wieder, sobald ich sie sah. Eine Duftwolke aus den Gummifabriken an der Südseite, die den Frühlingsabend verdarb wie übermäßiger Körpergeruch, stieg mir in die Nase. In der Hoffnung, vielleicht einen alten Bekannten wiederzusehen, betrachtete ich die Menschen, die sich nach Arbeitsschluß auf dem Bürgersteig drängten.

Der Fahrer trat auf die Bremse, und der Lastwagen kam am Bordstein zum Stehen.

»Hier müssen Sie aussteigen, Kumpel. Ich kann Sie nicht bis zum Lagerhaus mitnehmen.« Er wies mit dem Kopf auf das Schild »Keine Anhalter«, das an seiner Windschutzscheibe klebte. »Aber falls Ihre Beziehungen Ihnen nichts {7}nützen sollten, kommen Sie nur zu uns. Liegt an der Masters Street.«

»Danke. Auch fürs Mitnehmen.«

Ich zog meinen Segeltuchkoffer unter dem Sitz hervor und kletterte aus der Fahrerkabine. Der große Laster fuhr an und ließ mich auf dem Gehsteig zurück.

Ich ging noch ein paar Häuserblocks in dieselbe Richtung wie der Lastwagen weiter, jedoch ohne jede Eile. Die Erregung, die ich beim Wiedersehen meiner alten Heimat empfunden hatte, war bereits abgeebbt. Von vorn und hinten kommend gingen die Menschen an mir vorbei, aber unter ihnen war niemand, den ich kannte. Ein Polizist warf mir einen prüfenden Blick zu. Mir kam zu Bewußtsein, daß ich wie ein Landstreicher aussehen mußte, und dadurch fühlte ich mich auch wie einer. Zum erstenmal an diesem Tag begann ich mich zu fragen, ob meine Beziehungen etwas wert waren. Vielleicht existierten sie gar nicht mehr.

Ich ging an einem neuen Apartmenthaus vorüber, dessen Fenster wie Löcher in einer erhellten Schachtel wirkten. In einem der Fenster sah ich kurz ein Paar, das eng umschlungen zu Radiomusik tanzte. Das genügte schon, um in mir wieder das Gefühl von Einsamkeit zu erwecken, das mich seit Jahren regelmäßig überfiel. Am liebsten hätte ich jedes Zimmer in jedem Apartment dieses Hauses, das ich nie vorher gesehen hatte, gekannt und jeden Menschen, der dort wohnte, mit seinem Vornamen angesprochen. Aber gleichzeitig wünschte ich mir die Macht, das Gebäude mit allen seinen Bewohnern in die Luft zu sprengen.

Ich hatte schon lange bei keiner Schlägerei mehr mitgemacht, und es juckte mich gewaltig.

Auf der anderen Straßenseite verkündete eine Neonreklame: »Schlitz-Bier vom Faß«, und ich ging hinüber. Das Fenster der Kneipe hatte nur einen niedrigen Vorhang, über den ich hinwegsehen konnte. Ein großer, viereckiger Raum voll von Holztischen und -stühlen, mit einer Theke im {8}Hintergrund. Im kalten, gelben Licht der von Fliegendreck gesprenkelten Deckenlampen konnte ich erkennen, daß die Tische mit eingeschnitzten Buchstaben und Brandflecken von Zigaretten übersät waren. Das Lokal war fast leer, und die wenigen Leute, die sich darin aufhielten, sahen nicht so aus, als würde ich mich ihretwegen fehl am Platz fühlen müssen.

Ich ging hinein und setzte mich auf einen Hocker an der Bar. Der Barmann schenkte mir keine Beachtung. Er war damit beschäftigt, für eine Gruppe von Gästen am andern Ende der Theke eine Schau abzuziehen – zwei Frauen, die eine wasserstoffblond, die andere hennarot, zwischen denen ein großer junger Mann in einem Wintermantel aus imitierter Lamawolle saß.

»Sie wollen also noch einen?« fragte er mit einem breiten, grausamen Lächeln. »Sie bilden sich wohl ein, ich habe nichts Besseres zu tun, als Ihnen noch einen Drink zu geben? Wissen Sie denn nicht, daß ich gegen Dienstschluß an nichts anderes mehr denken kann als an meine Füße? Meine Füße werden mich noch umbringen!«

»Ist das ein Versprechen?« fragte die Wasserstoffblonde mit schriller, wasserstoffblonder Stimme. Die beiden Frauen kicherten, und der Mann zog sie an sich.

»Wenn man euch so zuhört, möchte man glauben, daß man mir Gott weiß was zahlt, um hier zu stehen und Typen wie euch Whisky einzugießen – dabei bringen mich meine Füße langsam aber sicher um«, meinte der Barmann.

Er war untersetzt und grauhaarig. Wenn er sich bewegte, wackelte sein Bauch über seinem Gürtel wie ein riesiger Frauenbusen.

»Sie sollten versuchen abzunehmen, Henry«, sagte die Blonde. »Dann haben Ihre Füße nicht mehr so viel zu tragen.«

»Gut, gut«, erwiderte er. »Sie haben Whisky verlangt, und Sie bekommen ihn auch. Aber ich warne Sie, der Whisky in dieser Bar schmeckt, als käme er aus der Kanalisation.« Er {9}goß aus einer Flasche ohne Etikett drei Gläser voll und schob sie ihnen hin.

»Sie müssen es ja wissen, Henry«, meinte die Blonde.

»Für mich ist das Muttermilch«, sagte Henry.

Ich klopfte mit einem Fünfundzwanzig-Cent-Stück auf die Theke.

»Da verliert jemand die Geduld«, erklärte Henry. »Aber wenn jemand die Geduld verliert, werde ich nervös. Und wenn ich nervös bin, bin ich zu rein gar nichts mehr zu gebrauchen.«

»Eine Flasche Bier«, sagte ich.

»Sehen Sie sich meine Hand an«, entgegnete Henry. »Sie zittert wie Espenlaub.« Er streckte eine große, schmutzige Hand aus und lächelte auf sie hinunter. »Bier haben Sie gesagt?«

»Ja, wenn hier noch geöffnet ist.«

Er holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete den Verschluß und schlurfte zu mir herüber.

Er sah mich mit potentieller Antipathie an. »Was ist denn? Haben Sie keinen Sinn für Humor?«

»Schon, aber ich mußte ihn in einer anderen Stadt auf der Pfandleihe lassen. Machen Sie Ihre Witzchen lieber mit Ihren Freunden.«

»Sie sind hier fremd, wie? Vielleicht wissen Sie einfach nicht, wie wir hier miteinander reden.«

»Ich lerne schnell.«

»Sie können es gar nicht zu schnell lernen.«

»Bekommt man hier zum Bier auch Gläser? Ich möchte eins.«

»Vielleicht auch noch eine Olive oder eine Maraschino-Kirsche?«

»Halten Sie beim Eingießen Ihren Daumen ins Glas, das genügt.«

»Gießen Sie selber ein.«

Ich nahm Flasche und Glas von der Theke und setzte mich {10}an einen Tisch an der Wand. Ein alter Mann, vor dem ein Glas Bier stand, blickte vom Nebentisch zu mir herüber. Seine Bartstoppeln waren schneeweiß an Wangen und Oberlippe, eisengrau am schlaffen Hals, mit allen Schattierungen dazwischen. Als ich mir das Bier eingeschenkt hatte und das Glas an die Lippen führte, hob auch er sein Glas und blinzelte mir zu.

Ich lächelte vor dem Trinken zurück, bedauerte es aber schon einen Augenblick später, da er aufstand und zu mir an den Tisch kam. Ein unförmiger brauner Mantel schlotterte um seinen Körper, und er glich einem wandelnden Sack voll Lumpen. Er ließ sich auf den zweiten Stuhl an meinem Tisch fallen, stützte die mottenzerfressenen Arme auf die Platte und beugte sich mit süßlich-schmutzigem Lächeln, das seinen zahnlosen Mund enthüllte, zu mir herüber. Er roch nach Bier und Alter.

»Ich war nicht immer so«, erklärte er. »Aber schließlich fängt das Leben ja erst mit fünfundsechzig an.«

»Sind Sie denn fünfundsechzig?«

»Sechsundsechzig. Ich weiß, ich sehe älter aus, aber...