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Licht

Anthony McCarten

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257607819 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{7}Eine Vignette


Der Erfinder goss sich ein Glas Milch ein und horchte auf das zwanzigste Jahrhundert. Ein paar Sekunden blieben noch bis Mitternacht, aber es gehörte zu seinem kleinen Experiment, dass er die Milch getrunken haben wollte, bevor die Uhr zum ersten Mal schlug.

In dieser Nacht aller Nächte saß er allein in seinem Arbeitszimmer. Seine Frau hatte ihn nach oben geschickt, damit er sich für die Jahrhundertwendfeier umziehen sollte, die eine Etage tiefer jeden Moment losbrechen würde, aber er hatte sich von der Idee zu einem Experiment ablenken lassen. Sein alter Gehrock hing ihm schlaff von den Schultern, den Strohhut hatte er noch auf dem Kopf, und nun beugte er sich vor und füllte das Glas bis zu einem vorbestimmten Punkt, den er mit dem Daumen markierte. Als die richtige Menge im Glas war, nahm er es und trank mit der Aufmerksamkeit und Konzentration eines Alkoholikers.

Und da, just als er sich die Lippen leckte, kam {8}der erste Schlag der Porzellanuhr an der Wand. Das Jahrhundert war vorüber. Eine Feuerwerksrakete erfüllte das Fenster mit Licht. An ihrem höchsten Punkt angekommen, zerplatzte sie. Sterne regneten herab.

Das alte Jahrhundert – die New York Times war sogar so weit gegangen, es nach ihm zu benennen, dem »Mann, der das meiste dafür geleistet hat« – war plötzlich auf das Maß einer bloßen Anekdote geschrumpft. Und er war froh, dass es vorüber war. Mit etwas Glück, dachte er, war die Zeit, in der man ihn wie einen Gott verehrt hatte, nun auch bald vorbei; und auch den albernen Spruch, dass doch sein Name so sehr der Inbegriff alles Neuen sei, dass die Idee zu einem neuen Jahrhundert nur aus seinem Labor gekommen sein könne, würde man bald nicht mehr hören. Nein, er würde dem neunzehnten nicht nachtrauern – weg damit. Sollte sich das neue Jahrhundert einen neuen Messias suchen.

Der fröhliche Lärm, der von unten heraufdrang, bestärkte ihn nur in seinem Entschluss, der Feier fernzubleiben. Er wischte sich den letzten Rest Milch von der Oberlippe, leckte seine Bleistiftspitze an – die verlässlichste Freude war und blieb für ihn seine Arbeit – und notierte die neueste Flüssigkeitsaufnahme zusammen mit seinem aktuellen {9}Gewicht, das konstant bei respektablen 148 Pfund blieb.

Dieser heimliche Test, mit dem er herausbekommen wollte, ob es möglich war, dass ein Mensch sich nur von einem einzigen Nährstoff ernährte, in diesem Falle Milch, lief schon seit drei Wochen und kam an seinen entscheidenden Punkt. Ihm war klar, dass die Öffentlichkeit über eine so radikale Entdeckung, gerade wenn sie sich auch noch als medizinisch haltbar erwies, nur verächtlich die Nase rümpfen würde, zumal sie von keinerlei wirtschaftlichem Nutzen wäre. Aber es war ein Bereich, der ihn interessierte, denn schon seit jungen Jahren hatten ihn die abstrusen Ernährungsvorschrif‌ten seines Vaters fasziniert, eines Autodidakten mit dem Kinnbart und der rasierten Oberlippe eines Quäkers. Und die erste Frau des Erfinders – mochte Gott ihrer Seele gnädig sein und ihm selbst verzeihen, was er ihr angetan hatte – war früh gestorben, vielleicht die Folge einseitiger Ernährung: Schokolade. War das laufende Experiment also eine Art symbolische Leichenschau seiner ersten Ehe? Ein verspätetes Sich-Kümmern, eine morbide Beweisaufnahme?

Er stand auf und zählte mit: Neun Schritte genügten, um ihn ans Bücherregal zu bringen. Unterwegs klopf‌te er noch auf das Barometer an der {10}Wand. Aber es war schon zu oft beklopft worden, um noch zu reagieren; und auch das Thermometer blieb beharrlich auf eiskalten sieben Grad.

Er fand das gesuchte Buch. Auf dem Vorsatzblatt der verblasste Namenszug seines Vaters. Neugierig auf die Lektüre, kehrte er zu seinem Stuhl zurück, doch er sah, wie die Oberfläche der Milch im Krug von dem Lärm der Feiernden vibrierte, und stampf‌te mit dem Absatz auf die Bodendielen. Zu viel Lärm! Ein solches Tohuwabohu musste doch nicht sein. Sein Phonograph spielte viel zu laut. Was zum Teufel sollte aus dem neuen Jahrhundert werden? Was war zu erwarten? Er war sicher, es würde ein Jahrhundert des Lärms werden. Und zu wie vielen dieser neuen Geräusche hatte er seinen Beitrag geleistet? Er fragte sich oft, für wie viele seiner Erfindungen er schon bald Abbitte leisten müsste, weil grässlicher Missbrauch damit getrieben würde. Als er den Phonographen ersonnen hatte, ein reines Hilfsmittel für die Büroarbeit, war er nicht auf den Gedanken gekommen, dass man daraus ein Gerät zur Unterhaltung machen könnte. Er nahm sich vor, bei allen zukünftigen Phonographenmodellen Lautstärkenbegrenzer einzubauen, damit solcher Frivolität ein Riegel vorgeschoben wurde.

Er setzte sich wieder und schlug das alte, abgegriffene Buch auf. Aber er kam nur bis in die Mitte {11}des ersten Absatzes, dann hörte er, wie unten auf der Feier etwas zu Bruch ging. Wussten seine Angehörigen denn nicht – das sollten sie aber doch wirklich inzwischen wissen –, dass er zwar, mit dreiundfünfzig, praktisch stocktaub war, dass aber doch vollkommene Stille, die vollständige Abwesenheit aller akustischen Schwingungen, nach wie vor eine Vorbedingung für seine Arbeit war? Niemand brauchte die Stille mehr als ein Gehörloser. Das kleinste Grummeln war ein Erdbeben. Er beugte sich vor und biss in die Tischkante, schlug die Zähne in das weiche Holz, denn nur so konnte er mehr akustische Informationen aufnehmen (die Kante seines Schreibtisches war an dieser Stelle schon schwer benagt) – mit diesem einfachen Akt machte er sich zum menschlichen Verstärker. Die empfindungsbegabten Kieferknochen gaben die kleinsten Schwingungen so zuverlässig wieder, dass er sie entziffern konnte wie Morsesignale, und ein geschickter Telegraphist war er schon von Kindesbeinen an gewesen. Nun, wo das Haus wie der Messingtrichter eines Phonographen wirkte und seine Kauwerkzeuge als fast perfekter Tonabnehmer, konnte er Einzelheiten aus dem Durcheinander des Lärms heraushören: die Juchzer seines jüngsten Sohnes, rhythmisches Füßetrappeln, den Klang der gläsernen Kelle, als sie in die Bowleschale fiel; ein {12}Lied wurde gesungen – aber welches? Er biss fester zu – »Auld Lang Syne«.

Er hielt das Buch mit seinen dicken Kaufmannsfingern, schlug zur nächsten Seite um und lächelte dazu jenes Lächeln, das das einzige Erbe seiner schottisch-presbyterianischen Mutter war. Vom maßvollen Leben von Luigi Cornaro, vierundachtzig Quartseiten, 1558 erschienen, als der italienische Verfasser vierundachtzig Jahre alt war. Die Seitenzahl war kein Zufall. Cornaro war ein großer Anhänger der Numerologie, abergläubisch bis zum Irrsinn, und war an allen Kalendertagen, die sich durch fünf oder sieben teilen ließen, im Bett geblieben. Edison las wahllos einige Passagen und hörte in diesen skurrilen Belehrungen die Ermahnungen seines Vaters, eine Gespensterstimme, die den Abgrund von vierzig Jahren überbrückte: Die Sterblichkeit des Menschen zu akzeptieren war nichts als eine Schwäche des Willens; ein langes Leben, genau wie das Gold der Alchemisten, lag nur knapp jenseits des Horizontes, und Enthaltsamkeit beim Essen war der erste Schritt dazu. »Du kannst aufstehen, Alva.« Aber Alva, die Gabel in der Hand, immer noch hungrig, ein klapperdürres Kind, entgegnete seinem Vater, er wolle mehr. »Das ist genau der richtige Augenblick, um von der Tafel aufzustehen, Alva. Gerade jetzt, wo du mehr willst.« {13}Die alten holländischen Einwanderer, die hatten eine Menge über den pädagogischen Nutzen des Hungers gewusst.

Bald merkte der Erfinder, dass jemand gegen die Tür hämmerte. Er erhob sich, kam in neun Schritten dorthin, riss sie auf und sah zu seiner Freude das hoffnungsvolle Gesicht seiner Frau, das schimmernde Haar, diese schräg stehenden grünen Augen, die beide wortlos von ihm die Rückkehr ins Menschenleben einforderten. Mit etlichen der kleinen Gesten, aus denen ihre eheliche Zeichensprache bestand, gab sie ihm zu verstehen, dass er unten gebraucht werde, und zwar umgehend.

Immer der gleiche Ärger. Unterbrechungen, Anforderungen der Familie, alle störten ihn ohne vernünftigen Grund. War es denn da ein Wunder, dass Alexander der Große, dass Shakespeare, Tom Paine, sogar der unvergleichliche Faraday alle auf eine Familie verzichtet und das Junggesellenleben vorgezogen hatten?

Aber seiner zweiten Frau, Mina Miller Edison, mit ihren hellen Augen, ihr konnte man nichts abschlagen. Wie jedes Mal ließ sie seine Konzentration auf seine eigenen Gedanken dahinschmelzen wie an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, mit einer Haube auf dem Kopf, an der eine Feder steckte, im Jahr 1855, als ihr Vater, ebenfalls {14}Erfinder, eine Vorrichtung namens »Motormäher« vorgestellt hatte.

»Was machst du denn mit einer Flasche Milch, Liebling?«, brüllte sie, damit er sie hören konnte.

Er schaute nach unten. Hatte er sie etwa noch in der Hand? So ein Pech; und Cornaro hatte er in der anderen. Sie hatte ihn erwischt. (Sie machte immer einen Riesenaufstand um seine Ernährung.)

Sie nahm, ja riss ihm die Flasche aus der Hand. »O nein, Thomas, das reicht!«

»Ich experimentiere«, versuchte er es.

»Weswegen? Und in so einer Nacht? Was denkst du denn, wie viele Jahrhundertwenden du noch erleben wirst?«

Was für eine Schönheit sie war! Seine beste Entdeckung überhaupt, und ihre Liebe zueinander war die trostreichste unter all seinen Erfindungen – strahlend, wie er ihr in shakespeareschem Überschwang gern sagte, wie ein Faden, der die beiden Pole...