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Die Jahre der Schwalben - Roman

Ulrike Renk

 

Verlag Aufbau Verlag, 2017

ISBN 9783841213693 , 544 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Kapitel 1


Fennhusen, Frühjahr 1930

Es regnete ohne Unterlass, aber es war ein milder Regen, der die Luft zu reinigen schien. Frederike wischte über die Scheibe und sah hinaus in die vertraute Umgebung. Die ersten Kirschblüten öffneten sich, nun da das Frühjahr endgültig den Winter verdrängt hatte.

»Wie jeht es Ihnen?«, fragte Hans leise. Der alte Kutscher war nicht mit dem Landauer zum Bahnhof gekommen, sondern mit dem Automobil.

»Ach Hans, für dich bin ich doch immer noch Freddy«, seufzte Frederike. »Das war schon immer so und wird auch so bleiben.«

Hans räusperte sich. »Nun ja, du bis awwer jetzt ’ne verheiratete Frau, Baronin von Stieglitz.«

»Ja.« Frederike senkte den Kopf. Seit neun Monaten war sie mit Ax verheiratet, und nun kehrte sie zum ersten Mal nach Fennhusen, auf das Gut ihrer Familie zurück. Ihre Gefühle waren gemischt. »Wie geht es allen?«

»Irmi und Gilusch machen sich prächtig. Und Klein Erik hat anjefangen zu reiten«, sagte Hans schmunzelnd. »Ali wird immer mehr zu ’nem Dickkopf. Mittem werden wir noch Spaß haben.«

»Das habe ich gehört.« Frederike lächelte. Trotz des großen Altersunterschieds lagen ihr die vier kleinen Geschwister aus der dritten Ehe ihrer Mutter ebenso sehr am Herzen wie ihre beiden anderen Halbgeschwister, die schon erwachsen waren und nicht mehr auf dem Gut wohnten.

»Das Irmichen is een kleener Wirbelwind, awwer reiten kannse fast so jut, wie du.« Hans klang so stolz, als ob er über seine eigene Familie sprechen würde.

Wieder schaute Frederike nach draußen. Sie hatte das Gut Fennhusen in den letzten zehn Jahren immer als ihr Zuhause, ihre Heimat betrachtet, doch das war nun vorbei. Was würde Mutter sagen? Wie würde sie sich verhalten? In den letzten Monaten hatte Frederike sich geweigert, ihre Mutter zu treffen, aber nun musste sie sich dem Gespräch mit ihr stellen.

Hans lenkte das Automobil durch die Toreinfahrt, der nasse Kies knirschte unter den Reifen. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert, dort waren die Stallungen, die Häuser des Gesindes, das runde Blumenbeet vor dem Treppenaufgang, das ihre Mutter angelegt hatte. Die Narzissen waren schon fast alle verwelkt, aber die Tulpen öffneten ihre Blüten.

Sobald der Wagen stand, stieg Frederike aus. Sie holte tief Luft. Es roch nach frischem Regen und feuchter Erde. Sie liebte diese Schauer im Frühjahr, die die Natur zum Erwachen brachten.

Die Eingangstür wurde geöffnet, ihre Mutter winkte.

»Komm rein, Freddy«, rief sie. »Du wirst noch ganz nass. Nicht, dass du uns krank wirst.«

Wütend kniff Frederike die Augen zusammen. Krank? Nun ja, ihre Mutter hatte sie wahrhaftig mehr ausgesetzt, als nur einem Regenschauer. Langsam ging sie zum Haus, stieg die Treppe empor.

»Guten Tag, Mutter«, sagte sie steif und streckte Stefanie von Fennhusen die Hand entgegen. Ihre Mutter zog überrascht die Augenbrauen hoch und schüttelte Frederike kurz die Hand.

»Wenn du es so willst«, murmelte Stefanie verletzt, drehte sich um und ging in die große Diele. »Ich habe dir dein Zimmer herrichten lassen. Möchtest du einen Tee?«

»Mir wäre ein heißes Bad lieber.«

»Darf ich Ihren Mantel nehmen?«, fragte Inge, das Hausmädchen. »Ich werde ihn zum Trocknen nach unten bringen.«

»Danke, Inge.«

»Sag Leni Bescheid, dass sie das Bad einlassen soll. Ich hoffe, der Ofen ist angeheizt.«

»Sofort, gnädige Frau.« Inge eilte nach unten ins Souterrain, wo sich die Gesinderäume und die Küche befanden.

Am liebsten wäre Frederike ihr gefolgt, wäre eingetaucht in die Wärme und die Düfte der Küche und hätte sich von Schneider, der Köchin, verwöhnen lassen – so wie früher. Aber nichts war mehr wie früher.

»Einen Tee, solange du auf das Bad wartest?«, wollte Stefanie wissen. Ihre Stimme klang nun kühler.

»Ich nehme lieber etwas Stärkeres.«

»Freddy! Freddy!« Irmi stürzte die Treppe hinunter und sprang Frederike in die Arme. »Endlich bist du da. Bleibst du hier? Ziehst du wieder zu uns zurück? Bitte, bitte, bitte.«

»Irmikind, mein Irmikind. Du wirst zu groß und zu schwer, als dass ich dich tragen und rumschwenken könnte«, sagte Frederike und drehte sich einmal mit ihrer Schwester im Kreis, bevor sie sie wieder auf dem Boden absetzte. »Wo ist Gilusch?«

»Gilusch ist auf ihrem Zimmer, und da bleibt sie heute auch«, sagte Stefanie und zog die Stirn in Falten. »Du kannst sie morgen begrüßen. Die Jungs sind im Kinderzimmer, denen kannst du nachher hallo sagen.«

Frederike sah Irmi fragend an, ihre kleine Schwester nickte ernst. »Gilusch war frech«, flüsterte sie.

»Zu Mutter?«, flüsterte Frederike zurück.

»Ja, und zur Lehrerin.«

»Grundgütiger. Wieso das denn?«

»Wer flüstert, lügt«, sagte Stefanie laut und streng. »Willst du jetzt einen Drink, oder willst du weiter Kinderspielchen spielen? Ich dachte, aus dem Alter bist du raus!«

»Oh, oh«, seufzte Frederike.

»Geh lieber«, meinte Irmi leise, »sonst bekommst du auch noch Stubenarrest.«

Frederike lachte laut auf. »Ich komme nachher noch zu dir«, versprach sie ihrer Schwester. Dann folgte sie der Mutter in den kleinen Salon, in dem Stefanie auch ihren Sekretär hatte.

»Bourbon? Cognac? Sherry? Gin?«

»Gin-Fizz nehme ich gerne.« Frederike folgte. Die Atmosphäre war mehr als kühl, was nicht überraschend war.

Stefanie goss sich selbst einen Sherry ein und läutete nach Gerulis, dem ersten Hausdiener.

»Meine Tochter möchte einen Gin-Fizz«, sagte sie ihm.

»Freddy! Wie schön, dass du endlich wieder hier bist.« Gerulis lächelte, dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Einen Gin-Fizz, sehr gerne, gnädige Frau.«

Sie setzten sich gegenüber in die beiden Sessel, die vor dem Kamin standen, und schwiegen sich an, bis Gerulis den Drink brachte.

Stefanie konnte eisern schweigen, das wusste Frederike aus Erfahrung. Also biss sie die Zähne zusammen, hob das Glas und zwang sich zu lächeln. »Cheers, Mutter.«

»Prost, Freddy.«

»Ist Onkel Erik da? Ich muss ihn dringend sprechen.«

»Er kommt gleich, im Moment ist er noch mit dem Inspektor auf den Feldern. Der Winter war lang in diesem Jahr. Wir haben schon April, aber wir konnten erst jetzt den Dung ausbringen. Bis letzte Woche lag noch Schnee.«

»Ja, bei uns auch.« Frederike räusperte sich, nippte noch einmal am Gin. »Was macht Fritz?«, fragte sie und hoffte, dass es leichthin klang.

»Er ist in Berlin und studiert Technik. Außerdem will er einen Pilotenschein machen.« Stefanie schüttelte den Kopf. »Er war schon immer verrückt nach mechanischen Dingen.«

Frederike lächelte. Ihr Halbbruder Fritz aus der zweiten Ehe ihrer Mutter war nur zwei Jahre jünger als sie. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er als Kind immer alles auseinandergebaut und untersucht hatte.

»Und Gerta?«

»Sie ist immer noch krank. Im Herbst hatte sie einen Infekt mit hohem Fieber und hat sich noch nicht davon erholt. Im Moment ist sie auf der Kurischen Nehrung. Ich hoffe, dass die Seeluft ihr guttut. Das hatte ich dir aber geschrieben.« Stefanie sah sie an. »Doch du beantwortest meine Briefe ja nicht, möglicherweise liest du sie gar nicht.«

Frederike hielt die Luft an, dann trank sie das Glas in einem Zug leer und stellte es auf das Tischchen neben ihr. »Ich werde mal schauen, ob mein Bad schon fertig ist«, sagte sie, stand auf und ging zur Tür.

»Um sechs gibt es Essen. Vielleicht ist Erik schon früher da, dann lasse ich dich rufen.«

»Danke.«

»Ich weiß, dass du mir böse bist, aber ich wollte nur das Beste für dich«, sagte Stefanie.

»Das Beste? Das Beste? Mutter, du hast mich in eine Ehe mit einem todkranken Mann gedrängt, im vollen Bewusstsein, wie es um ihn steht. Obwohl ich dich mehrfach gefragt habe, hast du es geleugnet. Ax hat Tuberkulose, das ist eine schwere und sehr ansteckende Krankheit. Vielleicht habe ich es auch schon. Ansonsten werde ich wahrscheinlich sehr jung Witwe werden.« Sie schnaufte.

»Man kann es behandeln …«, sagte Stefanie unsicher. »Und es gibt Tests. Hast du dich testen lassen?«

Frederike starrte sie wütend an.

»Außerdem hat er es schon einmal überwunden, vielleicht gelingt es ihm diesmal auch.«

»Mutter, er hat es nie überwunden, es gab nur einen Stillstand. Das weiß ich jetzt, und du wusstest es auch.«

»Wie … nun, wie geht es ihm?« Stefanie klang verlegen. »Du warst doch bei ihm?«

»Ja, ich war bei ihm. Schon mehrfach. Zuletzt über Weihnachten. Es war nicht so, wie ich mir das erste Weihnachtsfest mit meinem Ehemann vorgestellt habe.« Frederike biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, dann drehte sie sich um, öffnete die Tür und ging. Sie war wütend, zu wütend, um noch länger mit ihrer Mutter zu sprechen. Vielleicht würde sie sonst Dinge sagen, die sie später bereute.

Für einen Moment stand sie unschlüssig im Flur, doch dann zog es sie ins Souterrain zu den Leuten – wie die Angestellten des Gutshauses genannt wurden. Sie öffnete die Tür, die zum Treppenhaus führte, und ging nach unten.

Vorne lagen die Räume mit den Vorrats- und Weinkellern. Nach hinten raus fiel das Gelände...