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Sonntags in Trondheim - Roman

Anne B. Ragde

 

Verlag btb, 2017

ISBN 9783641207991 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Das ist so grauenhaft, Krumme, dass mir die Worte fehlen! Sieh dir das bloß mal an! Sieh dir an, wie unbeschreiblich grauenhaft und entsetzlich das ist!«

Ein Stapel dicker Einrichtungszeitschriften lag auf dem Esstisch, Erlend hatte sie auf dem Heimweg von der Arbeit gekauft. Regelrecht zugeschlagen hatte er, das Geld bekam er ohnehin von der Firma zurück. Die Magazine sollten inspirieren und neue Design-Horizonte eröffnen, bewirkten in diesem Fall jedoch das genaue Gegenteil. Er schwenkte jetzt eines vor Krumme hin und her.

»Und was ist so grauenhaft?«, fragte Krumme, der ihm den Rücken gekehrt hatte.

Krumme stand vor dem Herd und war mit mehreren Kochtöpfen beschäftigt, wie immer um diese Zeit, denn sie wollten in aller Ruhe zu Abend essen, wenn die Kinder im Bett waren. Krumme drehte sich um und warf blitzschnell einen pflichtschuldigen Blick auf die Zeitschrift.

»Aber jetzt schau doch hin, Krumme!«

»Papa! Mehr Saft«, sagte Nora.

Krumme riskierte noch einen kurzen Blick.

»Ich sehe nur eine Menge schöner Muster, Erlend, wieso regst du dich so auf? Denk an dein Herz!«

»Du siehst Muster, ja, aber das Material, Krumme!«

»Mehr Saft, Papa!«

»Ich auch!«, sagte Ellen.

»Das ist Plastik! Das sind Plastikteppiche!«, sagte Erlend. »Plastikflickenteppiche! Stell dir vor, die werden jetzt wieder modern. Beim bloßen Gedanken, und sind die Muster noch so schön, kriege ich eine Gänsehaut. Ich drehe mich in meinem zukünftigen Grab um.«

»Vati! Papa hört nicht. Ich will Saft! Sofort«, rief Nora.

»Ich auch«, sagte Ellen.

Krumme nahm den Karton aus dem Getränkekühlschrank, wo sich Champagner, Bier und Sodawasser jetzt den Platz mit Saft, Milch und Fruchtsäften teilten.

»Aber ohne Wasser!«, sagte Nora.

»Natürlich muss da Wasser rein«, sagte Krumme und schüttelte die Safttüte energisch. »Sonst kriegst du zu viel Zucker ab, das weißt du doch, Schatz.«

»Ich liebe Zucker«, sagte Ellen.

»Ja, das war die Bombe des Tages«, sagte Krumme. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser laufen, dann holte er die Gläser der Kinder.

»Bombe? Wie im Fernsehen?«, fragte Leon, hob aber kaum sein Gesicht aus seinem Mickymausheft. Er konnte natürlich noch kein Wort lesen, und doch blätterte er langsam weiter, während er seine Nachmittagsmahlzeit verzehrte. Nora und Ellen saßen vor ihrem iPad und sahen bei sehr geringer Lautstärke »Die Eiskönigin« zum hundertsten Mal, zu Erlends großem Ärger. Aber er sagte nichts mehr, die Sache war durch, und er konnte ja immer noch die disneyfizierte Version durch die echte Geschichte von Hans Christian Andersen retten.

»Nicht doch, Leon, das ist nur so was, was die Erwachsenen sagen«, sagte Erlend. »Weißt du übrigens noch, wie Goofy auf Norwegisch heißt?«

»Ja! Langbein!«, sagte Leon und lachte. »Und dabei hat er doch ganz kurze Beine.«

»Plastikteppiche, Krumme! Das ist unerträglich. Weißt du, was ich vor mir sehe, wenn ich an Plastikteppiche denke?«

»Da gibt es nun wirklich viele Möglichkeiten, wie um alles in der Welt sollte ich da …«

»Rissige nackte Fersen in offenen Schuhen. Sie trug sogenannte Schlüpfschuhe, davon hat sie jedes Jahr ein Paar gekauft, aber ich kann dir sagen, an den Schuhen war rein gar nichts schlüpfrig. Die hatten so eine Haube über den Zehen, mit Löchern, um den Käsedampf rauszulassen, und diese Haube war zimtbraun, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Sie stand vor dem Küchentisch oder vor dem Herd, so, wie du jetzt stehst, und ich saß am Küchentisch und wartete darauf, dass sie ein Brot für mich schmierte, oder ich aß es gerade, und ich sah die ganze Zeit nur diese ungepflegten grauen Hacken mit den großen, teilweise blutigen Rissen. Und unter den Schlüpfschuhen: ein gestreifter Plastikflickenteppich. In Schwarzweißrot. Voller Flecken und Essensresten.«

»Ich nehme an, du redest über …«

»Meine abscheuliche Mutter. May she rest peaceless.«

»Was ist absseulich?«, fragte Leon.

»Aber Erlend. Die Kinder hören doch alles mit, wie oft soll ich dir das noch sagen, Mäuschen, die verstehen ja jeden Tag mehr. Das ist nur ein norwegisches Wort, Leon, ich weiß nicht, was es auf Dänisch heißt, vergiss es, Schatz.«

»Die hier hat sogar einen Designerpreis bekommen! Einen schwedischen, na, das erklärt natürlich fast alles, ein Stück Anna Becke, ein Designerpreis für Plastikteppiche! Man fasst es nicht! Das ist, als ob man den Bocuse d’Or für ein Gericht aus Kartoffelschalen bekäme.«

Krumme lachte laut.

»Du musst dich aber auch über jeden Scheiß aufregen, Erlend!«

»Vati hat Scheiß gesagt«, rief Leon.

»Ja, hat er!«, rief Nora, während Ellen nickte.

»Die Kinder hören doch alles mit, Krumme, und jetzt musst du dir den Mund mit Seife auswaschen.«

»Ja! Ja! Das muss er! Vati! Du musst dir den Mund waschen! Das hat Papa gesagt!«

»Euer Papa sagt viel, wenn der Tag lang ist.«

»DochVati! Das musst du!«

»Dann aber mit Milch!«, sagte Krumme.

»JAAAAAAA«, schrien die Kinder wild durcheinander.

»Akzeptiert«, sagte Erlend, da er wusste, dass Krumme Milch verabscheute, die sei nur für Kinder, Kälber und manche Soßen geeignet. Krumme holte sich einen Milchkarton und ein Glas, goss einen Schluck Milch hinein und kippte ihn sich in den Mund ohne zu schlucken. Dann fing er mit fest zusammengekniffenen Augen an, kräftig zu gurgeln. Die Kinder saßen mäuschenstill da und verfolgten jede Bewegung. Und Krumme enttäuschte sie nicht.

Nach vollendeter Tat rannte er, soweit ein kleiner kugelrunder Mann rennen kann, dachte Krumme, mit fuchtelnden Armen zum Spülbecken, brüllte laut und hielt den Mund seitlich unter den Wasserhahn.

»UÄÄÄÄÄÄÄHÄÄÄÄÄÄÄHH!«, rief er immer wieder zwischen den Wasserspülungen, und die Kinder lachten so sehr, dass sie von den Küchenstühlen rutschten und auf dem Boden landeten.

»Aber kalte Milch ist lecker! Die ist lecker!«, rief Nora.

»Ja!«, rief Ellen.

»Nein«, sagte Krumme. »Ist sie ver … flixt noch mal nicht.«

»Doch«, sagte Erlend. »Unsere süßen Mädchen kennen sich aus.«

»Aber nicht der Knabe«, sagte Leon, der auch keine Milch mochte. Dennoch ließ er sich überreden, wenn sie ihn aufforderten, ein Glas zu trinken, weil er wachsen und starke Knochen und Zähne bekommen sollte. Wie Krumme immer sagte, wenn Leon protestierte: Kleine Kinder haben Milchzähne, weil sie Milch trinken sollen. Von Saftzähnen hat noch nie ein Mensch gehört.

Erlend hatte darauf bestanden, dass Milch und belegte Brote gute und richtige Kost für Kinder seien. Nachmittags bekamen sie deshalb Bio-Vollkornbrot und dazu Saft oder Milch. Abends gab es Haferbrei mit Obst, auch, wenn sie bei ihren Müttern waren. Das war leicht zuzubereiten und gesund. Die Haferflocken stammten natürlich auch aus ökologischem Anbau.

Erlend hatte Jytte Brotbacken beigebracht. Jytte und Lizzi hatten sich bis zur Geburt nur von Weißbrot und halbgebackenen Brötchen ernährt, aber Essen für Kinder war nicht einfach Essen, erklärten Krumme und Erlend, es war der Baustein in der unendlich komplizierten Arbeit, einen erwachsenen Körper zu entwickeln. Drei erwachsene Körper.

»Und es soll an nichts fehlen!«, wie Krumme immer sagte, mit so großem Pathos, dass niemand auch nur einen Augenblick daran zweifelte, wie ernst es ihm war, und dass hinter dieser Aussage Geld und Tatkraft steckten.

Erlend fand es wunderbar, wenn Krumme so redete, er fühlte sich dann unendlich geborgen, als stehe er auf der Brücke eines riesigen Schiffes – Krumme Kapitän und er selbst erster Steuermann, beide in feschen Uniformen mit Goldlitzen, Knöpfen und Streifen und weißen Mützen, auf denen über dem leuchtend weißen Schirm ein mit Goldfaden aufgestickter Anker prangte.

Aber sie waren nicht hysterisch. Zwischen den Waren im Küchenschrank stand auch ein Glas Nutella, und wenn sie keinen Biokäse bekommen konnten, kauften sie eine ganz normale und vermutlich schädliche Variante, und das galt auch für Fleisch. Ein gesundes Gleichgewicht.

Wochentags aßen die Kinder mittags nicht zu Hause, da sie einen privaten Kindergarten besuchten, den Erlend als »Übelkeit erregend schweineteuer« bezeichnete. Sie bekamen nicht einmal Mengenrabatt, obwohl alle drei angemeldet waren. Aber das war kein Grund, sich aufzuregen, die Wartelisten waren endlos lang, und sie hatten die Plätze nur bekommen, weil die Leiterin und Gründerin ihre Familienkonstellation »ungeheuer interessant« und »faszinierend« fand und deshalb nach besten Kräften zu einer »funktionierenden Kindheit« für die Kleinen beitragen wollte. Krumme war ziemlich verärgert über diese Ausdrucksweise, schluckte seinen Zorn aber der Kinder wegen hinunter, wie er es später formulierte.

Der Kindergarten zog sein eigenes Gemüse im Garten hinter den Gebäuden, es gab Fisch und weißes Fleisch von freilaufenden Hühnern, und nur einmal in der Woche rotes. Neben hochqualifizierten Pädagogen verfügte der Kindergarten auch über einen eigenen Koch, und der Speiseplan war in Bezug auf Gesundheit und Vielfalt dem des durchschnittlichen dänischen Bürgers weit voraus.

An den Wochenenden aß die Großfamilie entweder bei Jytte und Lizzi oder zu Hause am Gråbrødretorv, am liebsten alle sieben gemeinsam, wenn niemandem etwas anderes dazwischenkam....