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Kühe

Matthew Stokoe

 

Verlag Festa Verlag, 2017

ISBN 9783865525291 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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5,99 EUR


 

6

In seinem Schlafzimmer. Hund schlurfte auf dem Boden daher und begrüßte ihn schnuppernd. Steven tätschelte ihn traurig. Ein Hund war ein Symbol, im Fernsehen und der Welt da draußen bedeutete er immer so vieles. Er stand für Spaziergänge auf sonnigen Wiesen, sorgloses Lachen, Arm in Arm mit einer leicht geschürzten Dame, die mit einem fröhlich glucksenden Kind Ball spielte. Aber Hund wusste kaum etwas von Sonnenlicht. Der arme Teufel von einem Hund hatte sein ganzes Leben in der Wohnung verbracht, ohne ihren Schatten auch nur einmal zu entkommen.

Draußen stapfte etwas Schweres durch den Flur – das Muttertier kam aus dem hinteren Teil der Wohnung und schleppte sich grunzend in die Küche wie ein Schwein, das sich durch einen Misthaufen wühlt. Er sah sie genau vor sich – Kopf nach vorn gesenkt, Nasenlöcher gebläht, Spucke zog sich von ihrem Kinn zu dem dreckigen Blumenmusterstoff über ihrer Brust. Und die Kehrseite – ein Fleck feuchten Menstruationsblutes klebte ihr Kleid an dem wogenden Arsch und den Rückseiten der Schenkel fest, hängende Schultern, bloße, fleckige Waden, so geschwollen wie alles an ihr. Die Aura ihres Hasses spürte er selbst durch die abblätternden Wände und die geschlossene Tür. Er fragte sich, ob sie den seinen spürte, der ebenso stark war.

Das war nie anders gewesen. Sie verabscheuten einander seit dem Augenblick, als sie ihn aus ihrer Fotze gedrückt hatte. In der zugemüllten Küche hatte sie ihn auf dem Tisch, an dem sie heute noch aßen, aus dem blutigen Schlamassel zwischen ihren Beinen gezogen und verflucht. Und er hatte ihr, da er spürte, dass es sein ganzes Leben lang noch schlimmer kommen würde, gleich in die Augen gepisst.

Steven verließ die Wohnung zum ersten Mal, als er fünf wurde. Da war ihm schon klar, dass er allein nicht überleben könnte, auch wenn sein zunehmend schweres Herz ihm sagte, dass er weglaufen sollte, so schnell ihn seine kleinen Beine trugen. Wenigstens vorläufig war das Muttertier der Garant für sein Überleben. Doch von dem Moment an, als sich ihm Möglichkeiten eröffneten, zählte sein Kinderhirn die Monate, bis er erwachsen werden und fliehen könnte. Fortan steckte in jedem Jahr, das verstrich, ein weiteres Jahr, das ihm Eigenständigkeit und Freiheit bringen würde.

Aber es kam ganz anders. Als sein 13., 14. und 15. Jahr verstrichen (und alle anderen), musste er feststellen, dass er irgendwie zu lange gewartet hatte, auch wenn sein Hass auf das Muttertier und sein beengtes, dröges Leben nie kleiner wurde. Die Furchtlosigkeit des Fünfjährigen war in einem Maß verkümmert, dass er sich längere Zeiträume außerhalb der vier Wände ihrer Wohnung gar nicht mehr vorstellen konnte. In den Jahren, in denen er erwachsen wurde, hatte das Muttertier ihm sämtliche prägenden Merkmale, die ihn möglicherweise selbstständig machen konnten, so sehr ausgesaugt, dass die Vorstellung, einfach aus der Wohnung auszuziehen, lächerlich wurde.

Steven blieb solange er konnte in seinem Zimmer, saß auf dem Bett und streichelte geistesabwesend Hund, während Fernsehbilder wie die Verheißungen von Huren in sein Zimmer flackerten. Aber letztendlich ertönte es doch, wie erwartet – dieses zweifach verstärkte Horrorfilmkreischen, mit dem sie die Zügel ihrer Alleinherrschaft straff zog.

»Steven!«

Er bekam eine Gänsehaut.

»Steven, Essen ist fertig!«

Wenn er noch länger wartete, würde sie ihn holen kommen, also ging er auf den Flur und schlurfte zur Küche. Hund kroch grunzend hinter ihm her.

Er merkte sofort, dass sich etwas verändert hatte, dass ihr Verhalten von der Norm abwich. Kleinigkeiten – wie sie dort stand und ihn ansah, wie sie ihre Fettwülste fast unmerklich anders ausrichtete, wie sogar der Blutfleck an der Rückseite ihres Kleides eine geringfügig andere Form hatte … tausend Hinweise, die den Beginn einer neuen Phase des Elends andeuteten. Steven ging misstrauisch zum Tisch und setzte sich, behielt sie aber genau im Auge.

»Du wolltest Mama doch nicht warten lassen, oder?«

»Ich war müde.«

»Na klar doch. Hier.«

Sie stellte etwas vor ihn. Steven sah es fassungslos an – ein Stück Schafsmagen, dessen dampfende Falten über den Tellerrand hingen. Sie hatte ihn nicht gereinigt; halb verdaute Gemüsereste überzogen noch fleckig die rüschengleichen Rillen der Innenseite. Er berührte ihn mit dem Finger.

Dem Muttertier, das schon kaute, entging die Bewegung nicht.

»Ich weiß, dass du das magst. Ich wollte was ganz Besonderes machen, damit du nach deinem ersten Arbeitstag etwas Leckeres kriegst. Na los, hau rein.«

Steven bewegte sich nicht; das Muttertier grinste ihn an.

»Hmmm. Butterzart. Beeil dich, lass es nicht kalt werden.«

»Nein.«

»Oh, mjam, mjam, mjam. Ich hab dir einen wahren Leckerbissen zubereitet. Iss, iss.«

Ihre Singsangstimme beunruhigte ihn, sie besaß einen tödlichen Unterton. Die Situation eskalierte.

»Ich sagte Nein. Ich esse das nicht.«

Das Tier legte langsam den Löffel weg.

»Und was genau stimmt damit nicht, du kleiner Schwanzlutscher?«

»Menschen essen so was nicht. Menschen schneiden nicht etwas aus einem Tier raus und legen es so auf den Teller. Es ist nicht sauber.«

Das Muttertier erstickte fast vor Lachen und prustete Rotz und Spucke über den Tisch.

»Oh, Menschen. Menschen. Sieh dir den Pisser an, ist jetzt ein richtiger Experte. Oooh, schon einen ganzen Tag da draußen. Da musst du ja alles wissen.«

Steven drückte die Gabel, bis ihm die Hand wehtat.

»Du bist ein verdammter Idiot, Steven. Glaubst du, nur weil du einen Tag da draußen verbracht hast, bist du wie die? Glaubst du, du bist heute stark geworden? Zeig mir, wie stark du bist, Pisser. Geh da raus und such dir eine andere Bleibe … du Schwachkopf. Ohne mich, ohne dieses Heim, das ich dir gebe – wie lange würdest du wohl überleben?«

Er spürte, wie seine Gedärme flüssig wurden. Er wollte sie anschreien, dass er wie die da draußen sein, dass er eines Tages eine Frau, Liebe und alles andere haben könnte. Aber er wusste, dass die Schlampe recht hatte, er konnte nicht weg. Er hatte Pläne. Er brauchte Sicherheit, damit er imstande war, die Leben nachzuahmen, die er im Fernsehen sah. Ohne diese Sicherheit wären die Träume, sich selbst neu zu erfinden, ganz und gar unmöglich.

»Wenn du zu aufmüpfig wirst, werfe ich dich eigenhändig raus, du undankbares Balg. Wie würde dir das gefallen? Ständig die vielen, vielen Leute um dich herum und keine Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Wäre das nicht ein Spaß?«

»Nein.«

Es fiel ihm schwer, zu atmen, so zugeschnürt war seine Brust.

»Wie war das? Mama hat dich nicht gehört.«

»Es wäre kein Spaß.«

»Nein, sicher nicht, oder? Also iss das verdammte Essen.«

Steven schnitt ein Stück des Organs auf seinem Teller ab und nahm es in den Mund. Er musste eine Ewigkeit kauen. Das gummiartige Fleisch rutschte so an den Zähnen ab, dass ihm davon übel wurde.

»Ja, das ist ein braver Junge. Er ist Mamas braver Junge, wenn er schön aufisst.«

Aber Steven hörte gar nicht hin. Er trieb mitten in einem elenden Ozean aus Erbrochenem und dachte über den Sinn ihrer Worte nach.

Die Wohnung gehörte ihr, sie konnte sie nehmen, wann immer sie wollte. Das war schon immer so, aber bisher hatte sie noch nie damit gedroht, sie ihm wegzunehmen. Warum also jetzt? Hatte ihr seine Tapferkeit nach dem ersten Arbeitstag deutlich gemacht, dass er Hoffnungen für die Zukunft hegte? In dem Fall musste er vorsichtig sein, die Schlampe würde ihn garantiert umbringen, wenn sie glaubte, dass er der Hölle entrinnen wollte, die sie so gewissenhaft für ihn geschaffen hatte. Vielleicht war es der erste Schritt, dass sie den Ekelfaktor ihres Essens in die Höhe schraubte.

Er kaute weiter und zwang den Schafsmagen in seinen. Das Muttertier rutschte hin und her, damit ihr blutender Arsch nicht am Stuhl festklebte.

Steven sah in dieser Nacht lange fern und sondierte die verstreuten Pixel nach einer Möglichkeit, wie er sich vor dem Muttertier schützen könnte. Auf dem Bildschirm ließen sich die architektonischen Schablonen für das Leben leicht finden, doch die Art und Weise ihrer tatsächlichen baulichen Umsetzung blieb wie immer verborgen.

Er hatte sein Essen in die Zimmerecke gekotzt, wo Hund es auffraß. Da es im Körper seines Herrchens gewesen war, kamen Verdauungssäfte und Galle für das Tier heiligen Sakramenten gleich; ihr Verzehr versengte ihm das Gehirn mit Träumen, selbst ein Mensch zu werden. Der saure Geruch lag noch in der Luft; die weiche Membran hinter Stevens Nase brannte.

Oben schritt Lucy auf dem Weg von hierhin nach dorthin über ächzende Bodendielen. Steven stellte sich vor, was er sehen würde, wäre sie nackt und die Decke aus Glas.

Er tastete seine Eingeweide mit steifen Fingern ab, um festzustellen, ob er etwas Hartes und Giftiges fand, das seine Abnormität erklären könnte. Aber er fand nur vage Umrisse funktionstüchtigen Fleisches, das Erinnerungen an baumelnde Kühe in ihm wachrief, denen die inneren Organe wie mit Adern überzogene Säcke über die Kadaver hingen.

Er starrte empor zu der schwarzen Decke und fand keinen Schlaf. Er hörte das rostige Quietschen von Lucys Bettfedern und malte sich aus, wie er in einem großen, kiefernholzgetäfelten Schlafzimmer zum Zwitschern von Vögeln in einem Doppelbett wartete und sie gerade hereinkam. Er spürte, wie die...