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Seine dunkelste Stunde - Myron Bolitar ermittelt - Thriller

Harlan Coben

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641178482 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Eine Stunde bevor seine Welt zerplatzte wie eine reife Tomate unter einem Stöckelabsatz, biss Myron in eine frische Pastete, die verdächtig nach einem Klostein schmeckte.

»Und?«, erkundigte sich seine Mutter.

Myron kämpfte gegen den Würgereiz an, errang einen knappen Sieg und schluckte. »Nicht schlecht.«

Mom schüttelte enttäuscht den Kopf.

»Was ist?«

»Ich bin Anwältin«, sagte Mom. »Ich hatte gehofft, dass ich dich zu einem besseren Lügner erzogen hätte.«

»Du hast dein Bestes gegeben«, sagte Myron.

Sie zuckte die Achseln und deutete auf die, äh, Pastete. »Ich hab zum ersten Mal selbst gebacken, Bubbele. Da ist es schon in Ordnung, wenn du mir die Wahrheit sagst.«

»Es ist, als würde man in einen Klostein beißen«, sagte Myron.

»Einen was?«

»Auf Herrentoiletten. In den Pinkelbecken. Die liegen da drin, damit es nicht so stinkt.«

»Und du isst die?«

»Nein …«

»Braucht dein Vater deshalb immer so lange? Gönnt er sich eine kleine Leckerei? Und ich dachte, es wäre die Prostata.«

»Ich hab einen Witz gemacht, Mom.«

Das Lächeln in ihrem Gesicht breitete sich aus und erfasste auch ihre blauen Augen, die rot unterlaufen waren, obwohl sie Augentropfen benutzt hatte. Nur langes, anhaltendes Weinen konnte die Augen so hartnäckig rot färben. Normalerweise war Mom eine großartige Schauspielerin. Sie weinte nicht lange und anhaltend. »Ich auch, du Schlaumeier. Du hältst dich wohl für den Einzigen in der Familie mit Sinn für Humor?«

Myron schwieg. Er sah hinunter auf die, äh, Pastete, befürchtete – oder hoffte? –, sie würde wegkriechen. In den mehr als dreißig Jahren, in denen seine Mutter in diesem Haus lebte, hatte sie nie gebacken – nicht nach Rezept, nicht mit Backmischungen, nicht einmal diese Pillsbury-Knack-und-Back-Croissants aus den kleinen Versandrollen. Ohne ausführliche Anleitung konnte sie kaum Wasser kochen, und sie hatte auch so gut wie nie auf eine andere Weise Speisen zubereitet, auch wenn sie eine unglaubliche Celeste-Tiefkühlpizza zaubern konnte, wobei ihre flinken Finger über die Zifferntasten der Mikrowelle tanzten wie Nurejew durchs Lincoln Center. Nein, im Haushalt der Bolitars war die Küche eher ein Versammlungsort – gewissermaßen ein Wohnzimmer light – als ein Raum, in dem die Kochkunst beheimatet war. Auf dem runden Tisch lagen Zeitschriften, Kataloge und schmutzige weiße Kartons von chinesischen Take-away-Restaurants. Auf der Herdplatte passierte weniger als in einem Merchant-Ivory-Spielfilm. Der Herd war eine Requisite, ein reines Showelement, wie die Bibel bei Politikern.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Sie saßen im Wohnzimmer mit der in die Jahre gekommenen weißen Schlafcouch aus Kunstleder und dem blassblauen Läufer, dessen zottelige Oberfläche Myron an einen Klodeckelbezug erinnerte. Immer wieder warf Myron verstohlene Blicke aus dem Panoramafenster auf das Zu-verkaufen-Schild im Vorgarten, als wäre es ein Raumschiff, das gerade gelandet war und dem jeden Moment ein bösartiges Wesen entsteigen konnte.

»Wo ist Dad?«

Sie gestikulierte unbestimmt in Richtung Tür. »Im Keller.«

»In meinem Zimmer?«

»Deinem früheren Zimmer, ja. Schon vergessen, dass du ausgezogen bist?«

Das war er – und zwar im zarten Alter von vierunddreißig Jahren. Erziehungsexperten würden geifern und missbilligende Schnalzlaute ausstoßen: Der verlorene Sohn hatte sich erst auffallend lange nach dem als angemessen erachteten Zeitpunkt entschieden, seinen Kokon mit den zwei Geschossebenen zu verlassen und in die Freiheit aufzubrechen. Aber Myron konnte dagegenhalten, indem er sich darauf berief, dass der Nachwuchs seit Generationen und in den meisten Kulturen bis ins reife Alter im Haus der Familie lebte, dass eine solche Lebensführung einen gesellschaftlichen Trend auslösen und den Menschen in einer Ära der sich auflösenden Kernfamilie Orientierung geben konnte. Und falls diese Argumentation nicht Ihre Zustimmung finden sollte, würde er einfach auf eine andere ausweichen. Er hatte Tausende davon parat.

Doch in Wirklichkeit war es weit einfacher: Es gefiel ihm bei Mom und Dad in der Vorstadt – auch wenn das Eingeständnis solcher Empfindungen in etwa so hip war wie eine 8-Spur-Kassettenaufnahme der Band Air Supply.

»Also, was läuft hier?«, fragte er.

»Dein Vater weiß nicht, dass du schon hier bist«, sagte sie. »Er glaubt, du kommst erst in einer Stunde.«

Myron nickte leicht verwirrt. »Was macht er im Keller?«

»Er hat sich einen Computer gekauft. Damit spielt er da unten rum.«

»Dad?«

»Meine Worte. Der Mann kann ohne Gebrauchsanleitung keine Glühbirne auswechseln – und plötzlich tut er so, als wäre er Bill Gates. Ständig ist er im Nest.«

»Im Netz«, korrigierte Myron.

»Im was?«

»Es heißt das Netz, Mom.«

»Ich dachte, das heißt Nest. Von Vogelnest oder so.«

»Nein, es heißt Netz.«

»Bist du sicher? Es hatte doch irgendwas mit einem Vogel zu tun.«

»Nein, das Netz«, wiederholte Myron. »Wie das von der Spinne.«

Sie schnippte mit den Fingern. »Eine Spinne war’s. Jedenfalls ist dein Vater immer dort, knüpft am Netz oder so was. Er plaudert mit Leuten, Myron. Das erzählt er mir jedenfalls. Er plaudert mit vollkommen Fremden. Wie damals beim CB-Funk, da hat er das auch gemacht, weißt du noch?«

Myron erinnerte sich. Etwa 1976. Jüdische Dads in den Vororten hielten Ausschau nach »Abfangjägern« auf ihrem Weg zum Feinkostladen: »Mächtiger Convoy von Cadillac Sevilles. 10–4, OMT.«

»Und das ist noch nicht alles«, fuhr sie fort. »Er schreibt seine Memoiren. Ein Mann, der nicht einmal einen Einkaufszettel schreiben kann, ohne im Stilwörterbuch nachzuschlagen, hält sich für einen Ex-Präsidenten.«

Sie verkauften das Haus. Myron konnte es immer noch nicht fassen. Sein Blick streifte über die nur allzu vertraute Umgebung, blieb an den Fotos über der Treppe hängen. An der Kleidung konnte er ablesen, wie die Familie alterte – Röcke und Koteletten wurden mal kürzer, mal länger, Hippie-Fransen, Wildleder, Batikhemden, Freizeitanzüge und Schlaghosen, Smoking-Hemden mit Rüschenbesatz, die selbst bei einen Casinobesuch in Las Vegas als übertrieben empfunden worden wären – Bild für Bild zogen die Jahre vorbei, wie in einem dieser deprimierenden Lebensversicherungs-Werbespot. Er betrachtete die verschiedenen Posen aus seiner Basketballzeit – der Sechstklässler beim Freiwurf in der Vorortliga, der Achtklässler auf dem Weg zum Korbleger, der Highschool-Schüler beim Slamdunk –, die Reihe endete mit zwei Titelblättern der Sports Illustrated, einem aus seiner Zeit auf der Duke University und einem mit Gipsbein unter der Titelzeile in Großbuchstaben: IST ER AM ENDE? (Vor seinem inneren Auge erschien ein ebenso groß geschriebenes JA!).

»Und wo liegt das Problem?«, fragte er.

»Habe ich etwas von einem Problem gesagt?«

Enttäuscht schüttelte Myron den Kopf. »Für eine Anwältin lügst du ziemlich schlecht.«

»Dann bin ich wohl ein schlechtes Vorbild?«

»Kein Wunder, dass ich es nicht in die Politik geschafft habe.«

Sie legte die Hände in den Schoß. »Wir müssen reden.«

Der Ton gefiel Myron nicht.

»Aber nicht hier«, fügte sie hinzu. »Lass uns um den Block gehen.«

Myron nickte, und sie standen auf. Aber noch bevor sie die Tür erreicht hatten, klingelte sein Handy. Wyatt Earp wäre zusammengezuckt, wenn er gesehen hätte, mit welcher Geschwindigkeit Myron es zog. Er hielt es ans Ohr und räusperte sich.

»MB SportsReps«, sagte er. Seidenweich, professionell.

»Nette Telefonstimme«, sagte Esperanza. »Du klingst wie Billy Dee Williams, wenn er sich zwei Colt 45-Biere bestellt.«

Esperanza Diaz war seine langjährige Assistentin und jetzige Partnerin in der Sportagentur MB SportsReps. (M für Myron, B für Bolitar – falls jemand mitschrieb.)

»Ich hatte auf Lamar gehofft«, sagte er.

»Hat er immer noch nicht angerufen?«

»Nein.«

Er konnte sich Esperanzas Stirnrunzeln gut vorstellen. »Wir stecken hier tief in der Scheiße«, sagte sie.

»Wir stecken nicht in der Scheiße. Wir sind nur gerade etwas kurzatmig, weiter nichts.«

»Etwas kurzatmig«, wiederholte Esperanza. »Wie Pavarotti, wenn er beim Boston Marathon mitlaufen würde.«

»Der war gut«, sagte Myron.

»Danke.«

Lamar Richardson war ein Baseballspieler, ein Shortstop mit gewaltiger Schlagkraft, der gerade mit dem Gold Glove ausgezeichnet worden – und zurzeit Free Agent war. »Free Agent« war ein Begriff, den Sportagenten mit ähnlicher Ehrfurcht aussprachen wie ein Mufti »Allahu Akbar«, denn er bedeutete, dass Lamars Vertrag ausgelaufen war, und er sich einen neuen Verein suchen konnte. Außerdem suchte er einen neuen Agenten, der ihn bei dieser Suche vertrat. Und er hatte seine Liste auf drei Agenturen reduziert: zwei riesige Gesellschaften, deren Bürofläche so groß war, dass darin ein Verbrauchermarkt Platz gefunden hätte, und die bereits erwähnten MB SportsReps, wo sich gerade mal drei Personen den Arsch platt saßen, bei der man aber ach so persönlich betreut wurde. Auf geht’s, Plattärsche!

Myron sah seine Mutter an, die an der Tür stand. Er nahm das Handy ans andere Ohr und fragte: »War sonst noch was?«

»Du errätst niemals,...