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David Lagercrantz

 

Verlag Heyne, 2017

ISBN 9783641199333 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1. KAPITEL

12. Juni

Lisbeth Salander kam gerade aus dem Fitnessraum, als sie von Alvar Olsen, dem Wachleiter des Sicherheitstrakts, auf dem Flur aufgehalten wurde. Er wirkte irgendwie aufgekratzt, redete wild auf sie ein, gestikulierte und wedelte mit ein paar Blättern vor ihrem Gesicht herum. Doch Lisbeth hörte über seinen Wortschwall hinweg. Es war 19.30 Uhr.

19.30 Uhr war die schlimmste Zeit in Flodberga: Da dröhnte draußen der Güterzug vorbei, die Wände wackelten, Schlüssel klimperten, und es roch nach Schweiß und Parfüm. Zu keinem Zeitpunkt war es hier gefährlicher. Gerade jetzt, im Schutz des Eisenbahnlärms und des allgemeinen Durcheinanders kurz vor dem Einschluss, kam es zu den schlimmsten Übergriffen. Wie immer ließ Lisbeth Salander den Blick durch die Abteilung schweifen, und es war kein Zufall, dass sie genau in diesem Moment Faria Kazi erblickte.

Faria Kazi kam aus Bangladesch, war jung und bildschön und saß linker Hand in ihrer Zelle. Auch wenn Lisbeth von ihrem Standpunkt aus nur einen Teil von Farias Gesicht sehen konnte, bestand kein Zweifel, dass die junge Frau geschlagen wurde. Ihr Kopf ruckte wieder und wieder zur Seite, und auch wenn die Schläge nicht übertrieben brutal zu sein schienen, hatten sie doch etwas Rituelles, Routinehaftes an sich. Was immer dort passierte, musste schon seit einer Weile so gehen. Darauf ließen sowohl die Art der Attacke als auch die Reaktion des Opfers schließen. Selbst von Weitem konnte man erkennen, dass es sich um eine Demütigung handelte, die bereits tief in Faria Kazis Bewusstsein vorgedrungen war und jeden Widerstand gebrochen hatte.

Weder versuchten ihre Hände, die Ohrfeigen abzuwehren, noch verriet ihr Blick Erstaunen; eher eine stille, anhaltende Furcht. Sie lebte mit dem Terror. Um das zu erkennen, brauchte Lisbeth nur ihr Gesicht anzuschauen, und es passte auch zu allem anderen, was sie in den vergangenen Wochen im Gefängnis beobachtet hatte.

»Da«, sagte sie und zeigte in Farias Zelle.

Doch als Alvar Olsen sich umdrehte, war schon wieder alles vorbei. Lisbeth verschwand in ihrer eigenen Zelle und schob die Tür hinter sich zu. Von draußen waren Stimmen und gedämpftes Gelächter zu hören – und der Güterzug, der nicht aufhörte zu dröhnen und zu rattern. Sie sah das blanke Waschbecken vor sich, das schmale Bett, das Regal und den Schreibtisch mit ihren quantenmechanischen Berechnungen. Sollte sie weiter versuchen, eine Schleifenquantengravitation zu finden? Sie blickte auf ihre Hand hinab, die etwas festhielt.

Es waren die Papiere, mit denen Alvar Olsen eben noch herumgewedelt hatte. Jetzt war sie doch ein bisschen neugierig. Allerdings entpuppten sie sich als Blödsinn – ein Intelligenztest. Zwei Kaffeespritzer auf dem Deckblatt. Sie schnaubte verächtlich.

Lisbeth hasste es, vermessen und geprüft zu werden. Sie ließ die Blätter zu Boden fallen, wo sie sich wie ein Fächer auf dem Beton verteilten. Für einen kurzen Moment vergaß sie sie sogar komplett, weil sie wieder an Faria Kazi denken musste. Lisbeth hatte nie gesehen, wer sie schlug. Trotzdem wusste sie es genau. Denn obwohl sie sich anfangs nicht darum geschert hatte, was hier um sie herum vorging, war sie gegen ihren Willen in das Gefängnisleben hineingezogen worden, hatte schrittweise die sichtbaren und unsichtbaren Zeichen gesehen und verstanden, wer in Wahrheit über die Abteilung herrschte.

Die Abteilung hieß einfach nur B. Oder Sicherheitstrakt. Sie galt als sicherster Ort in der gesamten Anstalt, und wer zu Besuch kam oder sich nur einen flüchtigen Überblick verschaffte, glaubte das bestimmt auch. Nirgends sonst im Gefängnis gab es derart viel Wachpersonal, derart viele Kontrollen und Resozialisierungsmaßnahmen. Doch wenn man genauer hinsah, ahnte man, dass hier etwas faul war. Die Wärter gaben sich zwar unnachgiebig und autoritär, manchmal auch mitleidig. Aber in Wahrheit waren sie alle feige Hunde. Sie hatten die Kontrolle aus der Hand gegeben und die Macht an den Feind abgetreten – an Benito Andersson und ihre Schergen.

Tagsüber hielt sich Benito zwar zurück und benahm sich fast wie eine Mustergefangene. Doch nach dem frühen Abendessen, wenn die Häftlinge ihre Angehörigen treffen oder trainieren durften, übernahm sie den Laden, und zu keiner Zeit war ihre Terrorherrschaft so stark zu spüren wie jetzt, kurz bevor die Zellen für die Nacht abgeschlossen wurden. Die Insassinnen stromerten zwischen den Zellen umher, Drohungen und Versprechen wurden geflüstert, Benitos Mafiaclan hielt sich auf der einen, ihre Opfer auf der anderen Seite.

Natürlich war es ein Skandal, dass sich Lisbeth Salander hier befand, ja, dass sie überhaupt im Gefängnis saß. Aber die Umstände hatten gegen sie gesprochen, und sie hatte, wenn sie ehrlich zu sich war, nicht sehr überzeugend gegen den Beschluss gekämpft. Ihr kam dies alles hauptsächlich wie eine idiotische Übergangsphase vor, und lange hatte sie gemeint, sie könnte genauso gut im Gefängnis sitzen wie anderswo.

Sie war wegen widerrechtlicher Eigenmacht und grober Fahrlässigkeit zu zwei Monaten Haft verurteilt worden, weil sie sich in das Drama rund um die Ermordung eines gewissen Professors Frans Balder eingemischt hatte, in deren Folge sie einen achtjährigen autistischen Jungen bei sich versteckt und die Zusammenarbeit mit der Polizei verweigert hatte, weil sie – zu Recht – der Meinung gewesen war, dass es in Ermittlerkreisen eine undichte Stelle gab. Dass sie Großartiges geleistet und das Leben des Kindes gerettet hatte, stellte niemand infrage. Trotzdem trieb Oberstaatsanwalt Richard Ekström den Prozess mit großem Pathos voran, und das Gericht folgte seiner Linie, obwohl einer der Schöffen anderer Meinung war und Lisbeths Anwältin Annika Giannini hervorragende Arbeit leistete. Weil Annika allerdings nicht sonderlich viel Unterstützung von Lisbeth bekam, war sie letztlich chancenlos.

Das ganze Gerichtsverfahren über schwieg Lisbeth bockig und weigerte sich auch, in Berufung zu gehen. Sie wollte den ganzen Rummel einfach nur hinter sich lassen und landete zunächst wie erwartet in der offenen Anstalt Björngärda Gård, wo sie große Freiheiten genoss. Dann gingen erste Hinweise ein, Lisbeth könne in Gefahr schweben – was nicht unbedingt erstaunlich war, wenn man bedachte, mit wem sie sich angelegt hatte. Also wurde sie in den Sicherheitstrakt von Flodberga verlegt.

Dies war nicht halb so ungewöhnlich, wie es vielleicht klingen mochte. Lisbeth war hier zwar mit den schlimmsten Verbrecherinnen des Landes zusammengepfercht, hatte aber nicht das Geringste dagegen einzuwenden. Sie war ständig von Wachpersonal umgeben, und tatsächlich waren schon seit Jahren keine Übergriffe oder Gewalttaten mehr aus dieser Abteilung gemeldet worden. Das Personal konnte sich sogar mit einer recht beeindruckenden Statistik über erfolgreich wiedereingegliederte Häftlinge brüsten – wenngleich diese Statistik aus der Zeit vor Benito Anderssons Ankunft stammte.

Von Beginn an war Lisbeth mit Anfeindungen konfrontiert gewesen, und auch das war nicht weiter verwunderlich. Sie unterschied sich deutlich von den anderen Gefangenen, war aus den Medien, aus Gerüchten und den speziellen Informationskanälen der Unterwelt bekannt. Erst vor wenigen Tagen hatte Benito ihr persönlich einen Zettel mit einer Frage zugesteckt: Freund oder Feind? Lisbeth hatte ihn nach einer Minute weggeworfen – hauptsächlich weil sie achtundfünfzig Sekunden lang keine Lust gehabt hatte, ihn zu lesen.

Machtkämpfe und Frontenbildung waren ihr egal. Sie beschränkte sich darauf, die Geschehnisse um sie herum zu beobachten und daraus zu lernen – aber inzwischen hatte sie mehr als genug gelernt. Mit leerem Blick starrte sie auf das Regal mit den quantenfeldtheoretischen Abhandlungen, die sie bestellt hatte, ehe sie sich ins Gefängnis begeben hatte. Im Schrank auf der linken Seite lagen zwei Sets Anstaltskleider mit Emblemen auf der Brust, Unterwäsche und zwei Paar Turnschuhe. Die Wände waren kahl – kein Foto, nicht die geringste Erinnerung an ein Leben außerhalb der Mauern. Für Inneneinrichtung interessierte sie sich hier ebenso wenig wie zu Hause in der Fiskargatan.

Draußen auf dem Flur wurden die Zellentüren abgeschlossen, und normalerweise war das eine Befreiung für sie. Wenn die Geräusche verhallten und es still wurde in der Abteilung, wandte sich Lisbeth der Mathematik zu – und ihrer Absicht, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zusammenzubringen. Darüber vergaß sie sonst immer die Außenwelt. Doch heute war das anders. Sie war irritiert, und das lag nicht nur an dem Übergriff auf Faria Kazi oder all diesen korrupten Vorgängen hier drinnen.

Der wahre Grund war, dass sie sechs Tage zuvor Besuch von Holger Palmgren bekommen hatte, ihrem alten Vormund aus einer Zeit, da die Justiz der Meinung gewesen war, sie könne nicht auf sich selbst aufpassen. Der Besuch an sich war ein Drama gewesen: Holger verließ seine eigenen vier Wände nicht mehr, weil er von den Pflegern und Helfern abhängig war, die ihn in seiner Wohnung in Liljeholmen versorgten. Dennoch hatte er auf dem Besuch bestanden und war mit einem Fahrdienst gebracht und mit dem Rollstuhl ins Gefängnis geschoben worden und hatte in seine Sauerstoffmaske gekeucht. Trotzdem war es schön gewesen. Sie hatten über alte Zeiten gesprochen, und Holger war sentimental geworden und angerührt gewesen. Nur eins hatte Lisbeth gestört: Holger hatte erzählt, er sei von einer Frau namens Maj-Britt Torell aufgesucht worden, einer Sekretärin aus der Kinderpsychiatrie der St.-Stefans-Klinik, in der Lisbeth als Kind untergebracht gewesen war. Die Frau hatte in der...