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Lawless

T. M. Frazier

 

Verlag LYX, 2017

ISBN 9783736304390 , 230 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1


Thia

Zehn Jahre alt

Ich weiß nicht, ab wann auf einmal alles schiefging.

Diesen Spruch habe ich nie verstanden. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, kann ich auf den Tag und die Stunde genau sagen, wann sich alles änderte und eine Richtung einschlug, die niemand hätte vorhersagen können.

Am allerwenigsten ich.

Es war drei Wochen vor meinem elften Geburtstag, und ich war gerade mit meinem kleinen roten Fahrrad die drei Meilen zur Stop-n-Go-Tankstelle geradelt. Dad wollte, dass ich eine Kiste Orangen abliefere, deshalb hatte ich sie auf ein Skateboard gebunden, das ich mit einem Seil von Dads altem Boot an meinem Fahrrad befestigt hatte. »Kannst du ein bisschen auf die Kasse aufpassen, Cindy?«, fragte Emma May. Hüftschwingend, ihre kleine viereckige Handtasche in der Hand, steuerte sie auf die Tür zu. »Ich gehe nur mal kurz nach nebenan in den Salon. Wahrscheinlich kommt sowieso niemand«, fügte sie hinzu. Sie beugte sich über den Tresen und öffnete mit einer Tastenkombination und einem Faustschlag auf eine bestimmte Stelle am unteren Ende die alte Registrierkasse. Dann nahm sie etwas Geld heraus, lächelte mich an und schob sich durch die Glastür. Die Türglocke läutete, als sie sich öffnete, und noch einmal, als sie sich wieder schloss.

Emma May hatte recht. Schon öfter hatte sie mich darum gebeten, auf den Laden aufzupassen, und noch nie war jemand gekommen.

Bis zu diesem Tag.

Es war nicht so, dass ich scharf darauf gewesen wäre, gleich zurück nach Hause zu gehen. Mom benahm sich seit einiger Zeit merkwürdig: stundenlang putzte sie die Böden, bis das Holz seinen Glanz verlor, Selbstgespräche in der Küche und so. Und jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprach, tat sie so, als wüsste sie nicht, was ich meine. Dad sagte, dass es in Ordnung wäre und ich ihr nur aus dem Weg gehen und sie einfach in Ruhe lassen sollte.

Ich tat, was er sagte, und blieb so lange wie möglich weg. Meistens kam ich erst nach Sonnenuntergang nach Hause.

Auf den Laden aufzupassen war so gut wie jeder andere Grund, um noch nicht nach Hause gehen zu müssen.

Nach etwa einer Stunde wurde ich unruhig. Ich ordnete die Zigarettenschachteln hinter der Kasse, drehte die Hot Dogs auf den Rollen, die nicht funktionierten, und versuchte, ein Magazin zu lesen, aber ich wusste nicht mal, was »Siebzehn Stellungen, die ihn scharfmachen« überhaupt bedeutete.

Warum sollte man jemanden scharfmachen? Ein Messer konnte man scharf machen. Oder Chilisoße. Aber einen Menschen? So ein Unsinn.

Ich gab das mit den Magazinen auf und lümmelte mich auf einen alten Barhocker, der bei jeder Bewegung knarrte. Ich legte die Füße auf den Tresen und schaltete den kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher ein, der in einer Ecke des Tresens auf einem dicken Telefonbuch stand. Es gab nur zwei Sender, einer mit Wild-West-Filmen und den Wetterkanal. Bei beiden waren die Bilder voller Schnee, und aus dem Lautsprecher kam nur Rauschen und Knistern. Ich versuchte, das Ding wieder auszuschalten, aber das funktionierte nicht. Ich konnte den Apparat nur lauter stellen. Es wurde so laut, dass ich weder die Motorräder hörte, die auf den Parkplatz fuhren, noch das Läuten der Türglocke.

Ich zog den Stecker aus der Steckdose und hatte das Kabel noch in der Hand, als ich in die Augen eines dunkelhaarigen Fremden blickte.

Und in die Mündung seiner Pistole.

»Gib mir alles, was du hast«, befahl er und deutete mit der Pistole auf die Kasse. Er schwankte, seine Augen waren rotgerändert.

»Ich weiß nicht, wie …«, setzte ich an, aber der Mann fiel mir ins Wort.

»Mach schon«, befahl er. Dann ließ er die Pistole klicken und beugte sich vor, sodass sein Brustkorb auf dem Tresen lag und die Waffe nur Zentimeter von meinem Kopf entfernt war. Ich glitt von dem Hocker, schob ihn hinüber zur Kasse und kniete mich auf ihn. Dann versuchte ich mich an der komplizierten Tastenkombination, mit der Emma die Kasse geöffnet hatte.

Nichts passierte.

»Na los, Kleine!«, rief der Mann ungeduldig.

»Ich versuch’s ja, vielleicht habe ich die falsche Stelle getroffen.« Ich probierte es noch einmal und schlug jetzt etwas weiter unten auf die Kasse. Der Mann kam zu mir herüber. Er roch wie unser Auto damals, als meinem kleinen Bruder auf der Fahrt nach Savannah schlecht geworden war.

»Pass auf, du kleine Schlampe«, sagte er und hob seine Pistole, als wollte er mich damit schlagen. Ich rutschte vom Stuhl und duckte mich unter den Tresen.

Das Läuten der Türglocke verkündete, dass jemand hereinkam. Eine Stimme dröhnte durch den Raum und ließ die Weckgläser mit hausgemachtem Trockenfleisch im Regal erzittern. »Was zu Teufel machst du da?«, fragte die Stimme. Der Mann mit der Pistole erstarrte, die Hand immer noch erhoben.

»Ich hol mir ein bisschen Cash, Arschloch«, lallte er.

Ein farbenprächtiger Arm langte zu, packte den Mann im Nacken und zog ihn über den Tresen, als würde er kaum mehr wiegen als ein Insekt. Es gab einen Tumult, dann signalisierte die Glocke erneut das Öffnen und Schließen der Ladentür.

Es dauerte ein paar Minuten, bis ich aus meinem Versteck unter den Ladentisch kroch. Ich kletterte gerade zurück auf den Barhocker, als sich die Tür wieder öffnete. Ein blonder Mann kam herein. Er trug die gleiche Lederweste wie der Mann mit der Pistole, mit dem Unterschied, dass dieser Mann darunter nichts trug. Er hatte Muskeln wie die Catcher im Fernsehen, wenn auch nicht ganz so dick, und seine Haut war voller Tattoos. Ein großes Motiv prangte auf seiner Schulter und erstreckte sich von dort über den ganzen Arm. Dasselbe farbenprächtige Tattoo wie auf dem Arm, der gerade den Mann mit der Pistole über den Tresen gezogen hatte.

Seine hellen Augen hatten die gleiche Farbe wie der neue Swimmingpool der Maxwells. Ein tiefes, leuchtendes Blau. Sein sandfarbenes Haar war glatt nach hinten gekämmt, oben länger und an den Seiten rasiert. In den Filmen, die ich im Kino sah, nannte man das Mohawk, glaube ich. »Bist du allein hier?«, fragte er und überprüfte den Raum, indem er in alle drei Gänge spähte.

Ich nickte. »Hat Skid dich gerade …« Er beendete den Satz nicht. Stattdessen beugte er sich vor, spreizte die Hände auf dem Tresen und holte tief Luft. Die farbenprächtigen Tattoos reichten ihm bis zu den Fingern. An jeder Hand trug er drei große Silberringe. Er hatte einen Bart, und bis zu diesem Augenblick hatte ich mir, wenn von Bärten die Rede war, immer das lange weiße Haar im Gesicht von alten, hässlichen Zauberern in langen Roben und mit spitzen blauen Hüten vorgestellt. Der Bart dieses Mannes dagegen war etwas dunkler als sein Haar und vielleicht drei Zentimeter lang.

Er war kein Zauberer. Er war auch nicht alt.

Oder hässlich.

»Sie haben cooles Haar«, sagte ich. Alles an ihm war cool. Mehr als cool, er war …

Hübsch? Konnte ein Mann hübsch sein?

Nein, er war nicht hübsch.

Er war wunderschön.

»Danke, Süße«, sagte er und lehnte sich an den Tresen. Er roch wie der Truck meines Vaters beim Ölwechsel und wie die lila Seife, die Mrs Kitchener im Sommer herstellte. »Dein Haar ist auch ziemlich cool.« Ich glaube, da wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben rot. Meine Wangen wurden heiß, und als der Mann es bemerkte, lächelte er noch breiter und beugte sich vor.

»Warum bist du ganz alleine hier? Gibt man in Jessep nichts auf das Jugendschutzgesetz?«

»Ich weiß nicht, warum, aber seit der neue Highway eröffnet wurde, kommt hier kaum noch jemand vorbei. Ich passe nur auf den Laden auf, solange Emma May im Schönheitssalon ist. Sie hat gesagt, sie kommt gleich wieder, aber wenn sie Emma May schön machen wollen, wird es wohl noch eine Weile dauern.«

Der Mann lachte und stützte sich auf seine Ellbogen. »Hör zu, Süße. Das mit meinem Freund tut mir leid.« Er lächelte mich kurz an. »Ihm ist von der langen Fahrt schlecht geworden, und er hat sich hier echt blöd benommen.«

»Für mich sah er eher betrunken aus. Vielleicht war er nur verkatert, aber Sie sollten ihm lieber sagen, dass er nicht fahren soll, wenn er getrunken hat.«

Der Mann schien sich zu amüsieren, und ich würde alles tun, damit das auch so blieb. »Ja, auf einer langen Fahrt kann so was passieren. Aber du bist okay? Er hat dir nichts getan, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es geht mir gut, keine Sorge. Als Sie hereingekommen sind, wollte ich gerade Emma Mays Schrotflinte nehmen.« Ich hob die Schrotflinte von den Haken unter dem Tresen, damit er sie sehen konnte, und lud sie durch. Der Mann warf einen Blick auf die Flinte und krümmte sich vor Lachen. Ich schob sie wieder unter den Tresen. »Was ist daran so lustig?«, fragte ich.

»Oh, Mann, ich freue mich schon darauf, Skid zu erzählen, dass er beinahe von einem kleinen Mädchen umgelegt worden wäre.« Vor lauter Lachen hatte er Tränen in den Augen.

»Ich bin kein kleines Mädchen«, widersprach ich. »Nächsten Monat werde ich elf. Und wie alt sind Sie?«

»Einundzwanzig.« Er lächelte noch strahlender, und plötzlich war ich nicht mehr sauer auf ihn, weil er mich ein kleines Mädchen genannt hatte. Wenn er mich weiter so anlächelte, konnte er mich nennen, wie er wollte.

»Wie heißt du, Schätzchen?«, fragte er.

»Ich heiße Thia Andrews«, sagte ich stolz und hielt ihm die Hand hin, so, wie mein Vater es mir beigebracht hatte.

»Thia?«, fragte er und sah mich genauso fragend an wie die meisten Leute, wenn sie meinen Namen zum ersten Mal...