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Unter Wasser stirbt man nicht!

Ross Macdonald

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607666 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

{7}1


Wenn man nicht so genau hinsah, hätte sie für Ende Zwanzig durchgehen können, vor allem bei der Figur. Ihre Kleidung unterstrich diesen Eindruck noch: seidenes Maßkostüm und hohe Absätze, die die Beine gut zur Geltung brachten. Aber Augen und Mund waren sorgenvoll. Ihre Augen waren tiefblau und hatten einen seltsamen Blick. Sie sahen einen direkt und prüfend an, schauten aber zugleich über einen hinweg. Sie konnte auf Jahre zurückblicken und hatte mehr Dinge gesehen, als die Augen eines Mädchens je gesehen hatten. Etwa fünfunddreißig, dachte ich, und immer noch im Rennen.

Ohne ein Wort zu sagen, stand sie in der Tür und ließ meine Musterung über sich ergehen. Sie kaute auf der Unterlippe herum, während sie beinahe angstvoll die schwarze Wildledertasche umklammerte. Ich schwieg ebenfalls. Sie hatte angeklopft und auf mein »Herein« die Tür geöffnet. Ob sie sich nun entschieden hatte oder nicht, sie konnte von mir kaum erwarten, daß ich sie über die Schwelle trug. Sie war eine erwachsene Person, und bestimmt gab es einen Grund für ihr Kommen.

»Mr. Archer?« fragte sie schließlich.

»Ja. Wollen Sie nicht reinkommen?«

»Danke. Entschuldigen Sie, daß ich mich so albern benehme. Als ob Sie der Zahnarzt wären.«

»Detektive und Zahnärzte sind gleichermaßen unbeliebt. Ich kann sie auch nicht leiden.«

»Wirklich? Übrigens bin ich noch nie bei einem Zahnarzt gewesen.« Sie lächelte, als ob sie das Gesagte illustrieren wollte, und gab mir ungezwungen die Hand. Sie war fest und gebräunt. »Auch nicht bei einem Detektiv.«

{8}Ich ließ sie in dem Sessel am Fenster Platz nehmen. Sie hatte nichts gegen das Licht. Ihr Haar glänzte naturbraun und war, soweit ich feststellen konnte, ohne einen Anflug von Grau. Ihr Gesicht war glatt und gebräunt. Ich fragte mich, ob sie überall glatt und gebräunt war.

»Welcher Zahn macht Ihnen Kummer, Mrs. …?«

»Entschuldigen Sie. Vor Aufregung habe ich vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Maude Slocum.«

Für eine Frau mit dieser Figur und Kleidung entschuldigte sie sich etwas zu oft. »Hören Sie«, sagte ich, »ich habe die Haut eines Nashorns und ein Herz aus Stahl. Seit zehn Jahren bin ich in Los Angeles und bearbeite Scheidungsfälle. Wenn Sie mir etwas Neues erzählen können, werde ich den gesamten Wettgewinn von einer Woche für wohltätige Zwecke spenden.«

»Können Sie mit Wildkatzen fertig werden, Mr. Archer?«

»Wildkatzen sind zwar nicht mein täglicher Umgang, aber manche Leute sind noch schlimmer.«

»Ich weiß, was Sie meinen.« Ihre Zähne malträtierten schon wieder die Unterlippe. »Als ich jünger war, habe ich geglaubt, die Leute wollten nichts als leben und leben lassen. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«

»Mrs. Slocum, Sie sind doch wohl kaum hierhergekommen, um mit mir über abstrakte Moralbegriffe zu sprechen. Wollen Sie nicht endlich zur Sache kommen?«

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich habe gestern einen Schock erlitten.« Sie sah mir voll ins Gesicht und wandte den Blick dann in die Ferne. Ihre Augen waren tief wie das Meer vor der Küste von Catalina. »Jemand versucht, mich zu vernichten.«

»Sie zu töten, meinen Sie?«

»Das zu vernichten, was mir das Wichtigste ist. Meine Ehe, meine Familie, mein Heim.« Ihre Stimme schwankte und brach ab. »Es ist mir schrecklich, darüber zu sprechen. Es ist alles so heimtückisch.«

{9}Da hatte ich’s mal wieder, dachte ich. Ein echter Beichtvormittag, in der Hauptrolle Lew Archer als Geistlicher ohne Priesterrock. »Ich hätte Zahnarzt werden sollen; dann könnte ich mir die Zeit mit etwas so Bequemem und Schmerzlosem wie Zähneziehen vertreiben. Wenn Sie Hilfe benötigen, dann sagen Sie, was ich für Sie tun kann. Wer hat Sie übrigens hergeschickt?«

»Sie wurden mir empfohlen. Ich kenne einen – einen Mann, der bei der Polizei arbeitet. Er sagte, Sie seien ehrlich und diskret.«

»Etwas ungewöhnlich, daß ein Bulle so über mich redet. Möchten Sie mir vielleicht seinen Namen nennen?«

»Nein, das möchte ich nicht.« Allein der Vorschlag schien sie schon zu beunruhigen. Ihre Finger umkrampften die schwarze Wildledertasche. »Er weiß nichts davon.«

»Ich auch nicht. Ich erwarte auch nicht, daß ich es jemals erfahren werde.« Dabei lächelte ich und bot ihr eine Zigarette an. Sie paffte ohne Genuß, aber es schien sie zu beruhigen.

»Verdammt.« Sie blinzelte; der Rauch war ihr in die Augen gestiegen. »Da habe ich nun eine ganze Nacht lang versucht, mir über alles klarzuwerden, und ich bin keinen Schritt weitergekommen. Sehen Sie, bis jetzt weiß niemand von der Sache; es fällt mir schwer, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Schweigen wird zur Gewohnheit – nach sechzehn Jahren.«

»Sechzehn Jahre? Ich dachte, es wäre gestern passiert?«

Sie errötete. »Ist es auch. Ich habe nur daran gedacht, wie lange ich verheiratet bin. Die Sache hat eine ganze Menge mit meiner Ehe zu tun.«

»Das dachte ich mir. Im Raten bin ich nämlich gut.«

»Verzeihung. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Für eine Frau dieses Formats war sie ziemlich deprimiert; es paßte nicht zu dem Hundert-Dollar-Kostüm. »Es ist nicht etwa so, daß ich glaube, sie würden es überall rumtratschen oder versuchen, mich zu erpressen …«

{10}»Versucht man, Sie zu erpressen?«

Die Frage überraschte sie so sehr, daß sie zusammenfuhr. Dann faßte sie sich wieder und beugte sich vor. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung.«

»Dann geht’s Ihnen wie mir.« Ich holte aus der obersten Schreibtischschublade einen Umschlag, öffnete ihn und begann den hektographierten Text zu lesen, in dem man mir eröffnete, daß ich mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu drei binnen eines Jahres im Krankenhaus landen würde und mich tunlichst und schnell dagegen rückversichern sollte. »Wer zögert, ist verloren«, sagte ich laut.

»Sie machen sich über mich lustig, Mr. Archer. Aber Sie müssen doch verstehen … Kann ich mich denn darauf verlassen, daß Sie, falls Sie meinen Fall nicht übernehmen werden, alles wieder vergessen?«

Ich ließ den Ärger in meiner Stimme durchklingen. Diesmal lächelte ich nicht und verzog auch das Gesicht nicht. »Wir wollen es beide vergessen. Sie verschwenden meine Zeit, Mrs. Slocum.«

Sie holte tief Luft. »Diese Sache war für mich wie ein physischer Schlag, ein Schlag von hinten.« Dann öffnete sie ihre Handtasche und sagte plötzlich entschlossen: »Ich nehme an, ich muß es Ihnen zeigen. Ich kann jetzt nicht einfach nach Hause gehen, herumsitzen und auf den nächsten warten.«

Ich sah mir den Brief an, den sie mir hinreichte. Er war kurz und eindeutig und natürlich ohne Unterschrift:

Lieber Mr. Slocum,

verwesende Lilien riechen schlecht. Macht es Ihnen tatsächlich nichts aus, mit Hörnern herumzulaufen? Oder wissen Sie vielleicht gar nichts über das Liebesleben Ihrer Frau?

Die Botschaft war auf einem Bogen billigen weißen Schreibmaschinenpapiers getippt, der viermal zusammengefaltet war. »War auch ein Briefumschlag dabei?«

{11}»Ja.« Sie kramte in der Tasche und gab mir einen zerknitterten weißen Umschlag, der an James Slocum, Esq., Trail Road, Nopal Valley, Kalifornien, adressiert war. Der Poststempel war klar. Quinto, Kalif., 18. Juli.

»Heute ist Mittwoch«, sagte ich. »Er wurde am Montag aufgegeben. Kennen Sie Leute in Quinto?«

»Alle.« Sie lächelte gezwungen. »Es ist nur ein paar Meilen von Nopal Valley entfernt, wo wir wohnen. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer ihn abgeschickt haben könnte.«

»Oder warum?«

»Wahrscheinlich habe ich Feinde. Das haben die meisten Leute.«

»Ich nehme an, Ihr Mann hat den Brief nicht gesehen. James Slocum ist doch Ihr Mann?«

»Ja. Er hat ihn nicht gesehen. Er war gerade in Quinto, als der Brief eintraf. Ich hole gewöhnlich die Post aus dem Briefkasten.«

»War er geschäftlich in Quinto?«

»Geschäftlich nicht. Er ist Mitglied der Quinto Players – einer Laientheatergruppe. In dieser Woche proben sie an jedem Nachmittag …«

»Lesen Sie immer die Post Ihres Mannes?« unterbrach ich sie.

»Ja. Und er meine – aber ich habe kaum erwartet, hier in ein Kreuzverhör genommen zu werden, Mr. Archer.«

»Noch eine Frage: stimmt es, was in dem Brief behauptet wird?«

Das Blut stieg ihr ins Gesicht, und ihre Augen blitzten. »Sie erwarten doch wohl nicht, daß ich darauf antworte.«

»Also gut. Sie wären kaum hier, wenn es nicht stimmte.«

»Im Gegenteil«, sagte sie.

»Und Sie wollen, daß ich den Absender ermittle, damit Sie ihn oder sie gerichtlich belangen können?«

»O nein.« Das kam entsetzt. »Ich will nur, daß das aufhört. Ich kann nicht täglich am Briefkasten Wache halten {12}und die Post abfangen. Und ich kann nicht dauernd grübeln, wer …«

»Außerdem könnte man ihm den nächsten Brief persönlich übergeben. Wäre es so schlimm, wenn er ihn lesen würde?«

»Es wäre schrecklich.«

»Warum? Ist er so eifersüchtig?«

»Überhaupt nicht. Er ist sehr ruhig.«

»Und Sie lieben ihn?«

»Ich habe ihn geheiratet«, sagte sie, »und es nicht bedauert.«

»Wenn Ihre Ehe in Ordnung ist, dann kann einem so ein Geschreibsel doch nichts anhaben.« Ich warf den Brief zwischen uns auf den Schreibtisch und sah ihr voll ins Gesicht.

Mund und Augen wirkten gepeinigt. »Es würde uns den Rest geben. Ich habe eine Tochter, die noch zur Schule geht. Ich werde es einfach nicht zulassen, daß so etwas passiert.«

»Was?«

»Krach und Scheidung«, erwiderte sie hart.

»Würde...