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Der Duft von Honig und Lavendel - Roman

Donatella Rizzati

 

Verlag Goldmann, 2017

ISBN 9783641201005 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

Prolog

Paris, November 2004

Keuchend erklomm ich die Rue Lepic. Über mir ballte sich der bleigraue und wolkenverhangene Himmel zusammen. Die Straße, normalerweise voller Touristen, Autos und geschäftiger Passanten, war merkwürdig still. Ich spürte die Kälte durch die Schnürstiefel und die dicke Strumpfhose hindurchkriechen, die ich unter der Hose trug. Dankbar für die Wärme, die er mir spendete, kuschelte ich mich in den schweren Mantel aus grobem Wollstoff und zog mir die Kapuze über den Kopf. Ich kam am Café des Deux Moulins vorbei, einer kleinen, bis auf den knallroten Anstrich eher unspektakulären Eckbar, die durch einen Film eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte und seitdem Trauben von Touristen und Schaulustigen anzog. Ich bevorzugte andere Cafés, die zwar weniger en vogue, dafür aber erschwinglicher waren, wenigstens für eine mittellose Studentin wie mich. An diesem Tag war ich mit einem ganz bestimmten Plan losgezogen: Ich wollte getrocknete Caldendulablüten besorgen, die ich für ein medizinisches Öl brauchte. Das war meine Hausaufgabe für den praktischen Kurs in Kräuterheilkunde am nächsten Tag. Ich besuchte erst seit kurzem die Schule für Naturheilkunst voller Begeisterung und in dem Bewusstsein, dass jeder Erfolg mich einen Schritt weiter wegführte von der Welt meines Vaters und seiner wissenschaftlichen, aseptischen und mechanischen Medizin. Unter allen Fächern war mir die Kräuterheilkunde immer am liebsten gewesen. Ich liebte es, die therapeutischen Eigenschaften der Heilkräuter zu studieren, und konnte es wie immer kaum erwarten, das Gelernte in die Praxis umzusetzen.

Getrocknete Ringelblumen zu finden war nicht allzu schwierig, doch an diesem Tag war ich so düsterer Stimmung, dass ich die Suche nach den Blüten zum Vorwand nahm, um einen Spaziergang auf den Hügel von Montmartre zu unternehmen. Normalerweise besserte sich meine Laune spürbar, wenn ich durch diese engen Gassen schlenderte, vorbei an den alten Jugendstilhäusern, die in allen erdenklichen Schattierungen von Weiß schimmerten, doch an diesem Nachmittag ließen auch sie mich gleichgültig. Ganz am Ende der Rue Lepic bog ich in die erste Seitenstraße rechts ab und betrachtete im Vorbeigehen flüchtig die Schaufenster, als eine Auslage meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Es war ein kleiner, altmodischer Laden, eingezwängt zwischen einer modernen, neonbeleuchteten Boutique und einem eleganten Einrichtungsgeschäft. Das Lädchen wirkte vollkommen fehl am Platz, wie das Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, das sich zu seiner großen Überraschung in einer Straße des einundzwanzigsten Jahrhunderts wiederfand. Es war eine Art Bioladen, jedoch ganz anders als die üblichen Geschäfte dieser Art, in deren Auslagen sich meist ein unübersichtliches Sammelsurium aus Shampoos, Cremetiegeln, Teekannen und Duftkerzen türmte. Nein, dieser Laden war anders: In seinem großen Schaufenster mit dem malvenfarbenen Holzrahmen war einzig und allein ein prachtvolles, reich verziertes Kräuterbuch ausgestellt, das vermutlich aus dem Mittelalter stammte, auf einem Ständer ruhte und vom warmen Schein einer Lampe beleuchtet wurde, in deren Lichtkegel hauchfeiner, goldfarbener Staub tanzte. Die vergilbten Seiten waren mit zahlreichen Zeichnungen von Pflanzen bedeckt und mit fast unleserlichen, seltsam spitzen Buchstaben beschriftet. Auf dem Ladenschild stand einfach nur: FAMILIE FLEURE-BOURRY, SEIT 1895.

Manchmal stelle ich mir die Frage, ob die Wirklichkeit tatsächlich existiert oder doch nur eine Spiegelung unserer eigenen Ängste und uneingestandenen Sehnsüchte ist. Ich habe keine Antwort darauf, und doch weiß ich, dass jenes magische Schaufenster, das ich vermutlich in einem anderen Moment gar nicht bemerkt hätte, plötzlich neben mir auftauchte und mich wie durch Zauberhand aus meiner düsteren Stimmung riss. Ich konnte gar nicht anders, als einzutreten. Und kaum hatte ich einen Fuß hineingesetzt, verschwand das Paris, aus dem ich kam, und ich hatte das Gefühl, die Schwelle zu einer längst vergangenen Epoche zu überschreiten. Mir kam eine Stelle aus Boccaccios Decamerone in den Sinn, die wir erst ein paar Tage zuvor in der Schule durchgenommen hatten und in der von Klosterzellen die Rede gewesen war, »voll von Büchslein mit Latwergen und Salben … voll von Schachteln mit mancherlei Konfekt, voll Karaffen und Phiolen mit wohlriechenden Wassern und Ölen … schier überlaufen, sodass diese weniger Mönchszellen denn Spezerei- und Salbenläden gleichen.«

Mehr als ein Kräuterladen schien mir dies eher eine altmodische Apotheke zu sein, und ganz im Gegensatz zu dem äußeren Anschein entpuppte sich das Geschäft als ausgesprochen geräumig. In der Luft hing ganz zart ein Geruch, der mir gleich in die Nase stieg und sich dann zu einem Kaleidoskop aus verschiedensten Aromen entfaltete, von denen ich verschiedenste Blüten, Rinden, Borken und Gewürze herausschnupperte. Schmeichelnde Düfte, die wie Balsam auf mich wirkten und mich im Nu von allen Sorgen und Nöten befreiten. Die Wände waren bis zur Decke mit schlichten Regalen aus schimmerndem Nussbaumholz bedeckt. Dieses kostbare dunkle Holz (das mir vertraut war, weil mir meine Mutter mit ihrem Faible für Nussbaum einen solchen Schreibtisch ins Zimmer gestellt hatte, den ich mit allerlei Aufklebern verziert hatte) war in nüchterne Quadrate unterteilt, doch die herrliche Maserung mit ihren eleganten Kringeln und Schnörkeln wirkte wie das Werk eines Kunsttischlers. Jedes Regalbrett enthielt dicht an dicht alphabetisch beschriftete Gefäße aus Glas und Keramik sowie kleine Jutesäckchen mit Samen, getrockneten Blüten und Blättern mit Aufschriften, die selbst mir unbekannt waren. Cajeput, Calabar, Campecheholz, Cascara, Cervina-Minze, Ceylon-Zimt, Chaldron – und das war erst der Beginn der Reihe C.

Es war unglaublich.

Nachdem mein Blick über die Wände, die Decke mit den Holzbalken, den Boden mit den schwarz und sandfarben gewürfelten Fliesen und die überall aufgestellten Körbe gewandert war, fiel er endlich auf die Person, die hinter dem Tresen stand und mir die ganze Zeit geduldig und höflich zugesehen hatte.

Unsere Blicke begegneten sich, und einen Moment lang verlor ich die Fassung … Aus diesen Augen sprach eine uralte Weisheit, sie verrieten Klugheit und Gelassenheit, aber da war auch ein Anflug von Verschmitztheit.

Es war keine junge Frau mehr, sicherlich jenseits der sechzig, zumindest nach dem grauen, glatten Haar zu schließen, das sie zu einem kurzen Bob geschnitten trug. Sie war eher schlank und mittelgroß, mit einem spitzen, hellen Gesicht und strahlenden, himmelblauen und verblüffend klaren Augen, an denen ich mich gar nicht sattsehen konnte.

Sie lächelte mich an. »Bonjour. Kann ich Ihnen helfen?«

Einen Moment lang war ich versucht, meinem ganzen Ärger und Frust Luft zu machen. »Oh ja, und wie Sie mir helfen können«, hätte ich am liebsten geschrien. »Haben Sie ein Mittel gegen das Versagen? Einen Tee für enttäuschte Liebe? Oder einen Absud gegen die Angst, nie mehr geliebt zu werden? Ist denn auf dieser Welt nirgendwo ein Kraut gewachsen, das einem das Gefühl gibt, gut genug zu sein, und sei es nur für fünf Minuten?« Ich biss mir auf die Zunge, um nicht vor dieser freundlichen Unbekannten eine Szene zu machen.

Doch sie musste einen sechsten Sinn besitzen, denn sie sah mich eindringlich an und erwiderte: »Ich besitze zwar nicht die Gabe, Schicksale zu ändern, doch gegen Kummer habe ich noch immer ein Kraut gefunden. Sie sind keine Französin, stimmt’s?«

Verblüfft über ihre Hellsichtigkeit gab ich nicht gleich eine Antwort. Auf einmal überkam mich große Lust, dieser Frau mein Herz auszuschütten. Vielleicht weil meine Traurigkeit einfach schon zu lange andauerte, vielleicht weil ich niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen konnte; jedenfalls vermittelte mir diese so warmherzig und mütterlich wirkende Frau ein Gefühl der Wärme, das ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte.

Ich begann zu weinen.

Eine Tränenflut überkam mich. Ich weinte über das verbitterte Schweigen meines Vaters und das Kind in mir, dem eine einzige Umarmung genügt hätte, um sich wieder geborgen zu fühlen.

Ohne ein Wort wartete die Frau, bis ich mich ausgeweint hatte. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, kam sie hinter dem Tresen hervor, reichte mir ein Papiertaschentuch und streichelte mir lächelnd über die Wange. »Es ist bestimmt nur halb so schlimm, da bin ich mir sicher. Hast du Lust, ein wenig zu reden?«, sagte sie in einem vertraulichen Ton, bei dem es mir sogleich besser ging.

Ich fühlte mich frei. Frei, endlich ich selbst zu sein, und das dank einer mir vollkommen Unbekannten.

Wie ich herausfand, hieß die Unbekannte Gisèle, war verheiratet, hatte zwei Kinder, drei Enkel sowie zwei jüngere Schwestern, mit denen sie das Geschäft führte. Eigentlich kümmerten sich nur sie und ihre Schwester Sabine darum, denn Yvette, die Jüngste, hatte einen italienischen Ingenieur geheiratet, mit dem sie nach mehreren Auslandsaufenthalten jetzt in Rom gelandet war. Außerdem erfuhr ich, dass sich Gisèles Familie bereits seit mehr als hundert Jahren mit Arznei- und Heilkräutern befasste. Ich hatte gar nicht falschgelegen, als mich das Geschäft an eine Apotheke erinnert hatte: In der Tat war Gisèles Urgroßvater Arzt gewesen und hatte dabei ein besonderes Interesse für Pflanzenheilkunde entwickelt. Im Laufe der Generationen hatte die Leidenschaft der Familie für Heilkräuter schließlich zur Eröffnung des ersten Geschäfts in Paris für pflanzliche Arzneimittel geführt. Selbst die beiden...