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Gepäckschein 666

Alfred Weidenmann

 

Verlag Loewe Verlag, 2017

ISBN 9783732010172 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR


 

Einem Bankdirektor vergeht das Lachen

»Schuhe putzen gefällig?«, fragte Peter Pfannroth höflich, als ein ziemlich dicker Mann in einem Regenmantel auf ihn zukam.

»Was denn sonst? Wenn ich Hustensaft will, geh ich in die Apotheke«, brummte der Dicke und setzte sich umständlich in einen der beiden Drehstühle, der noch frei war.

»Dass du mir mit deiner verdammten Schuhcreme nicht auf meine Socken kommst!« Der Dicke stellte jetzt seine Füße wie zwei Handkoffer vor sich auf den Schemel und zündete sich eine Zigarre an.

»Gestatten Sie, dass ich Ihre Hosenbeine hochkremple?«

Der Dicke gab keinen Ton von sich. Er hüllte sich in dichte Rauchwolken und sah zu dem freien Platz hinüber, der vor dem Bahnhof lag.

»Danke schön«, sagte Peter trotzdem und schlug die Hosenenden nach oben. Dabei sah er neben sich zu einem zweiten Jungen. Dieser zweite Junge hatte strohblonde Locken, war dünn wie ein Brett und hieß Emil Schlotterbeck. Er polierte gerade die Schuhe eines Taxichauffeurs.

»Natürlich wieder eine Baustelle! Als ob wir nicht schon genug davon hätten! In dieser Stadt fällt man ohnehin nur noch von einem Loch ins andere. Lauter Baustellen!« Der Dicke kaute grimmig an seiner Zigarre, paffte den Rauch aus wie eine alte Dampflokomotive und sah immer noch zum Bahnhofsplatz hinüber.

Tatsächlich waren dort zwei große Lastwagen angefahren, direkt vor dem Eingang der U-Bahn und gegenüber dem neuen Gebäude der Internationalen Handels- und Creditbank.

Vorerst wurden allerdings nur eine Menge Bretter und Holzplatten abgeladen.

»Jetzt dauert’s nicht mehr lange, und sie reißen die alten Pflastersteine raus, als ob’s Unkraut wäre«, brummte der Dicke.

»Vielleicht ist’s aber auch nur Brennholz für die Handels- und Creditbank«, wagte Emil einzuwerfen. Sein Taxichauffeur, den er gerade fertig bedient hatte, war in seinem Drehstuhl eingeschlafen. Vermutlich hatte er Nachtdienst gehabt. »Von wegen Brennholz. Mach doch die Augen auf!« Der Dicke zeigte mit seiner Zigarre zu den beiden Lastwagen hinüber.

Und dort wuchsen jetzt wirklich schon regelrechte Gerüste in die Luft. Gerüste wie kleine Türme.

»Sie haben recht«, gab Emil zu. »Es handelt sich wohl doch um eine Baustelle.«

»Ich hab so ziemlich immer recht«, sagte der kleine Dicke kurz und zog an seiner Zigarre. Dabei sah er jetzt auf seine Schuhe und sein Gesicht wurde immer freundlicher dabei.

»Nicht schlecht«, lobte er, »die glänzen wie neu.«

»Dabei kriegen sie erst noch den letzten Schliff!«, stellte Emil fest. Er hatte sich gemütlich zurückgelehnt, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und sah zu, wie Peter jetzt Schwung holte. Ein paarmal ging es blitzschnell über die linke, dann über die rechte Schuhspitze. Und dann kam es zum Schluss und als Höhepunkt sozusagen: Das Poliertuch flog in die Luft, schlug einen regelrechten Salto und landete mit einem deutlichen Knall wieder in Peters Händen.

»Das war’s, mein Herr«, Peter grinste und verneigte sich.

»Wirklich – nicht schlecht – vor allem der Knall am Schluss. Was habe ich zu bezahlen?«

»Einen Groschen pro Schuh. Macht zwanzig Pfennige«, sagte Peter.

»Und für den Knall einen Groschen dazu, macht dreißig«, lachte der Dicke jetzt und zahlte.

»Es freut uns sehr, dass Sie zufrieden sind«, bedankte sich Peter.

»Beehren Sie uns bald wieder!«, fügte Emil Schlotterbeck hinzu.

»Aha, die Herren sind Kompagnons?«, fragte der Dicke und knöpfte an seinem Regenmantel.

»Sehr richtig. Und das hier ist unsere gemeinsame Kasse, wenn’s beliebt«, grinste Peter und warf die drei Groschen in eine Zigarrenkiste. »Uruguay Brasil« stand in Goldbuchstaben auf ihrem Deckel.

»Na, dann wünsche ich gute Geschäfte«, meinte der Dicke noch, dann tauchte er im Menschenknäuel der Bahnhofstraße unter.

»Ob ich ihn nicht doch wecke?«, fragte Emil und sah zu seinem schlafenden Taxichauffeur. »Vielleicht versäumt er was …«

»Lass ihm noch zehn Minuten«, schlug Peter vor und holte eine Rolle Orangenbonbons aus der Tasche. »Willst du?«

Emil bediente sich.

Jetzt standen die beiden, ihre Orangenbonbons lutschend, an die zwei Steinsäulen gelehnt, zwischen denen sie ihre Drehstühle platziert hatten. Das war gleich links am Eingang der Bahnhofshalle, einen halben Meter über dem Bürgersteig auf einem breiten Treppenabsatz.

Es gab genau fünfundzwanzig Schuhputzerjungen in der Stadt, weil es genau fünfundzwanzig Ecken gab, an denen gearbeitet werden durfte.

Damit es keinen Streit gab, hatten sich die fünfundzwanzig regelrecht organisiert. Neuaufnahmen gab es nur, wenn einer der Jungen eine Lehrstelle antrat oder aus irgendeinem anderen Grunde ausschied. Das war dann auch die einzige Möglichkeit, um einen weniger günstig gelegenen Arbeitsplatz gegen einen besseren einzutauschen. Denn ein Neuer musste sich natürlich erst mal mit der schlechtesten Ecke zufriedengeben.

Das Revier am Hauptbahnhof war natürlich das beste, schon weil dieser Hauptbahnhof mitten im Zentrum der Stadt lag. Aber schließlich war Peter Pfannroth ja auch der Chef der Jungen und Emil Schlotterbeck sein Stellvertreter.

Auf dem Bahnhofsplatz fuhr jetzt ein dritter Lastwagen vor. Ein paar Männer machten sich sofort an der Laderampe zu schaffen und turnten dann hoch. Sie schienen es höchst eilig zu haben.

»Aber mit Baustelle hat das nichts zu tun«, überlegte Emil Schlotterbeck.

»Ganz deiner Meinung, Sheriff. Noch ’nen Orangenbonbon?«

Emil griff zu, ohne seinen Blick von dem neuen Lastwagen zu lassen.

»Mal abwarten, was sie ausladen«, sagte Emil. Unter den Jungen hieß er Sheriff, so, wie Peter ihn gerade genannt hatte. Das kam von Emils Begeisterung für Wildwestfilme.

Allerdings musste der Held dieser Filme immer ein Sheriff sein. Ein Mordskerl, vor dem die gefährlichsten Gangster schon türmten, wenn nur sein Schatten um irgendeine Ecke bog. »Du, das sind Scheinwerfer«, sagte Peter.

»Sieht so aus«, bestätigte der Sheriff.

Tatsächlich wurden drüben aus dem neuen Lastwagen jetzt sehr vorsichtig riesige schwarz lackierte Leuchten ausgeladen und auf dem Boden abgestellt.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte in diesem Augenblick eine Stimme. Die Stimme gehörte Herrn Schimmelpfeng, der nebenan in der Bahnhofshalle das kleine Blumengeschäft hatte. Er war Junggeselle, kam jeden Morgen so um die gleiche Zeit und las, während ihm die Schuhe geputzt wurden, immer die Sportseite vom 8-Uhr-Blatt.

Aber heute musste Herr Schimmelpfeng zuerst eine Neuigkeit loswerden. »Interessiert euch wohl auch, was das da drüben zu bedeuten hat?«

Er nahm grinsend Platz und Peter krempelte ihm sorgfältig die Enden seiner Hosenbeine hoch.

»Wenn Sie es nicht wissen, weiß es niemand«, sagte Emil und kam einen Schritt näher. Der Sheriff wusste ganz genau, wie empfänglich Herr Schimmelpfeng für Schmeicheleien war. Der Blumenhändler ging auch prompt darauf ein. Er machte allerdings noch eine eindrucksvolle Pause, holte tief Luft, aber dann sprudelte er los: »Es soll gefilmt werden! Einer von den Leuten, die drüben die Lastwagen abladen, hat es vorhin am Kiosk erzählt, als er sich eine Packung Zigaretten holte.«

So, das war’s. Herr Schimmelpfeng lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück und sah die Jungen an, als habe er gerade einen doppelten Salto geschlagen.

Drüben auf dem Bahnhofsplatz hielt in diesem Augenblick ein geschlossener Lieferwagen. Er war rundum himmelblau lackiert. Auf seinen Seiten stand in zitronengelber Schrift »Global-Film«.

Peter und der Sheriff waren sprachlos, zumindest für einen Augenblick. Natürlich ließen sie jetzt kein Auge mehr von den Filmleuten drüben. Dort war man gerade dabei, die ausgeladenen Scheinwerfer an dicken Tauen auf die Holzgerüste zu heben.

»Und – und um was geht es?« Peter hatte sich zuerst wieder gefasst.

»Vermutlich handelt es sich um einen Kriminalfilm. Man will einen Banküberfall drehen. Drüben vor der Internationalen Handels- und Creditbank. So etwas Ähnliches will wenigstens der Würstchenverkäufer gehört haben. Wenn es so weit ist, komme ich mal rüber. Von hier aus übersieht man das Ganze ja wie vom besten Tribünenplatz aus.«

»Tribüne« war vermutlich so etwas wie ein Stichwort für Herrn Schimmelpfeng. Er erinnerte sich an die Sportseite vom 8-Uhr-Blatt und fing auch schon an zu lesen. Was er an Neuigkeiten zu vermelden hatte, war ja ohnehin gesagt.

»Natürlich der Schiedsrichter –«, brummte es schon nach zwei, drei Minuten hinter Herrn Schimmelpfengs Zeitung, »jetzt soll ausgerechnet der Schiedsrichter schuld gewesen sein. So ein Unsinn! Aber die Zeitungsschreiber haben ja von Tuten und Blasen keine Ahnung!«

Peter und Emil grinsten sich an und wiederholten im Chor: »Von Tuten und Blasen keine Ahnung! Sehr richtig, Herr Schimmelpfeng!«

Dabei wachte der Taxichauffeur auf. Er blinzelte kurz nach links und rechts, nach oben und unten, dann zahlte er sehr schnell seine zwei Groschen und rannte los, ohne ein Wort zu sagen.

Herr Schimmelpfeng war beim Bericht über die gestrige Boxmeisterschaft im Schwergewicht angelangt, als Peter mit seinem Poliertuch knallte.

»Der Tiefschlag in der sechsten Runde setzt dem Fass die Krone auf!«, schimpfte Herr Schimmelpfeng noch und ging mit blitzblanken Schuhen zu seinen Hyazinthen und Maiglöckchen zurück.

Die nächste halbe Stunde war ziemlich ruhig.

Kurz vor zehn Uhr kamen zwei japanische Matrosen. Sie sprachen kein Wort Deutsch und streckten nur grinsend ihre Füße von sich, als sie...