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Solange du atmest - Roman

Joy Fielding

 

Verlag Goldmann, 2017

ISBN 9783641190613 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

KAPITEL 1

Das Kribbeln begann in ihrer Magengrube, ein unbestimmtes Nagen, das in ihre Brust wanderte und sich dann nach oben und außen ausdehnte, bis es ihren Hals erreicht hatte. Unsichtbare Finger legten sich um ihre Kehle und drückten fest gegen ihre Luftröhre, sodass die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wurde, bis ihr schwindlig wurde. Ich habe einen Herzinfarkt, dachte Robin. Ich kriege keine Luft. Ich sterbe.

Die Frau mittleren Alters, die ihr in der kleinen Praxis gegenübersaß, schien es gar nicht zu bemerken, so sehr war sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Irgendwas mit einer dominanten Schwiegermutter, einer schwierigen Tochter und einem Mann, der sie nicht genug unterstützte.

Okay, reiß dich zusammen. Konzentrier dich. Schließlich zahlte die Frau – wie heißt sie noch, verdammt? – keine hundertfünfundsiebzig Dollar pro Stunde, um dafür mit leerem Blick angestarrt zu werden. Sie erwartete, dass Robin zumindest aufmerksam zuhörte. Man ging nicht zu einer Therapeutin, um ihr bei einem Nervenzusammenbruch zuzusehen.

Du hast keinen Nervenzusammenbruch, versuchte Robin, sich zu beruhigen, als sie die vertrauten Symptome erkannte. Es ist auch kein Herzinfarkt. Es ist eine Panikattacke, schlicht und einfach. Und nicht deine erste. Mittlerweile solltest du dich weiß Gott daran gewöhnt haben.

Aber das ist mehr als fünf Jahre her, dachte sie im nächsten Atemzug. Die Panikattacken, die sie früher beinahe täglich überfallen hatten, gehörten der Vergangenheit an. Doch die Vergangenheit lässt einen nie los. Heißt es jedenfalls immer.

Robin musste sich gar nicht fragen, wodurch die plötzliche Attacke hervorgerufen worden war. Sie wusste genau, was – wer – dafür verantwortlich war. Melanie, dachte sie. Als sie aus der Mittagspause in ihre Praxis zurückgekehrt war, hatte sie eine Nachricht ihrer drei Jahre älteren Schwester auf der Mailbox vorgefunden. Robin hatte das Telefon angestarrt und überlegt, ob sie einfach nicht zurückrufen, die Nachricht löschen und so tun sollte, als hätte sie sie nie erhalten, als ihre Klientin gekommen war. Dann musst du eben warten, hatte sie ihre Schwester stumm wissen lassen, ihren Notizblock genommen und war in den größeren Raum gegangen, in dem sie ihre Klienten empfing.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Frau sie jetzt, beugte sich in dem blauen Polstersessel vor und musterte Robin argwöhnisch. »Sie sehen irgendwie komisch aus.«

»Könnten Sie mich kurz entschuldigen?« Robin war von ihrem Stuhl aufgesprungen, bevor die Frau etwas erwidern konnte. Sie rannte ins Nebenzimmer und schloss die Tür. »Okay«, flüsterte sie und stützte sich mit beiden Handflächen auf ihren Schreibtisch, sorgfältig darauf bedacht, nicht zu dem blinkenden roten Licht ihres Telefons zu blicken. »Atmen. Einfach ruhig weiteratmen.«

Okay, du hast diagnostiziert, was los ist. Du weißt, wodurch es ausgelöst wurde. Jetzt musst du dich nur noch entspannen und auf deine Atmung konzentrieren. Im Zimmer nebenan wartet eine Klientin. Du hast keine Zeit für diesen Mist. Also reiß dich zusammen. Wie hatte ihre Mutter immer gesagt? Auch das geht vorbei.

Aber nicht alles ging vorbei. Oder wenn, kam es oft von hinten zurück und biss einen in den Arsch. »Okay, tief einatmen«, ermahnte sie sich noch einmal. »Und noch mal.« Nach drei weiteren Zügen ging ihr Atem fast wieder normal. »Okay«, sagte sie. »Okay.«

Aber es war nicht okay, und sie wusste es. Melanie rief aus irgendeinem Grund an, und was immer dieser Grund sein mochte, er war nicht gut. Seit dem Tod ihrer Mutter hatten die Schwestern kaum miteinander gesprochen, und seit Robin Red Bluff nach der überstürzten Wiederheirat ihres Vaters verlassen hatte, gar nicht mehr. Nichts in fast sechs Jahren. Kein Glückwunsch, nachdem Robin in Berkeley einen Master in Psychologie gemacht hatte, keine Aufmunterung, als sie im folgenden Jahr ihre eigene Praxis eröffnet hatte, nicht einmal ein beiläufiges »viel Glück«, als sie und Blake ihre Verlobung bekanntgegeben hatten.

Und so hatte Robin mit Blakes Ermutigung und Unterstützung vor zwei Jahren alle Kommunikationsversuche mit ihrer Schwester eingestellt. Riet sie ihren Klienten nicht immer, sie sollten aufhören, sich die Stirn blutig zu rennen, wenn sie mit einem unbeweglichen Objekt oder unüberwindbaren Konflikt konfrontiert waren? Wurde es nicht Zeit, dass sie ihrem eigenen weisen Rat folgte? Aber es war natürlich immer leichter, Ratschläge zu geben, als sie anzunehmen.

Und nun rief aus heiterem Himmel ihre Schwester an und hinterließ eine kryptische Nachricht auf ihrer Mailbox. Wie ein Krebsgeschwür, von dem man angenommen hatte, es sei herausgeschnitten worden, und das dann umso aggressiver und virulenter zurückkam.

»Ruf mich an«, lautete die Botschaft, die sie auf die Mailbox gesprochen hatte, ohne ihren Namen zu nennen, weil sie es für selbstverständlich hielt, dass Robin die Stimme ihrer Schwester selbst nach all den Jahren erkennen würde.

Und das hatte sie natürlich auch, weil Melanie eine Stimme hatte, die man unweigerlich im Ohr behielt, egal wie viel Zeit vergangen war.

Welche neue Hölle wartete nun wieder, fragte Robin sich und atmete noch ein paarmal tief durch, ohne sich auf weitere Spekulationen einzulassen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass ihre Fantasie nicht mit der Realität mithalten konnte. Bei Weitem nicht.

Sie überlegte, sich mit Blake zu besprechen, entschied sich jedoch dagegen. Er war beschäftigt und würde auf eine Störung ungehalten reagieren. »Du bist die Therapeutin«, würde er ihr erklären und knapp an ihr vorbeiblicken, als wäre dort jemand Interessanteres aufgetaucht.

Robin verdrängte alle Gedanken an Blake und Melanie, strich ihre schulterlangen, blonden Locken hinter die Ohren und kehrte mit einem aufgesetzten aufmunternden Lächeln in das andere Zimmer zurück. »Tut mir leid«, erklärte sie der wartenden Frau, die ihren ersten Termin hatte und deren Name Robin nach wie vor nicht einfiel. Emma oder Emily. Irgendwas in der Richtung.

»Alles okay?«, fragte die Frau.

»Alles bestens. Mir war nur kurz ein bisschen flau.«

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Sie sind doch nicht schwanger, oder? Ich fände es furchtbar, mit der Therapie zu beginnen, und dann hören Sie auf, um Ihr Baby zu bekommen.«

»Nein. Ich bin nicht schwanger.« Um schwanger zu werden, muss man Sex haben, dachte Robin. Und sie und Blake hatten seit einem Monat nicht mehr miteinander geschlafen. »Alles bestens«, sagte sie, während sie verzweifelt versuchte, sich an den Namen der Frau zu erinnern. »Bitte fahren Sie fort. Sie hatten gesagt, dass …«

Was zum Teufel hatte die Frau gesagt?

»Ja, also, ich hatte gesagt, dass mein Mann absolut nicht hilfreich ist, wenn es um seine Mutter geht. Als wäre er wieder zehn Jahre alt und hätte Angst, den Mund aufzumachen. Sie sagt total verletzende Sachen zu mir, und er tut so, als hätte er nichts gehört. Und wenn ich ihn darauf hinweise, sagt er, ich würde übertreiben und solle mir das alles nicht so zu Herzen nehmen. Meine Tochter hat es natürlich auch schon mitgekriegt. Und jetzt ist sie genauso unverschämt. Sie sollten hören, wie sie manchmal mit mir redet.«

Sie glauben, Sie hätten Probleme?, dachte Robin. Sie glauben, Ihre Familie wäre schwierig?

»Ich weiß nicht, warum meine Schwiegermutter mich so hasst.«

Sie braucht keinen Grund, dachte Robin. Wenn sie nur ein bisschen so ist wie meine Schwester, verachtet sie Sie aus Prinzip. Weil Sie existieren.

Das stimmte. Melanie hatte sie von dem Moment an gehasst, an dem sie ihre neugeborene jüngere Schwester zum ersten Mal gesehen hatte, eifersüchtig, weil sie die Aufmerksamkeit der Mutter plötzlich teilen musste. Sie hatte Robin gekniffen, wenn diese friedlich in ihrem Bettchen geschlafen hatte, und nicht aufgehört, bis der Säugling mit winzigen Blutergüssen übersät war; als Robin zwei war, hatte Melanie ihr mit einer Schere die Locken abgeschnitten; als Robin mit sieben völlig arglos Fangen mit ihr gespielt hatte, hatte Melanie sie gegen eine Mauer geschubst und ihr die Nase gebrochen. Ständig kritisierte sie Robins Kleidergeschmack, ihre Interessen und ihre Freundinnen. »Das Mädchen ist ein dummes Flittchen«, war ihr höhnischer Kommentar zu Robins bester Freundin Tara gewesen.

Oh, warte – da hatte sie recht gehabt.

»Ich habe alles getan, um Frieden mit der Frau zu schließen. Ich war mit ihr einkaufen. Ich war mit ihr Mittag essen. Ich habe sie mindestens dreimal pro Woche zu uns nach Hause zum Abendessen eingeladen.«

»Warum?«, fragte Robin.

»Warum?«, wiederholte die Frau.

»Warum machen Sie sich die Mühe, wenn sie so unangenehm ist?«

»Weil mein Mann denkt, dass es sich so gehört.«

»Dann soll er mit ihr einkaufen und Mittag essen gehen. Sie ist seine Mutter.«

»So einfach ist das nicht«, wandte die Frau ein.

»Doch, es ist genau so einfach«, entgegnete Robin. »Sie ist unhöflich und respektlos. Sie sind nicht verpflichtet, sich das anzutun. Hören Sie auf, mit ihr einkaufen und essen zu gehen. Laden Sie sie nicht mehr zum Abendessen ein. Wenn sie fragt, erklären Sie ihr, warum.«

»Und was soll ich meinem Mann sagen?«

»Dass Sie es satthaben, mit so viel Missachtung behandelt zu...