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Zuckersand - Roman

Jochen Schmidt

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN 9783406705106 , 206 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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1. KAPITEL


Klara schrieb mir aus dem Büro, daß ich nicht vergessen sollte, Karl die Zähne zu putzen, wir würden es sonst irgendwann bereuen, und ich antwortete ihr, daß er seit einer halben Stunde «An-Aus» spielte, nachdem er minutenlang versucht hatte, mit einem Glasöffner ein Glas Obstmus aufzuschrauben, während ich ihn überzeugen wollte, sich von mir anziehen zu lassen, und daß wir sie ja nach der Arbeit von der Bahn abholen könnten. Ich steckte das Handy wieder in die Tasche, Karl hatte es nicht gesehen, weil er sich einen Stuhl an die Spüle geschoben hatte und ganz darin versunken war, den Wasserhahn zu öffnen und zu schließen und sich immer wieder die Hände einzuseifen. Ich überlegte, wann ein guter Moment wäre, ihn mit der Zahnbürste zu behelligen, deren Griff die Gestalt eines grinsenden Bibers hatte und die mit einem Saugnapf an glatten Oberflächen haftete wie ein mit Spucke befeuchteter Gummipfeil. Klara hatte schon Karls ersten Zahn sorgfältig wie eine Kühlerfigur mit einem Mundpflege-Fingerling poliert, was immer langes Zureden bedeutete, weil er den Mund nicht öffnen wollte (ich konnte, wenn sie es endlich geschafft hatte, natürlich nicht anders, als «Der Mund ist aufgegangen!» zu singen).

Der Zahn hatte eines Nachts das Zahnfleisch durchstoßen wie eine Spargelspitze den Boden. Klara war wehmütig über diese große Veränderung gewesen, und ich war neidisch darauf, daß man den Zahn von allen Seiten betasten konnte, so ein einzelner Zahn hätte mich zu stundenlangen Erkundungen verlockt. Wenn ich einen Milchzahn, nachdem ich seine charakteristische Oberfläche jahrelang mit der neugierigen Zunge abgefahren war und mit den Fingern befühlt hatte, zum erstenmal in der Hand hielt und mit meiner Zungenerinnerung verglich, war ich immer enttäuscht, ich hatte ihn mir viel größer vorgestellt, die Augen sahen nicht das, was ich von ihm wußte. Als Schüler hatte ich auf Kindergeburtstagen die Gelegenheit genutzt, mir von meinen Mitschülern Zähne zu klauen, die jeder in irgendwelchen Döschen und Schachteln aufhob, um mir zu Hause mit Knete ein Klassengebiß daraus zu basteln. Es war ein Objekt in meiner Wunderkammer, von dem ich Klara noch nichts erzählt hatte, mir war ja bewußt, wie schnell sie sich ekelte.

Ich wagte nicht, Karl anzusprechen, weil er sicher unwillig reagiert hätte, denn er würde natürlich ahnen, daß ich ihn von der Seifenflasche und vom Wasserhahn weglocken wollte, und ich konnte ihn gut verstehen. Ich erinnere mich, eine Zeitlang in Restaurants und auf öffentlichen Toiletten Seifenspender fotografiert zu haben, weil es mich fasziniert hatte, was für unterschiedliche Mechanismen für das Portionieren der Seife in Umlauf waren. Warum wurde den Menschen beim Händewaschen so viel Flexibilität abverlangt? Es würde ja niemand ein Restaurant oder ein Bahnhofsklo in Zukunft meiden, weil ihn der Seifenspender nicht zufriedengestellt hatte. Es gab sogar manchmal noch Seifenspender in Gestalt einer schweren Porzellankugel, die man wie einen Globus einmal um die Achse drehen mußte, damit die Seife heraustropfte, ich machte das nur, um zu prüfen, ob sie noch jemand nachfüllte, vielleicht ein älterer Mann, dessen Schützlinge immer seltener wurden und der für seine Aufgabe keinen geeigneten Nachfolger mehr fand. Ich freue mich immer über Modelle, bei denen der Kontakt über einen Sensor hergestellt und schwereloser Schaum in die geöffnete Hand gespritzt wird, obwohl es mich kränkt, wenn Sensoren ausgerechnet auf mich nicht reagieren. Es ist keine Schlagsahne, aber es fühlt sich genauso luftig und luxuriös an.

Daß Schaum aus kleinen Blasen besteht, habe ich eines Tages beim Baden mit einer Lupe nachgeprüft, es war so überraschend wie die Tatsache, daß Sand nichts anderes ist als unzählige für uns sehr winzige Steine oder daß man, wenn man nicht vorsichtig auftritt, durch die dünne Erdkruste bricht, auf der wir uns bewegen, und in heiße Flüssigkeit eintaucht, die unseren Planeten füllt wie die süße Masse einen nimm2-Bonbon. Solches Wissen brachte einem bei Gleichaltrigen nur Unglauben und Ablehnung ein. Ich mußte Karl diese Dinge natürlich selbst herausfinden lassen, denn was wir gezeigt bekommen, können wir nicht mehr selbst entdecken (eines Tages wird er von ganz allein eine heiße Scheibe Toastbrot durch die Küche zum Tisch transportieren, indem er sie immer wieder hochwirft).

Mein Vater wusch sich, wenn er von der Arbeit im Archiv nach Hause kam, immer als erstes gründlich die Hände, und im Waschbecken sammelte sich eine trübe Erwachsenenlauge und verschwand gurgelnd durch dieses Tor zur Außenwelt, das ich als Kind, wenn ich die Wohnung einmal für mich hatte, vorsichtshalber mit einem Stöpsel verschloß, auf den ich zur Sicherheit auch noch den kleinen, hellblauen Amboß oder einen mit Wasser gefüllten Topf stellte. Mit welcher Gewalt die Mächte da draußen an uns zerrten, merkte man ja, wenn man den Badewannenausguß mit dem Po verstöpselte.

Als ich sah, wie Karl die Seife aus dem Spender in seine linke Hand tropfen ließ, fiel mir ein, daß wir früher immer ein Metallstück in Form eines Flaschendeckels in das frische Seifenstück gedrückt hatten, so daß es an einem Magnethalter festgeklickt werden konnte. («Physik im Dienst der Hygiene: Immer trockene Seife!») Ich habe manchmal versucht, die Seife auf eine so vorsichtige Art ihrem praktischen Parkplatz zu nähern, daß sie, gleich stark angezogen von der Schwerkraft der Erde und vom Magnetfeld des Seifenhalters, über der Handfläche in der Schwebe blieb, aber der genaue Punkt war nicht zu treffen, die Schwerkraft gab jedesmal schlagartig nach, und die Seife klatschte ans Metall. Während ich dieses Experiment durchführte, donnerte das Wasser durch den Hahn in die Badewanne, der, ein genialer Einfall der Konstrukteure, besonders lang war und sich zwischen Waschbecken und Wanne hin- und herschwenken ließ. Der Druck des Wasserstrahls riß ihn nach oben wie der Zügel den Pferdehals.

Wenn Karl sich einen Stuhl an die Spüle schiebt, um mit dem Wasser zu spielen, darf er nicht gestört werden. (Klara erkennt darin seine Sehnsucht nach der Zeit in der Fruchtblase.) Damit er nicht fällt, setze ich mich hinter ihm auf die Stuhlkante und warte, ob ihm irgendwann die Lust vergeht. Wenn man ihm die Hände wäscht und ihn nicht selbst die Seife aus dem Spender drücken läßt, protestiert er panisch, weil er sich um ein Vergnügen betrogen fühlt. Die Hubkolbenpumpe ist aber auch zu verlockend, so etwas kannte ich als Kind noch gar nicht, es gab weder private noch öffentliche Flüssigseife, man raspelte durch Drehen an einem Bakelitring von einem Quader Seifenstaub wie Parmesankäse (den ich ebenfalls nicht kannte).

Am ehesten könnte ich Karls Pumpvergnügen mit unserem Wasserzerstäuber für Zimmerpflanzen vergleichen («Ihre Blümchen haben Durst? Ein Fall für den sparsamen Wasserzerstäuber.»), der immerhin einen Hebel hatte und den ich im Sommer mit Granulatteegetränk füllte, um es mir beim Fernsehen als süße Wolke in den Mund zu spritzen. Exquisit und altmodisch wirkte dagegen das Parfümflakon mit roter Gummiblase in einer aus goldenen Fäden gehäkelten Hülle, das Prinzip ist mir wiederbegegnet, als ich mir ein Set zum Ohrenreinigen gekauft habe, denn durch die Schaumgummistöpsel, die ich benutze, verstopfen meine Ohren alle ein bis zwei Jahre, es nützt dann nichts, wie nach dem Schwimmen auf einem Bein zu hüpfen, um sie wieder freizubekommen, man bleibt tagelang auf einer Seite schwerhörig, es wäre weniger irritierend, wenn beide Seiten betroffen wären. Zur Behandlung lege ich mich seitlich aufs Bett, träufle mir mit einer Pipette die ohrenschmalzlösende Flüssigkeit in den Hörkanal und warte die vorgeschriebene Zeit ab, damit die Chemie wirken kann. Eines der modernen Tabus, wie Teflon mit Metall zu berühren, bei der Geschirrabgabe in der Kantine sein Besteck auf dem Teller liegenzulassen, die grüne Stelle der Tomate mitzuessen, ein Gerät aufzuschrauben, auf das es noch Garantie gibt, oder bunte Flaschen in den Container für Weißglas zu werfen, ist ja, sich die Ohren mit einer Q-tip-Wattehantel zu reinigen, auch wenn man das zur Sicherheit im Sitzen tut und sie, wie der Zuckerwattemann seinen Stab in die Zentrifuge hält und darauf wartet, daß ein Zuckerwattekokon daran wächst, ohne Berührung mit der Hörkanalwand im Hörkanal dreht, um vielleicht einen Schmutzkrümel zu binden, der Arzt würde auch das bemerken und monieren. Das letzte Mal habe ich meinen Ohrenschmalzklumpen nach der Reinigung nicht gezeigt bekommen, so lange hatte er mich behindert, und dann war er einfach weggeworfen worden, ohne daß ich erfuhr, wie er ausgesehen hatte! Ich beneide den Arzt darum, daß er mir ins...