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Der Untergrundmann

Ross Macdonald

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607574 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{5}1


Das Rauschen der Blätter weckte mich noch vor dem Morgengrauen. Ein heißer Wind blies in mein Schlafzimmer. Ich stand auf, um das Fenster zu schließen, dann lag ich im Bett und lauschte dem Wind.

Nach einer Weile legte er sich, und ich stand auf, um das Fenster wieder zu öffnen. Kühle Luft, die nach frischem Meer und leicht abgestandenem West Los Angeles roch, strömte in die Wohnung. Ich ging zurück ins Bett und schlief, bis ich am Morgen von meinen Buschhähern geweckt wurde.

Es waren immer fünf oder sechs da, die ich mittlerweile schon als »meine Buschhäher« bezeichnete. Abwechselnd setzen sie zum Sturzflug auf mein Fenstersims an, um sich dann auf den Magnolienbaum nebenan zurückzuziehen.

Ich ging in die Küche, öffnete eine Dose Erdnüsse und warf eine Handvoll davon aus dem Fenster. Die Häher schossen herab in den Innenhof des Apartmenthauses. Ich zog mir schnell etwas an und lief mit der angebrochenen Dose die Außentreppe hinunter.

Es war ein strahlender Septembermorgen. An den Rändern aber hatte der Himmel eine gelbliche Tönung, wie billiges Papier, das in der Sonne gelegen hat. Im Moment war es völlig windstill, aber ich konnte die landeinwärts liegende Wüste riechen und spürte ihre Hitze.

{6}Ich streute meinen Hähern eine weitere Handvoll Erdnüsse aus und sah ihnen dabei zu, wie sie den Rasen danach abgrasten. Ein kleiner Junge in einem blauen Baumwollanzug öffnete die Tür eines der Apartments im Erdgeschoss, das normalerweise von dem Ehepaar Waller bewohnt wurde. Der Junge war etwa fünf oder sechs Jahre alt. Er hatte dunkle kurzgeschorene Haare und sah mich aus seinen blauen Augen mit scheuem Blick an.

»Darf ich rauskommen?«

»Von mir aus gern.«

Er ließ die Tür weit offen stehen und kam mit übertriebener Vorsicht, um die Vögel ja nicht zu verscheuchen, auf mich zu. Die Häher schwirrten kreischend umher und jagten sich gegenseitig das Futter ab. Sie nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis.

»Womit füttern Sie die? Mit Erdnüssen?«

»Ja. Möchtest du auch ein paar für dich?«

»Nein danke. Mein Daddy und ich wollen gleich meine Oma besuchen. Bei ihr kriege ich immer eine Menge zu essen. Sie füttert auch Vögel.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Aber den Hähern würde ich auch gern ein paar geben.«

Ich hielt ihm die offene Dose hin. Er klaubte eine Faustvoll Erdnüsse heraus und schleuderte sie auf den Rasen. Die Häher kamen herangerauscht. Zwei von ihnen begannen zu kämpfen, hackten wild aufeinander ein.

Der Junge wurde blass. »Machen sie sich gegenseitig tot?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Nein, sie streiten sich nur.«

{7}»Machen Häher andere Vögel tot?«

»Manchmal schon.« Ich versuchte das Thema zu wechseln. »Wie heißt du denn?«

»Ronny Broadhurst. Was für Vögel machen sie tot?«

»Fremde Jungvögel.«

Der Knabe zog die Schultern hoch und hielt die verschränkten Arme dicht vor der Brust, wie kleine Flügelstümpfe. »Machen sie auch Kinder tot?«

»Nein, dafür sind sie nicht groß genug.«

Er wirkte erleichtert. »Ich probier dann doch mal eine Erdnuss. Okay?«

»Okay.«

Den Kopf zurückgelegt, baute er sich vor mir auf und blinzelte ins Morgenlicht. »Werfen Sie, ich fang sie mit dem Mund auf.«

Ich warf ihm eine Erdnuss zu, er erwischte sie, und danach folgten noch ein paar. Einige fing er, andere fielen ins Gras. Wie vom Himmelsgewölbe heruntergefallen, übersäten die Häher den Rasen.

Ein junger Mann in mintgrün gestreiftem Sporthemd betrat den Hof von der Straße her. Er sah wie eine erwachsene Ausgabe des Jungen aus und vermittelte den gleichen Eindruck von innerer Unruhe. Er saugte hektisch an einem dünnen braunen Zigarillo.

Als hätte sie nur auf den Mann gewartet, erschien jetzt eine junge Frau mit dunklem Pferdeschwanz in der offenen Tür der Wallerschen Wohnung. Hübsch, wie sie war, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht rasiert hatte.

Der Mann tat so, als würde er sie nicht bemerken. Er redete den Jungen förmlich an. »Guten Morgen, Ronald.«

{8}Der Junge warf einen kurzen Blick in die Richtung, aus der der Gruß kam, ohne sich umzudrehen. Während der Mann und die Frau sich von verschiedenen Punkten auf ihn zubewegten, verflüchtigte sich jegliche Unbeschwertheit aus seinem Gesicht. Sein kleiner Körper schien, wie unter dem Druck ihres Zusammentreffens, zu schrumpfen. Er antwortete dem Mann mit kaum hörbarer Stimme: »Guten Morgen.«

Der Mann wandte sich in schroffem Ton an die Frau. »Er hat Angst vor mir. Was hast du ihm erzählt, um Gottes willen?«

»Wir haben gar nicht von dir gesprochen, Stan. Zu unserem eigenen Besten.«

Der Mann stieß den Kopf nach vorn. Er wirkte, als würde er schon von ferne zum Angriff übergehen. »Was soll das heißen, ›zu unserem eigenen Besten‹? Ist das ein Vorwurf?«

»Nein, aber ich kann mir gern ein paar einfallen lassen, wenn du Wert darauf legst.«

»Das könnte ich auch.« Sein Blick ging in meine Richtung. »Wer ist Ronnys Spielkamerad? Oder ist er dein Gespiele?« Er fuchtelte mit dem brennenden Zigarillo in der Hand.

»Ich kenne nicht einmal den Namen dieses Herrn.«

»Das wäre für dich kein Hindernis!« Er sah mich nicht an.

Das Gesicht der Frau verlor jegliche Farbe. »Das geht zu weit, Stan. Ich will keinen Ärger.«

»Wenn du keinen Ärger willst, warum bist du dann einfach ausgezogen?«

{9}»Du weißt, warum.« Mit dünner Stimme sagte sie: »Ist das Mädchen immer noch im Haus?«

»Fang nicht schon wieder damit an.« Abrupt wandte er sich dem Jungen zu. »Komm, Ronny, wir gehen. Wir haben eine Verabredung mit Oma Nell in Santa Teresa.«

Der Junge stand mit geballten Fäusten zwischen den beiden. Er betrachtete seine Füße. »Ich möchte nicht nach Santa Teresa. Muss ich trotzdem?«

»Ja, du musst«, sagte die Frau.

Der Junge schob sich in meine Richtung. »Aber ich möchte lieber hierbleiben. Ich möchte bei dem Mann bleiben.« Er hielt sich mit gesenktem Kopf an meinem Gürtel fest, das Gesicht vor allen Erwachsenen verborgen.

Der Vater kam auf ihn zu. »Lass ihn los.«

»Ich will nicht.«

»Ist er der Freund deiner Mutter? Sag schon, ist er das?«

»Nein.«

»Du bist ein kleiner Lügner.«

Der Mann warf seinen Zigarillo zu Boden und holte aus, um seinen Sohn zu ohrfeigen. Ich fasste den Jungen unter die Achseln, hob ihn außer Reichweite und behielt ihn schützend im Arm. Er zitterte.

Die Frau sagte: »Lass ihn doch einfach in Ruhe, Stan. Du siehst doch, was du anrichtest.«

»Was du anrichtest. Ich bin hergekommen, um einen schönen Ausflug mit ihm zu machen. Mutter freut sich so, ihn zu sehen. Und was passiert?« Er stimmte eine laute Klage an: »Ich finde mich mitten in einem Familiendrama wieder, und Ron hat schon einen Ersatzvater.«

{10}»Was Sie sagen, hat weder Hand noch Fuß«, schaltete ich mich ein. »Ron und ich sind Nachbarn – ganz neue Nachbarn. Wir haben uns gerade eben erst kennengelernt.«

»Dann lassen Sie ihn runter. Er ist mein Sohn.«

Ich stellte den Jungen wieder auf dem Rasen ab.

»Und lassen Sie Ihre dreckigen Pfoten von ihm.«

Am liebsten hätte ich dem Mann eine gelangt. Aber das hätte dem Jungen nichts genützt und der Frau auch nicht. So ruhig ich nur konnte, sagte ich: »Gehen Sie jetzt, Mister.«

»Ich habe das Recht, meinen Sohn mitzunehmen.«

Der Junge fragte mich: »Muss ich mit ihm gehen?«

»Er ist dein Vater, nicht wahr? Du kannst froh sein, einen Vater zu haben, der mit dir Ausflüge macht.«

»Das stimmt«, warf seine Mutter ein. »Geh mit ihm, Ronny. Du kommst immer viel besser mit deinem Vater aus, wenn ich nicht da bin. Und Oma Nell wäre sicher traurig, wenn du nicht dabei bist.«

Der Junge schlich mit gesenktem Kopf auf seinen Vater zu und griff nach dessen ausgestreckter Hand. Sie liefen in Richtung Straße.

Die Frau sagte: »Ich möchte mich für meinen Mann entschuldigen.«

»Nicht nötig. Es lässt mich völlig kalt.«

»Mich aber nicht, das ist ja das Problem. Er ist so furchtbar aggressiv. Er war nicht immer so.«

»Glaube ich gern. Das hätte er auch nicht überlebt.«

Mein Versuch, sie aufzuheitern, ging daneben. Das Gespräch kam zum Erliegen. Ich versuchte es wieder in Gang zu bringen.

{11}»Sind die Wallers Freunde von Ihnen, Mrs. Broadhurst?«

»Ja. Professor Waller war mein Studienberater am College.« Sie klang wehmütig. »Genau genommen, berät er mich immer noch. Er und Laura, alle beide. Ich habe sie gestern Abend in Lake Tahoe angerufen, als ich –« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. »Sind sie auch Freunde von Ihnen?«

»Gute Nachbarn. Übrigens, mein Name ist Archer. Ich wohne im ersten Stock.«

Sie nickte. »Laura Waller sprach von Ihnen, als sie mir gestern Abend ihre Wohnung anbot. Falls ich irgendwie Hilfe bräuchte, sagte sie, könne ich mich an Sie wenden.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »In gewisser Weise habe ich das ja schon, nicht wahr? Danke, dass Sie so nett zu meinem Kleinen waren.«

»War mir eine Freude.«

Trotz aller netten Worte fühlten wir uns unbehaglich. Der Zorn ihres Ehemanns drückte uns nieder, die Szene, die er ihr gemacht hatte, hallte noch nach. Wie um sich davon freizumachen, sagte die Frau: »Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt. Laura Wallers Spezialmischung, es wäre schade, wenn die nicht getrunken würde. Möchten Sie eine Tasse?«

»Danke, lieber nicht. Ihr Mann könnte noch mal wiederkommen.« Ich hatte eine Autotür auf der Straße aufgehen und wieder zuschlagen gehört,...