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Emily in Blair Water

Lucy Maud Montgomery

 

Verlag Loewe Verlag, 2016

ISBN 9783732009053 , 287 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

Erstes Kapitel


„Nie wieder heißes Wasser mit Milch und Zucker!“ hatte Emily Byrd Starr in ihr Tagebuch geschrieben, als sie von der High School in Shrewsbury nach New Moon zurückgekehrt war. Jetzt würde das Leben erst richtig anfangen!

Es war wie ein Symbol. Wenn Elizabeth Murray Emily nämlich erlaubte, von nun an echten Tee zu trinken, dann bedeutete das nichts anderes als die stillschweigende Anerkennung ihres Erwachsenseins. In den Augen anderer war Emily schon längst erwachsen, besonders für ihren Cousin Andrew Murray und ihren Freund Perry Miller, deren Heiratsanträge Emily abgewiesen hatte. Als Tante Elizabeth davon erfahren hatte, war ihr mit einem Mal klargeworden, daß sie Emily nicht länger zwingen konnte, „Kindertee“ zu trinken. Trotzdem machte sich Emily keine Hoffnungen, daß Tante Elizabeth so weit gehen würde, ihr jemals Seidenstrümpfe zu erlauben. Ein Seidenpetticoat mochte ja noch angehen; den sah man immerhin nicht, auch wenn es unter dem Rock verführerisch raschelte. Aber Seidenstrümpfe – nein, wie unmoralisch!

So kam es, daß Emily – ein Mädchen, das „schreibt“, wie die Leute untereinander tuschelten – von Tante Elizabeth und Tante Ruth als ihresgleichen auf New Moon akzeptiert wurde. Nichts hatte sich auf New Moon verändert, seit Emily vor sieben Jahren hierhergekommen war. Die Schnitzerei des Serviertisches warf immer noch denselben komischen Schatten auf genau dieselbe Stelle an der Wand, wo er ihr gleich am ersten Tag aufgefallen war. New Moon war ein altes Haus, das viel erlebt hatte und nun sehr ruhig und weise und ein wenig geheimnisvoll wirkte. Vielleicht auch ein wenig streng, aber doch sehr freundlich. Manche Leute aus Blair Water und aus Shrewsbury fanden, daß New Moon doch ein langweiliger Ort sei für ein junges Mädchen. Was konnte es hier schon anfangen? Wie konnte Emily nur so dumm sein und Miss Royals Angebot, in New York bei einer Zeitschrift anzufangen, ablehnen? Wie konnte sie sich nur so eine Chance entgehen lassen! Emily aber hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was sie tun wollte, und sie war ganz und gar nicht der Meinung, daß es ihr auf New Moon langweilig werden würde oder daß sie sich gar durch ihre Entscheidung, dort zu bleiben, den Weg nach oben verbaut hätte.

Emily war die geborene Geschichtenerzählerin. In früheren Zeiten hätte sie wohl mit ihrem Stamm im Kreis am Feuer gesessen und ihren Zuhörern spannende Geschichten erzählt. Aber da sie nun einmal viel später geboren worden war, mußte sie sich andere Methoden einfallen lassen, damit die Menschen auf das aufmerksam wurden, was sie zu sagen hatte.

Doch die Zutaten, die man braucht, um eine Geschichte zu erfinden, sind immer und überall die gleichen geblieben: Geburten, Todesfälle, Hochzeiten, Skandale – das ist es, was die Menschen überall auf der Welt am meisten interessiert.

Voller Optimismus machte sich Emily also daran, ihren Traum von Ruhm und Reichtum zu verwirklichen. Aber es war nicht nur das. Schreiben war für Emily Byrd Starr mehr als etwas, womit man Geld verdienen und Lorbeeren ernten kann. Schreiben war etwas, was sie tun mußte. Wenn ihr etwas in den Sinn kam – eine Idee, egal ob erfreulich oder unerfreulich –, dann quälte sie sich damit so lange herum, bis es von der Seele geschrieben war. Sie hatte ein Gespür für Humor und Ernst. Die komischen und die tragischen Seiten des Lebens fesselten sie so sehr, daß sie ihren Empfindungen unbedingt mittels ihrer Feder Ausdruck verschaffen mußte. Die Welt war voller verlorener, aber unsterblicher Träume. Nur ein dünner Vorhang trennte sie von der Wirklichkeit. Sie wollten entdeckt und gedeutet werden und riefen nach ihr, mit einer Stimme, der sie einfach gehorchen mußte.

Emily war voller jugendlicher Lebensfreude. Das Leben war verlockend und winkte sie immer und immer weiter. Emily wußte, daß ihr ein harter Kampf bevorstand. Sie wußte, daß sie die Nachbarn von Blair Water immer wieder vor den Kopf stoßen würde, wenn sie für einen von ihnen zum Beispiel einen Nachruf schreiben sollte oder wenn sie beim Schreiben ein ungewöhnliches Wort gebrauchte. Immer muß sie so großspurig daherreden, würde es dann wieder heißen. Sie wußte, daß es weiterhin Absagen hageln würde. Sie wußte, daß es Tage geben würde, an denen sie sich verzweifelt einredete, sie sei absolut unfähig zu schreiben. Tage, an denen sie die Absagen mit ihren abgedroschenen Phrasen einfach nicht mehr sehen konnte und vor Wut am liebsten die Wohnzimmeruhr mit ihrem höhnischen, erbarmungslosen Ticktack aus dem Fenster schleudern würde. Tage, an denen alles schiefging und sie mit nichts zufrieden war. Tage, an denen sie an ihrer Überzeugung zweifeln würde, daß in der Poesie genausoviel Wahrheit lag wie in der Wirklichkeit. Tage, an denen das beiläufige Wort, nach dem sie so begierig lauschte, wie ein spöttisches Echo an ihr Ohr drang, ohne je wirklich erreichbar zu sein.

Sie wußte, daß Tante Elizabeth ihre Schreibsucht zwar duldete, sie aber keineswegs billigte. Doch Emily hatte immerhin in den zwei Jahren, während sie die High School in Shrewsbury besuchte, mit ihren Gedichten und Geschichten Geld verdient. Tante Elizabeth hatte es kaum fassen können – daher also wohl ihre Nachsicht. Trotzdem gehörte es sich nicht für eine Murray! Niemand in der Familie hatte je geschrieben! Außerdem hatte die ehrenwerte Elizabeth Murray immer das ungute Gefühl, als würde sie dabei von irgend etwas ausgeschlossen. Ja, sie nahm es Emily in der Tat übel, daß sie außer auf New Moon und in Blair Water auch noch in einer anderen Welt lebte, in einem funkelnden, unermeßlichen Königreich, in das sie jederzeit eintreten und wohin ihr keine Tante der Welt folgen konnte. Hätte Emily nicht so oft den Eindruck erweckt, als sähe sie etwas Wunderschönes und Geheimnisvolles vor Augen, wer weiß, vielleicht hätte Tante Elizabeth dann etwas mehr Verständnis für sie aufbringen können. Aber niemand läßt sich gern aussperren, schon gar nicht die selbstgefälligen Murrays von New Moon.

Diejenigen Leser, die Emily schon in den Jahren auf New Moon und in Shrewsbury begleitet haben, wissen wohl, wie sie ausgesehen hat. Für diejenigen, die Emily noch nicht kennengelernt haben, möchte ich sie beschreiben, wie sie im blühenden Alter von siebzehn Jahren aussah, während sie an einem goldenen Herbsttag durch den alten Garten von New Moon spazierte. Dieser Garten war eine Stätte des Friedens. Ein bezaubernder Garten mit den prächtigsten Farben und wunderschönen geheimnisvollen Schatten. Er war erfüllt vom Duft der Fichten und Rosen; Bienen summten, der Wind sang sein Klagelied, das Meer rauschte in der Ferne, und im Norden hörte man immer das leise Seufzen der Tannen in Lofty John Sullivans Busch. Emily liebte jede Blume, jeden Schatten und jede Stimme in diesem Garten und jeden dieser schönen alten Bäume. Ganz besonders die wilden Kirschbäume hinten in der Ecke, die drei Pyramidenpappeln, die sie „die drei Prinzessinnen“ nannte, den wilden, mädchenhaften Pflaumenbaum am Bach, die große Fichte in der Mitte des Gartens, einen Silberahorn und eine Pinie weiter draußen, eine Zitterpappel in einer anderen Ecke, die immer mit dem Wind flirtete, und die weißen Birken in Lofty Johns Busch, die würdevoll in einer Reihe standen.

Emily war glücklich, an einem Ort zu wohnen, wo es so viele Bäume gab, uralte Bäume, gepflanzt und gepflegt von Händen, die längst tot waren, untrennbar verknüpft mit den Freuden und Leiden der Menschen, die sich in ihrem Schatten aufgehalten hatten.

Emily war ein schlankes junges Mädchen. Ihr Haar schimmerte wie schwarze Seide. Ihre Augen waren grau, und die Schatten unter ihren Augen waren besonders dunkel und reizvoll, wenn sie zu verbotener Stunde noch wach war, um eine Geschichte zu Ende zu schreiben oder den Grundriß für eine neue Handlung auszuarbeiten. Sie hatte einen scharlachroten Mund mit den typischen Murray-Fältchen in den Mundwinkeln; und sie hatte spitze, koboldhafte Ohren. Vielleicht waren die Mundfältchen und die spitzen Ohren schuld daran, daß manche Leute fanden, sie hätte etwas von einer Katze. Ihr Kinn und ihr Nacken waren fein geformt; und sie hatte ein ganz verblüffendes Lächeln, das langsam immer breiter wurde, bis es in einem Strahlen endete.

Ihre Knöchel gefielen ganz besonders der klatschsüchtigen alten Tante Nancy Priest, die sie überall anpries. Ihre Wangen waren rosig, nur manchmal verfärbten sie sich plötzlich tiefrot. Es brauchte nicht viel, um Emily zum Erröten zu bringen. Es genügte schon der Wind draußen auf dem Meer, das leuchtende Blau des Himmels, eine feuerrote Mohnblume, weiße Segel, die im strahlenden Morgenlicht den Hafen verließen, das Meer im silbernen Schein des Mondes, eine leuchtend blaue Akelei im alten Obstgarten. Oder ein ganz bestimmtes Pfeifen aus Lofty Johns Busch.

Und sonst – war Emily eigentlich hübsch? Ich kann es nicht sagen. Emily wurde jedenfalls nie erwähnt, wenn von den Schönheiten von Blair Water die Rede war. Doch wer je ihr Gesicht gesehen hatte, der vergaß es nie wieder. Es kam nie vor, daß jemand, dem Emily zum zweiten Mal begegnete, in Verlegenheit kam und sagte: „Hm, irgendwie kommen Sie mir bekannt vor, aber …“

Unter Emilys Vorfahren hatte es viele reizende Frauen gegeben. Alle hatten ihr etwas von ihrer Persönlichkeit mitgegeben. Sie war wie ein sprudelnder Wasserfall. Ein Gedanke konnte sie bewegen wie heftiger Wind, ein Gefühl sie überwältigen wie ein Sturm. Sie gehörte zu jenen temperamentvollen Menschen, von denen man sich, auch wenn sie gestorben sind, nicht vorstellen kann, daß sie wirklich tot sind. Sie sprühte vor Leidenschaft – ganz im Gegensatz zu ihrer praktisch und vernünftig denkenden Sippschaft....