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Fireman - Roman

Joe Hill

 

Verlag Heyne, 2017

ISBN 9783641203931 , 960 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

1

APRIL

Sie verließ die Schule erst, eine Stunde nachdem das letzte Kind nach Hause gegangen war, aber es war trotzdem noch recht früh. An den meisten Schultagen musste sie bis um fünf Uhr nachmittags dableiben, wegen der ungefähr fünfzig Kinder, die länger betreut wurden, weil ihre Eltern arbeiteten. Heute waren alle schon um drei Uhr verschwunden.

Nachdem sie das Licht in der Krankenstation ausgeschaltet hatte, stand sie am Fenster und schaute auf den Pausenhof. Vor dem Klettergerüst auf dem Spielplatz war ein schwarzer Fleck zu sehen, dort, wo die Feuerwehrleute versucht hatten, die verkohlten Überreste, die sich nicht abkratzen ließen, mit Wasser wegzuspritzen. Sie hatte eine Vorahnung, dass sie nie mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und nie mehr aus diesem Fenster schauen würde, und damit sollte sie recht behalten. Noch am selben Abend wurden sämtliche Schulen im ganzen Staat vorläufig geschlossen und sollten erst wieder geöffnet werden, wenn »die Krise« vorüber wäre. Wie sich herausstellte, ging »die Krise« nicht vorüber.

Harper hatte eigentlich erwartet, zu Hause allein zu sein, aber als sie ankam, war Jakob schon da. Er hatte den Fernseher eingeschaltet und telefonierte. Seinem Tonfall nach zu urteilen – er sprach ruhig, gleichmäßig und fast schon träge – wäre niemand darauf gekommen, dass er sich gerade aufregte. Man musste schon zusehen, wie er herumtigerte, um zu merken, wie aufgebracht er war.

»Nein, ich hab’s nicht mit eigenen Augen gesehen. Johnny Deepenau war dort unten mit einem der Reinigungsfahrzeuge, um den Dreck wegzuräumen, und er hat uns Bilder von seinem Handy geschickt. Es sah aus, als wäre drinnen eine Bombe explodiert. Wie bei einem Terroranschlag, wie … warte mal. Harp ist gerade gekommen.« Er nahm den Hörer herunter, hielt ihn vor seine Brust und sagte: »Du bist von hintenrum gekommen, stimmt’s? Durch die Stadt hättest du es niemals geschafft. Die haben alle Straßen von der North Church bis zur Bibliothek gesperrt. Die ganze Gegend wimmelt nur so von Polizisten und Angehörigen der Nationalgarde. Ein Bus ist in Flammen aufgegangen und gegen einen Telefonmast geprallt. Er war gerammelt voll mit Chinesen, die mit dieser Scheißkrankheit infiziert waren, mit diesem Dragonscale-Zeug.« Mit stockendem Atem stieß er einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf – als wäre er total genervt von diesen Leuten, die es wagten, an so einem schönen Tag mitten in Portsmouth einfach in Flammen aufzugehen. Dann wandte er sich ab und hielt sich den Hörer wieder ans Ohr. »Es geht ihr gut. Sie hat überhaupt nichts davon mitgekriegt. Jetzt ist sie hier, und ich werde ihr die Hölle heißmachen, falls sie glaubt, sie könne zurück zur Arbeit gehen.«

Harper setzte sich auf den Rand des Sofas und schaute zum Bildschirm. Der lokale Nachrichtensender zeigte gerade Ausschnitte aus einem Basketballspiel der Celtics, als wäre überhaupt nichts passiert. Isaiah Thomas reckte sich, ließ sich zurückfallen und warf den Ball beinahe aus der Mitte des Spielfelds. Zu diesem Zeitpunkt wusste es noch keiner, aber am Ende der folgenden Woche würde die Basketballsaison für immer enden. Schon im Sommer würden die meisten Spieler tot sein, entweder verbrannt oder durch Selbstmord.

Jakob lief weiter in seinen Riemensandalen herum.

»Was? Nein. Keiner ist ausgestiegen«, sagte er in den Hörer. »Und das klingt jetzt vielleicht hart, aber ich bin irgendwie auch froh darüber. So konnten sie wenigstens niemanden anstecken.« Er hörte kurz zu, lachte dann unvermittelt auf und sagte: »Genau, nach dem Motto: Wer hat denn diesen verkokelten Chinafraß bestellt, stimmt’s?«

Bei seinem Rundgang durchs Zimmer war er nun vor dem Bücherregal angekommen, wo er allerdings nichts zu tun hatte, weshalb er sich umdrehte und wieder zurückging. Als er kehrtmachte, warf er einen Blick auf Harper und bemerkte etwas, das ihn alarmierte.

»He, Baby, alles klar bei dir?«, fragte er.

Sie starrte ihn an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das war eine erstaunlich komplizierte Frage, und sie musste zunächst eine Weile über die Antwort nachdenken.

»He, Danny? Ich muss jetzt Schluss machen. Ich muss mich mal kurz um Harper kümmern. Es war auf jeden Fall richtig, dass du losgegangen bist, um die Kinder abzuholen.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Ja, alles klar. Ich schicke euch dann die Bilder, aber ihr habt sie nicht von mir bekommen. Viele Grüße an Claudia, bis dann.«

Er beendete das Gespräch und schaute sie an. »Was ist denn los? Wieso bist du schon zu Hause?«

»Da war ein Mann bei uns auf dem Schulhof«, sagte Harper, und dann spürte sie diesen Kloß im Hals, als hätte der Schreck sich in etwas Greifbares verwandelt.

Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie.

»Ist ja gut«, sagte er. »Alles ist gut.«

Der Kloß in ihrem Hals löste sich, und sie konnte wieder sprechen. Sie versuchte es noch mal: »Er kam auf den Schulhof und taumelte herum wie ein Betrunkener. Dann fiel er hin und fing an zu brennen. Er ging in Flammen auf, als wäre er aus Stroh. Die Hälfte der Kinder in der Schule hat zugesehen. Man kann von fast allen Klassenzimmern auf den Schulhof gucken. Ich habe Stunden damit zugebracht, Kinder mit Schocksymptomen zu behandeln.«

»Warum hast du nichts gesagt? Dann hätte ich nicht so lange telefoniert.«

Sie drehte sich zu ihm um und lehnte ihren Kopf an seine Brust, während er sie umarmte.

»Es waren vierzig Kinder in der Aula, außerdem einige Lehrer und der Direktor. Manche weinten, andere zitterten, einige mussten sich übergeben, und ich fühlte mich, als würde ich alles drei auf einmal tun.«

»Das hast du aber nicht.«

»Nein, ich habe Tetrapacks mit Saft verteilt. Beruhigungsmittel und so was.«

»Du hast getan, was du tun konntest«, sagte er. »Du hast wer weiß wie vielen Kindern geholfen, das schlimmste Erlebnis ihres Lebens zu verkraften. Und weißt du was? Alle werden sich ihr ganzes Leben lang daran erinnern, was du für sie getan hast. Du warst zur Stelle, jetzt ist es vorbei, und du bist hier bei mir.«

Eine Weile saß sie ruhig und still in seiner Umarmung da und atmete den Duft nach Sandelholzparfüm und Kaffee ein.

»Wann ist es passiert?« Er ließ sie los und schaute sie aus seinen hellbraunen Augen an.

»Während der ersten Stunde.«

»Jetzt geht es auf drei Uhr zu. Hast du zu Mittag gegessen?«

»Hm, nein.«

»Ist dir schwindelig?«

»Hm-hm.«

»Dann solltest du was essen. Ich weiß nicht, was im Kühlschrank ist. Ich könnte uns auch was kommen lassen.«

Wer hat denn diesen verkokelten Chinafraß bestellt?, dachte Harper und hatte das Gefühl, das Zimmer um sie herum würde sich neigen wie ein Schiff bei Seegang. Sie richtete sich auf und lehnte sich zurück.

»Vielleicht erst mal ein bisschen Wasser«, sagte sie.

»Oder ein Glas Wein?«

»Noch besser.«

Er stand auf und ging zu dem kleinen Weinkühler auf dem Regal, in den sechs Flaschen passten. Er betrachtete prüfend eine Flasche, dann eine andere – welche Sorte Wein harmoniert am besten mit einer tödlichen Seuche? – und sagte: »Ich dachte, dieses Zeug gibt es nur in Ländern, wo die Luft total verschmutzt ist und die Flüsse nur noch Abwasserkloaken sind. China. Russland. Die ehemalige kommunistische Volksrepublik von Kackistan oder so.«

»Rachel Maddow hat gesagt, es hätte allein in Detroit schon über hundert solcher Vorfälle gegeben. Das war gestern Abend.«

»Das meine ich ja. Ich dachte, so was passiert nur an heruntergekommenen Orten wie Tschernobyl oder Detroit.« Der Korken knallte. »Ich verstehe nicht, wie jemand, der sich angesteckt hat, in einen Bus steigen kann. Oder in ein Flugzeug.«

»Vielleicht fürchten sie, in Quarantäne gesteckt zu werden. Viele haben Angst, sie könnten von ihren Angehörigen getrennt werden. Das ist für manche noch schlimmer als die Krankheit. Niemand möchte allein sterben.«

»Ja, klar, richtig. Warum alleine sterben, wenn man es in Gesellschaft tun kann? Es gibt bestimmt keinen größeren Liebesbeweis, als die anzustecken, die man gernhat.« Er brachte ihr ein Glas mit goldgelb schimmerndem Wein, der aussah wie ein Schluck destillierter Sonnenschein. »Wenn ich diese Krankheit hätte, würde ich lieber sterben, als dich anzustecken oder auch nur einem Risiko auszusetzen. Ich denke, in diesem Fall würde es mir nicht schwerfallen, meinem Leben ein Ende zu setzen. Dann könnte ich wenigstens sicher sein, andere Menschen davor bewahrt zu haben. Ich kann mir nichts Unverantwortlicheres vorstellen, als mit dieser Infektion herumzulaufen.« Er reichte ihr das Glas und streichelte dabei ihre Hand. Er hatte diese nette Angewohnheit, dieses spezielle Wissen, und das war wirklich das Beste an ihm: Er wusste immer intuitiv, wann es angebracht war, ihr eine Strähne aus dem Gesicht hinters Ohr zu streichen oder ihr den Nacken zu massieren. »Wie ansteckend ist das überhaupt? Es breitet sich aus wie Fußpilz, oder? So lange man sich also die Hände wäscht und nicht mit nackten Füßen durchs Fitnessstudio tapst, dürfte doch keine Gefahr bestehen, hm? Hey. Hey. Du bist diesem toten Kerl doch nicht etwa zu nah gekommen?«

»Nein.« Harper machte sich nicht die Mühe, die Nase ins Glas zu stecken, um das Bouquet des Weins zu riechen, wie Jakob es ihr beigebracht hatte, damals, als sie dreiundzwanzig und frisch verliebt gewesen war und ganz bestimmt besoffener von ihm, als sie es jemals von Wein sein könnte. Sie leerte ihr Glas in zwei...