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Unter dem Polarlicht - Roman.

Elisabeth Büchle

 

Verlag Gerth Medien, 2015

ISBN 9783961220175 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR


 

1. Kapitel

Die künstliche Beleuchtung des Büros im Bankgebäude surrte leise vor sich hin, während Chiara Kilians Finger der Tastatur ein schnelles Stakkato an Klackgeräuschen abverlangte. Die Frau auf dem Stuhl gegenüber rutschte unruhig umher. Sie hatte ihr Anliegen geschäftsmäßig und detailliert vorgetragen, doch nun verriet ihre Körpersprache ihre innere Aufregung.

Chiara lächelte die Eingabemaske mehr traurig als fröhlich an. Sie fand Noa Schochs Idee von einem Blumen-Geschenk-Bücher-Café in einem reinen Wohngebiet in Freiburg interessant, ahnte jedoch, dass die Finanzierung durch die Bank, bei der Chiara morgen genau ein halbes Jahr angestellt war, nicht zustande kommen würde. Mit ihren 22 Jahren war Noa noch ein Jahr jünger als Chiara und hatte bis auf eine gut durchdachte und bezaubernde Geschäftsidee keine Sicherheiten vorzuweisen.

Sie wollte der hübschen Rothaarigen gerade mitteilen, wie gering ihre Chancen waren, als es an der Tür klopfte. Einer der neuen Auszubildenden – ihr Namensgedächtnis verweigerte wieder einmal seinen Dienst – kam herein und sagte, ohne die Kundin zu beachten: „Frau Kilian, Sie werden von Herrn Meier erwartet.“

„Zwei Minuten, bitte“, erwiderte Chiara freundlich und warf Noa einen entschuldigenden Blick zu.

„Er sagte aber sofort!“, widersprach der Jugendliche und trat neben sie, als plane er, ihr den Drehstuhl unter dem Hintern wegzuziehen. „Ich kümmere mich so lange um …?“

„Frau Schoch“, brummte Chiara und stand auf. Dieser junge Mann würde es weit bringen, dessen war sie sich gewiss. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin gleich wieder für Sie da.“

Irritiert hastete sie die mit dunkelblauem Teppich belegte Metalltreppe in den zweiten Stock hinauf. Immerhin war es Thomas Meier gewesen, der bei ihrem Einstellungsgespräch mehrmals darauf hingewiesen hatte, dass die Kundschaft immer vorging, selbst wenn sie ihr Anliegen ablehnen mussten. Chiara klopfte kräftig an die Tür des Geschäftsführers.

„Ja!“, klang es zu ihr heraus, und sie trat ein.

„Herr Meier?“

„Setzen Sie sich.“

Chiara ließ sich gegenüber dem selbstbewussten Vierzigjährigen nieder, dessen schwarzes Haar an den Schläfen bereits ergraut war.

„Wir möchten Ihnen eine Erweiterung Ihres Horizonts ermöglichen“, begann der Mann und blätterte eine Mappe durch, auf der Chiaras Name stand. Erleichtert lehnte sie sich zurück. Vor zwei Wochen hatte sie sich für eine zusätzliche Qualifizierung beworben, und erfreulicherweise bekam sie diese nun wohl gewährt.

„Eine berufliche Neuorientierung, sozusagen“, sagte er, mehr wie zu sich selbst.

Chiara runzelte die Stirn. Das wiederum hörte sich weitaus weniger verlockend an. „Wie bitte?“, hakte sie nach. Nun war sie es, die unruhig auf dem Metallstuhl mit der viel zu dünnen Polsterung umherrutschte.

„Wir müssen leider einige Einsparungen vornehmen, Frau Kilian. Sie verstehen sicher, dass wir uns leichter von Neuzugängen trennen als von altgedienten Mitarbeitern höheren Alters und mit Familie, die auf dem Arbeitsmarkt wesentlich schlechter zu vermitteln sind. Sie mit Ihrem Ehrgeiz, den guten Referenzen und Ihrer jugendlichen Frische haben es da wesentlich leichter!“

Chiara zwang sich, ihre blauen Augen nicht vom Gesicht des Mannes hinter dem wuchtigen und eigentümlich leeren Schreibtisch abzuwenden. Nein, sie würde weder ihr Entsetzen zeigen noch einen Anflug von Tränen, wenngleich diese schon gefährlich nahe unter der Oberfläche lauerten. Sie ballte die Hände zu Fäusten, bohrte die Fingernägel in ihre Handflächen und hob die Augenbrauen. Natürlich verstand sie die Vorgehensweise, ebenso wie die Tatsache, dass ein langgedienter Angestellter vermutlich einen hohen Ausgleichsanspruch besaß. Sie hingegen war bis morgen Abend um 18:00 Uhr noch in der Probezeit.

„Wir entlassen Sie mit sofortiger Wirkung aus der Probezeit.“

„Gerade noch rechtzeitig vor der Zielgeraden!“, konterte Chiara mit beherrschter Stimme.

„Nun …“

Chiara erhob sich und streckte Meier, der durch ein Blinzeln seine Verunsicherung zeigte, die Hand entgegen, die er leicht perplex ergriff.

„Ich wünsche Ihnen eine gute Adventszeit und schöne Weihnachten“, sagte sie mit einem Lächeln, entzog ihm ihre Hand, drehte sich um und verließ aufrecht und mit festem Schritt das Büro. Wie in Trance schwebte sie die Stufen hinunter und betrat ihren Büroraum.

„Danke, wie auch immer Sie heißen!“, brummte sie den Lehrling an, der den Mund öffnete, unter ihrem Blick wieder schloss und das Weite suchte.

„Frau … Schoch, es tut mir leid, doch ich arbeite hier nicht länger.“

„Meine Güte!“ Noa sprang auf und presste bestürzt beide Hände auf ihren Mund. „Das … das tut mir aber sehr leid.“

„Ich weiß noch nicht, ob es mir leidtut“, erwiderte Chiara und warf einige persönliche Gegenstände in ihre überdimensional große Lederhandtasche. Sie unterbrach ihr eiliges Tun und wandte sich an die verwirrt an der Tür stehende jungen Frau: „Ich hätte Ihr Anliegen ohnehin ablehnen müssen. Zu meinem Bedauern übrigens, denn mir gefällt Ihre wunderschöne Idee. Ich hoffe, Sie finden eine Bank, die Ihnen einen Kredit gewährt, empfehle Ihnen jedoch, sich einen Verwandten als Bürgen zu suchen. Irgendjemand, der in einem finanziellen Engpass für Sie einstehen würde, denn sonst sieht es schlecht aus.“

„Ja, gut. Danke für den Tipp.“

Chiara nickte, zerrte den grauen Kurzmantel vom Bügel und ging auf die Tür zu. Noa ergriff sie am Unterarm. „Eine Entlassung so kurz vor Weihnachten ist schrecklich. Ach was, das ist immer schrecklich! Es tut mir sehr leid. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …?“

„Das ist lieb von Ihnen, aber ich fürchte, im Moment kann mir niemand helfen. Vielleicht ist es auch besser, wenn mir heute erst einmal alle Menschen aus dem Weg gehen.“

„Sie sind wütend? Das kann ich verstehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute!“

„Danke, Ihnen auch! Begraben Sie bitte Ihre tolle Idee nicht vorschnell!“

„Das werde ich nicht!“

Chiara stürmte aus ihrem Büro und die Treppe hinunter. Wenig später verließ sie die Schalterhalle durch den Kundeneingang. Dröhnender Verkehrslärm, Abgasgestank, Nieselregen und eine unangenehme Kälte schlugen ihr entgegen. Eilig schlüpfte sie in den Mantel, knöpfte ihn aber nicht zu, sondern rannte blindlings weiter. Über Kreuzungen und vorbei an Geschäften, an denen bereits die ersten Weihnachtsdekorationen angebracht worden waren. Sie passierte eine der Brücken über die Dreisam und blieb schließlich vor dem Schaufenster eines Spielzeugladens stehen.

Wut, Scham und Entsetzen wechselten sich in wildem Spiel miteinander ab, begruben alles, was vielleicht Positives an der Sache zu finden sein könnte. Aufgewühlt betrachtete Chiara ihr leicht verzerrtes Spiegelbild. Ihr kurzes, fransig geschnittenes Haar war von der hohen Luftfeuchtigkeit eigentümlich platt an den Kopf gepresst, ihr offener Mantel konnte das Zuviel an Rundungen nicht verbergen, die vor allem da saßen, wo Frauen sie ungern sahen.

„Ganz prima, Pummelchen!“, sagte sie zu sich selbst.

„Unverschämtheit!“, fauchte eine Passantin sie an, die im gleichen Augenblick hinter ihr vorbeiging.

Chiara unterließ eine berichtigende Erklärung, war die Frau mit dem pinken Hütchen doch bereits einige Schritte entfernt.

Prüfend sah sie sich um und stellte wenig verwundert fest, dass sie unbewusst den Weg zur Wohnung ihrer besten Freundin eingeschlagen hatte. Ein Seufzen entrang sich ihrer Kehle: Mia lebte nicht mehr. Sie hatte im Januar einen Autounfall gehabt und war an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben. Zurückgelassen hatte sie Patrick, ihren völlig am Boden zerstörten Ehemann, und Leo, den vierjährigen Sohn.

Chiara trottete weiter zwischen hoch aufragenden Wohnblocks hindurch und stand kurz darauf vor einer stabilen Holztür im kahlen und unfreundlichen Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses. Zögernd trat sie von einem Bein auf das andere.

Durfte sie Patrick mit ihren Problemen belasten? Aber sie brauchte dringend jemanden, der ihr zuhörte, ohne sie gleich umarmen zu wollen, denn dann würden alle Dämme brechen, die sie in der vergangenen halben Stunde mühsam um ihre Seele aufgebaut hatte.

Irritiert schüttelte sie den Kopf. War es wirklich erst 30 Minuten her, seit der George Clooney-Verschnitt ihr auf äußerst bescheuerte Weise mitgeteilt hatte, dass sie entlassen war? „Berufliche Neuorientierung? Erweiterung des Horizonts“? Wieder ballte sie die Hände zu Fäusten.

Im gleichen Moment sprang die Wohnungstür vor ihr auf. Ein blonder Lockenkopf schaute sie mit großen braunen Augen an. Mias Augen, Mias blondes Haar. Lediglich die Locken hatte der Junge von seinem Vater.

„Leo? Du sollst doch nicht an die Tür gehen.“ Patricks Stimme klang wie von weit her.

„Du hast gesagt, ich darf nicht hingehen, wenn es klingelt. Es hat nicht geklingelt“, verkündete die Piepsstimme erstaunlich redegewandt und schlagfertig.

„Ich bin’s nur, Chiara!“, rief sie über Leo hinweg, ging dann in die Hocke und nahm den Jungen in die Arme. Für ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung war dies jedoch die falsche Entscheidung, denn Leo schlang seine kindlich-runden Ärmchen um ihren Nacken und presste vertrauensvoll sein weiches Gesicht an ihre kalte Wange. Die Tränen drohten zu kullern, also...