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SOG - Thriller

Yrsa Sigurdardóttir

 

Verlag btb, 2017

ISBN 9783641172305 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG, SEPTEMBER 2004

Die Schule warf einen eiskalten Schatten auf den menschenleeren Schulhof. In einiger Entfernung wurden die wenigen Passanten noch von der Sonne gewärmt, doch sobald sie in den Schatten traten, wickelten sie ihre Jacken und Mäntel fester um sich und beschleunigten ihren Schritt. Eigentlich war es windstill, nur auf dem Schulhof wehte eine frische Brise und brachte die Schaukeln in der Ecke in Bewegung. Sie schwangen leicht vor und zurück, als säßen unsichtbare Kinder darauf und würden sich langweilen. Wie Vaka. Wobei die Langeweile nicht so schlimm war wie die Kälte, die ihr in die Wangen stach. Die Zehen waren eiskalt, sie war völlig durchgefroren und saß bibbernd auf den Stufen der kalten Treppe. Der neue Anorak ging ihr nicht bis über den Po, und sie bereute es, nicht auf ihre Mutter gehört und sich für den längeren entschieden zu haben. Aber der war nur in Dunkelblau da gewesen und der kürzere in Rot. Vaka rückte den Schulranzen auf dem Rücken zurecht und überlegte, ob sie nicht lieber in die Sonne gehen sollte. Da könnte sie sich zumindest ein bisschen aufwärmen, solange sie noch warten musste. Doch der Schatten nahm fast den ganzen Schulhof ein, und wenn sie aus ihm herausträte, würde ihr Vater sie womöglich nicht sehen und wieder fahren. Nein, dann lieber frieren.

Ein Auto in derselben Farbe wie das ihres Vaters kam angefahren, aber dann erkannte sie, dass es ein ganz anderer Wagen und ein ganz anderer Mann waren, und wurde wieder trübsinnig. Hatte er sie vergessen? Es war der erste Tag in der neuen Schule, und er hatte vielleicht gedacht, sie würde zu Fuß nach Hause gehen, so wie früher. Zum hundertsten Mal spürte sie eine schmerzliche Sehnsucht nach ihrem alten Zuhause. Das Einzige, was an dem neuen Ort besser war, war ihr Zimmer; das war größer und schöner als das in der alten Wohnung. Alles andere hatte sich verschlechtert, auch die Schule und vor allem ihre Mitschüler. Vaka kannte niemanden, und niemand kannte sie. In ihrer alten Klasse hatte sie gewusst, wie alle hießen, und sogar die Namen der Haustiere der Mädchen gewusst. Jetzt schwirrte ihr der Kopf vor lauter neuen Gesichtern, die sie sich nicht merken konnte. Es war wie bei Memory – da gewann sie auch nur, wenn Mama sie gewinnen ließ.

Vaka zog die Nase hoch. Wann würde ihrem Vater einfallen, dass er sie abholen musste? Sie drehte sich um und blickte an dem Schulgebäude nach oben, in der Hoffnung, jemanden in den Fenstern zu sehen, aber die waren genauso dunkel wie der kalte Schatten, und nichts rührte sich. Eine Windböe fuhr ihr übers Gesicht, und sie erschauerte. Sie stand auf und ging die Treppe hinauf zum Eingang. Irgendein Erwachsener musste doch noch in der Schule sein. Jemand, der sie hereinlassen würde, damit sie zu Hause anrufen konnte. Aber die Tür war fest verschlossen. Anklopfen würde bei dem dicken Holz nichts bringen. Vaka ließ die Hand sinken und starrte die hohe Tür an, als würde sie davon aufgehen. Doch nichts geschah, und sie beschloss, sich wieder zu setzen. Hoffentlich war die Treppe nicht mehr so kalt wie vorhin.

Als sie sich umdrehte, war die Kälte plötzlich vergessen. Auf der untersten Stufe stand ein Mädchen aus ihrer neuen Klasse. Vaka hatte sie gar nicht kommen hören. Vielleicht hatte sie sich angeschlichen, aber warum hätte sie das tun sollen? Vaka würde sie ja nicht gleich beißen. Sie kannten sich überhaupt nicht, obwohl Vaka sich gut an das Mädchen erinnern konnte. Kein Wunder, denn an einer Hand fehlten ihm zwei Finger. Der kleine Finger und der Ringfinger. Sie hatte alleine in der ersten Reihe gesessen und war sehr schüchtern gewesen. Erst hatte Vaka gedacht, es sei auch ihr erster Tag in der neuen Schule, aber der Lehrer hatte sie nicht vorgestellt, deshalb hatte sie mit dieser Vermutung wohl falschgelegen. Als sie im Unterricht Gruppenarbeit machen sollten, hatte das Mädchen kein Wort gesagt, auch mit den anderen Kindern hatte es nicht gesprochen. In der Pause hatte sie abseits gesessen und vor sich hin gestarrt, so wie Vaka vorhin auf der Treppe. Sie hatte keine Miene verzogen, noch nicht einmal, als zwei Jungen sie mit einer Zeile aus einem Kinderreim aufgezogen hatten. Vakas Großmutter hatte den Reim früher auch manchmal aufgesagt: »Kleiner Finger, kleiner Finger, wo bist du? Ringfinger, Ringfinger, wo bist du?« Vaka fand das vorhin total gemein, aber die anderen hatten sich nicht darum gekümmert. Am Ende hatte sie woandershin geschaut und sich nicht getraut, sich einzumischen. Sie war ja die Neue.

»Es ist schon abgeschlossen.« Das Mädchen lächelte vorsichtig, wurde aber sofort wieder ernst. Vielleicht hatte Vaka sich auch nur verguckt, aber ein Bild von einem hübschen Gesicht blieb in ihrem Kopf haften. »Sie schließen nach der Schule immer ab.«

»Oh.« Vaka blieb unschlüssig auf der obersten Stufe stehen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich schon immer schwer damit getan, andere Kinder kennenzulernen oder mit Fremden zu reden, und der ganze Tag heute war vorbeigegangen, ohne dass jemand versucht hatte, sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken. »Ich wollte nur fragen, ob ich mal telefonieren kann.«

»Vielleicht kannst du vom Kiosk aus telefonieren. Der ist direkt da drüben.« Das Mädchen zeigte zum anderen Ende der Straße. Sie trug Fäustlinge, um ihre missgestaltete Hand zu verstecken.

Vaka schluckte und antwortete verlegen: »Ich hab kein Geld dabei.« Mama sollte ihr eigentlich jeden Freitag Taschengeld geben, vergaß es aber immer. Meistens war das nicht so schlimm, aber manchmal eben doch. So wie jetzt. Genauso schlimm, wie dass Papa vergessen hatte, sie abzuholen. Erwachsene waren immer so unzuverlässig.

»Ach so.« Das Mädchen schaute sie mitfühlend an. »Ich auch nicht.« Sie öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas sagen, ließ es dann aber bleiben und presste die Lippen aufeinander. Im Gegensatz zu Vaka, die in ihren neuen Anorak noch hineinwachsen musste, war die Jacke des Mädchens schon viel zu klein; die Ärmel waren zu kurz, und der Reißverschluss schien nicht mehr richtig zuzugehen. Sie hatte keine Mütze auf, und ihre ungekämmten Haare wurden vom Wind durcheinandergeweht. Obwohl es trocken war, trug sie alte, ausgeblichene Gummistiefel. Nur ihre hübschen bunten Handschuhe waren relativ neu und sauber.

»Ist schon okay. Ich warte einfach noch ein bisschen.« Vaka bemühte sich zu lächeln, doch es misslang ihr. Sie wollte nicht weiter in dieser Ungewissheit ausharren. Ihr war kalt, und sie hatte Hunger. Wenn ihr Vater pünktlich gekommen wäre, würde sie jetzt in der neuen Küche sitzen und Toastbrot essen. Vaka hatte den Geschmack von geschmolzener Butter und Marmelade auf der Zunge, wodurch der Hunger noch größer wurde.

Das Mädchen stand unten an der Treppe und fragte zögernd: »Soll ich mit dir warten?« Sie schaute Vaka dabei nicht an, sondern hatte den Kopf abgewandt und starrte auf den leeren Schulhof. »Kann ich ruhig machen, wenn du willst.«

Vaka hatte nicht sofort eine Antwort parat. Was wäre besser? Alleine dazusitzen und zu frieren oder zusammen mit einem Mädchen hierzubleiben, dessen Namen sie nicht kannte, und nicht zu wissen, worüber man reden sollte. Und auch wenn sie erst acht Jahre alt war, wusste sie doch, dass es auf manche Fragen nur eine richtige Antwort gab: »Ja, gerne. Wenn du Lust hast.« Als das Mädchen sich schnell zu ihr drehte und breit lächelte, fügte sie hinzu: »Aber wenn mein Papa mich holen kommt, muss ich sofort gehen.«

Das Lächeln verschwand, und das Gesicht des Mädchens wurde wieder ausdruckslos. »Ja, klar.«

Vaka versuchte, die Situation zu retten, denn sie erinnerte sich an die Hänseleien der Jungen, und wie einsam das Mädchen gewirkt hatte. »Vielleicht kann er dich ja auch nach Hause fahren.« Sofort bereute sie ihre Worte, denn sie hatte ihre Eltern oft darüber reden hören, wie teuer das Benzin sei. Vaka wollte ihren Vater nicht bitten, einen Umweg zu machen, denn sie hatten nicht mehr viel Geld, seit sie das neue Haus gekauft hatten. Deshalb war ihr Anorak zu groß, und ihre neuen Schuhe hatten reichlich Zehenfreiheit. »Wohnst du weit weg?«

»Nein. Ich wohne direkt dahinter.« Das Mädchen zeigte auf die Schule und meinte vermutlich die Häuserreihe, die Vaka in der Pause gesehen hatte, als sie die Rückseite des Schulhofs inspiziert hatte. Zwischen den Häusern und der Schule stand ein hoher Zaun, hinter dem sich jede Menge Müll angesammelt hatte: verblichene und zerrissene Verpackungen, Papierreste, Plastiktüten und welkes Laub. Vaka hatte sich vor dem Abfall geekelt, doch da dies eine der wenigen Stellen auf dem Schulgrundstück war, an denen man den hämischen Singsang der Jungen nicht hören konnte, war sie trotzdem zu dem Zaun gegangen und hatte hindurchgespäht, an dem Müll vorbei.

Den gedämpften Lärm der spielenden Kinder in den Ohren, hatte sie den Blick über die Häuser und Gärten schweifen lassen, dankbar, dass ihre Eltern nicht hier eins gekauft hatten. Die Häuser sahen genauso schäbig und verdreckt aus wie der Zaun, schlecht gestrichen und mit Gärten wie Urwälder. An einer Stelle ragte ein rostiger Grill aus dem hohen Unkraut heraus, und wenn Vaka nicht alles täuschte, wucherte es bereits durch einen kleinen Spalt in der Abdeckung. Vor den schmutzigen Fenstern hingen dazu passende schiefe, fleckige Vorhänge. Einige Fenster waren mit Decken zugehängt, andere mit Zeitungen und Pappe. Vaka fand die Häuser so unheimlich, dass sie sich von dem Zaun abwandte und zurück zu den anderen Kindern ging, die so taten, als wäre sie Luft.

Einen Vorteil hatte dieses Viertel immerhin. Es lag nah bei der Schule. Vielleicht konnte sie ja bei dem Mädchen telefonieren? Man wäre in ein paar Minuten bei...