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Auf der Jagd (eBook)

Tom Bouman

 

Verlag ars vivendi, 2017

ISBN 9783869137469 , 380 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

14,99 EUR


 

 

IN DER NACHT, bevor wir die Leiche fanden, konnte ich nicht schlafen. Wir hatten Mitte März und Tauwetter. Der Schnee, der seit Januar alles bedeckte, lockerte endlich seinen Griff, füllte Gräben und Bäche, tropfte von den Vorsprüngen meines Daches und strömte als Schmelzwasser aus meinen Regenrinnen. Am Horizont, drei Bergkämme weiter im Südwesten, fackelte ein Frackingteam Erdgas aus einem Bohrloch ab. Barfuß zitterte ich auf meiner Veranda mit einer Tasse Kaffee und betrachtete die Wolken, wie sie blutergussviolett im Schein des Feuerballs unter ihnen flimmerten. Das von mir gemietete alte Bauernhaus war im Lauf der Jahre unbehindert immer weiter mit dem Berghang verwachsen. Dann traf eines Tages die Prozession riesiger Maschinen ein, um Bäume auszureißen und sie von ihren Wipfeln und Wurzeln zu befreien, um Zugangsstraßen anzulegen, Gerätschaften herbeizuschaffen und zu bohren. Verglichen mit der Geländerodung für einen Bohrplatz gingen die eigentliche Bohrung und das Fracking beinahe leise vonstatten. Ich könnte fast sagen, dass es sich wie ein starker Wind anhörte, der durch die Kiefern fuhr, wären da nicht die Stopp-und-Start-Geräusche und das Jaulen der Maschinen gewesen, die mit der Erde rangen, nicht das Glühen am nächtlichen Horizont und die Tanklaster, die unsere Schotterpisten hinauf- und herunterrumpelten, welche man eigens verbreitert hatte, damit sie aneinander vorbeifahren konnten, nicht die vielen Scheinwerfer und Rücklichter, die sich über die winterlichen Berge zogen wie Weihnachtsdekorationen.

Um vier Uhr akzeptierte ich, dass ich keinen Schlaf mehr finden würde. Und als der Tag anbrach, als die Sonne magentarot im Osten aufging, war ich erleichtert.

Gegen sieben aß ich tiefgekühlte Waffeln mit Erdnussbutter, entwirrte den Haarfilz in meinem Bart, zog die Uniform an und machte mich auf zu meiner Dienststelle. Von der Gemeinde war ich in den Garagenbau mit den Schneepflügen, Feuerwehrautos und anderen Fahrzeugen einquartiert worden, bei den Kies- und Sandpyramiden gegenüber dem Festplatz, in einem ruhigen Tal aus der schwindenden Anzahl ruhiger Täler im Nordwesten von Pennsylvania. Die Garage ist ein Ytongbau auf einem geschotterten Grundstück, weiß gestrichen und mit akkuraten schwarzen Buchstaben beschriftet: GEMEINDE WILD THYME FREIW. FEUERWEHR.

Die Polizeiwache ist durch eine Trockenmauer von der Garage abgetrennt; man kann hören, wie die Mechaniker und Straßenarbeiter arbeiten und auch alles, was sie sagen. Mein Dienstzimmer war standardmäßig mit einer Gastronomiekaffeemaschine ausgestattet, doch war mein Vorgänger offenbar der Kanne mit dem braunen Schnabel verlustig gegangen und hatte mir nur die mit dem orangenen hinterlassen, die für koffeinfreien Kaffee bestimmt war und mir das deprimierende Gefühl vermittelte, fortwährend koffeinfreien Kaffee zu trinken, weshalb ich aus eigener Tasche das ganze Ding durch eine neue, vollkommen schwarze Kaffeemaschine ersetzte. Zum Inventar gehörte auch eine Hängedecke, die irgendjemand vor langer Zeit im Dienstzimmer installiert hatte, aber ich mochte nicht dauernd auf die unzähligen kleinen Löcher und braunen Flecken darin schauen. Also habe ich die Platten einzeln herausgebrochen, Rahmen und Gestänge abgeschraubt und zerlegt. Irgendwo liegt das Zeug noch herum, falls jemand es wieder anbringen möchte. Bis das geschieht, möchte ich mir lieber betrachten, wie alles zusammengehalten wird und funktioniert, die nackten Konstruktionselemente, alles unverstellt und aufs Wesentliche reduziert, angefangen bei meinem blechverkleideten Schreibtisch bis hinauf zu den Leitungsrohren und der Klimaanlage unter der Decke. Es gibt ein gerahmtes Porträtfoto des Gouverneurs an der Wand, eine Landkarte, ein Schwarzes Brett und eine Kerze mit Vanilleduft auf dem Klo, die nie angezündet wird.

Als ich an jenem Morgen ins Dienstzimmer kam, hatte mein Stellvertreter George Ellis den Kopf auf seinem Schreibtisch liegen, das Gesicht in den Armen versenkt; er blickte nicht auf, als ich eintrat. Ein Scanner war auf niedrigster Stufe eingeschaltet, und die Luft war zum Schneiden. Ich legte die Füße hoch und betrachtete zwei gefaxte Fahndungsfotos – dieselben traurigen Gestalten wie in der Vorwoche – und die Seite mit den noch offenen Haftbefehlen, von denen einige bis 1980 zurückdatierten.

Ich wimmelte Alexander Grace, den Inhaber von Grace Tractor Sales and Rental, am Telefon ab. Einer seiner Kompaktlader war vor mehreren Wochen vom Firmengelände gestohlen worden, und seitdem rief er mich täglich an, zunehmend wütend wegen meines Mangels an Ermittlungsfortschritten. Ich sagte ihm nicht, dass wir bei einem Diebstahl dieser Art eine Wiederbeschaffungschance von etwa zwanzig Prozent hatten. In der Vorwoche hatte er, ohne mich zu konsultieren, im örtlichen Gutscheinblättchen eine Annonce aufgegeben, worin er – »keine Nachfragen« – $2.500 Belohnung für Informationen bot, die zur Wiederbeschaffung des Kompaktladers führten. »Wollen wir doch mal sehen, was ich auf eigene Faust zuwege bringe«, sagte er. Ich ersuchte ihn, keinen Unsinn zu machen und mich anzurufen, falls sich Interessenten meldeten.

Wie des Öfteren kam John Kozlowski auf einen Besuch vorbei. Der Gemeindeschlosser war ein Zechgenosse von George, ein Bruder Leichtfuß mit einem Gesicht voller geplatzter Äderchen. Er lehnte es ab, Platz zu nehmen, führte seinen ölverschmierten Overall zur Begründung an und setzte uns über eine Vielfalt von Angelegenheiten ins Bild, auch über das Cottage, das er sich gerade am Walker Lake baute, und erzählte uns außerdem von den Jetskis, die er gerade für sich und seine Frau gekauft hatte. Weil der Walker Lake ein recht kleiner See ist, fragte ich, wo er denn mit einem solchen Gefährt hinzufahren plane, woraufhin er etwas Unfreundliches über meine Mutter sagte und wir in diesem Stil noch ein wenig weitermachten.

In jenen Frühzeiten des Booms äußerte man sich nur sehr zurückhaltend über »Gasgeld«. Die Menschen sagten nie geradeheraus, wie teuer sie sich ihre Unterschrift hatten bezahlen lassen, aber ihre Cottages und neuen Trucks sprachen für sich. Am Anfang verpachteten einige Grundbesitzer die Nutzungsrechte zu Niedrigpreisen von teilweise gerade einmal fünfundzwanzig Dollar pro Morgen Land. Als dann die Regierung von Pennsylvania verriet, wie viel Gas tatsächlich im Boden unter uns lagern könnte, war der gängige Preis eher bei viertausend Dollar pro Morgen. Die Menschen stürzten sich auf die unerwarteten Profite, doch fielen diese in unterschiedlichen Größenordnungen aus, wieder abhängig davon, wie frühzeitig sie bei dem Spiel gezeichnet hatten und wie viel Land sie besaßen. Nachbarn blieben sich zwar nachbarlich verbunden, hielten aber ein wachsames Auge auf ihre Grundstücksgrenzen.

Als John gegangen war, verbrachten wir die Zeit schweigend, bis das Telefon klingelte. George hob den Kopf und funkelte es zornig an, aber es klingelte weiter. Er verfluchte es und hob ab. Nach einigen kurzen Worten seinerseits legte er auf und wandte sich an mich. »Dr. Brennan von der Ambulanz unten. Sie holt schon den ganzen Morgen Schrotkörner aus Danny Stiobhards Seite und meint, wir sollten das wissen.«

»In Ordnung.« Ich sah George an, wie um zu fragen, worauf er wartete. Er kratzte sich die weiße Haut unter seinem Bart.

»Hör zu, Henry«, sagte er. »Danny und ich haben uns letzte Woche gestritten. In der Kneipe.«

»Aha.«

»Ich würde das ja gern übernehmen, aber …«, sagte er zerknirscht.

»… es wäre taktisch unklug, dich zu schicken«, sagte ich.

»Genau das wäre es.«

»Weißt du, was«, sagte ich und sah ihm in die blutunterlaufenen Augen, »solche Schlägereien bringen nichts, George.«

»Ich weiß.«

Ich machte ihm keinen Vorwurf, jedenfalls keinen ernsthaften. Zwischen ihm und Danny Stiobhard gab es eine lange Vorgeschichte, und dass er die Stelle als mein Deputy angenommen hatte, machte die Sache nicht einfacher. Aus Gründen, die ich noch erläutern werde, wollte ich selbst den Gang nur ungern machen. Ich setzte meinen Hut auf und zog meine Jacke an, nahm die .40er samt Holster und Gürtel aus dem Spind, stieg in meinen Truck und fuhr zur Stadt.

Geografie und Kultur trennen die Gemeinde Wild Thyme und die Stadt Fitzmorris, den Sitz des Verwaltungsbezirks von Holebrook County, Pennsylvania. Fitzmorris entstand Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Sommerkolonie schottischer Presbyterianer aus Philadelphia. Es weist einige hübsche Bauten im griechisch-klassizistischen Stil auf, große weiße Häuser mit Säulen, größer, als es ihnen eigentlich zustünde. Die meisten haben schwarze Tür- und Fenstereinfassungen, aber bei jedem zehnten Haus hatte ein lebenslustiger Eigentümer die Idee, die seinigen türkis oder blauviolett oder in allen Farben des Regenbogens zu streichen. Ich kann mir nicht helfen, mir gefällt das.

Die Gemeinde erstreckt sich über eine ländliche Region nördlich von Fitzmorris. Nach dem Bürgerkrieg vergab der Staat einige Parzellen harten, undurchlässigen Bodens in den umliegenden Bergen an die »Fenier«, Mitglieder eines irischen Geheimbundes, die aufseiten der Unionisten gekämpft hatten, und diese Fenier forderten wiederum weitere ihrer Freunde und Familien auf, in die Vereinigten Staaten überzusetzen; so landeten meine Vorfahren, die Fearghails, in der Gemeinde Wild Thyme und kämpften im 50. Pennsylvania Regiment. Wir blieben die Fearghails, bis mein Großvater in einer Aufwallung von Zweitem-Weltkrieg-Amerikanismus die Schreibung in »Farrell« änderte, und schon war’s geschehen.

Danny Stiobhards Abstammungslinie ähnelt der meinen. Unsere Väter pflegten...