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Die Gabe des Himmels - Historischer Roman

Daniel Wolf

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641160487 , 960 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Kapitel eins

JUNI 1346

Montpellier, Königreich Mallorca

Als der letzte Student Platz genommen hatte, trat Doctor Girardus von der ehrwürdigen Medizinischen Fakultät Montpellier an den Katheder und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Was er sah, erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Vorne saßen die Studenten aus den Mönchsorden, in der Mitte die Adelssöhne, dahinter jene aus bürgerlichen Verhältnissen; ganz hinten die Armen, die auf mildtätige Stiftungen angewiesen waren. Die Sitzordnung entsprach exakt der von Gott eingerichteten ständischen Gesellschaft. Girardus schätzte es, wenn alles ordentlich war.

Es gab sogar einige Juden und Muslime unter seinen Zuhörern. Die Universität von Montpellier rühmte sich besonderer Offenheit und gestattete auch Nichtchristen ein Studium. Frauen waren selbstredend keine zugegen. Weibliche Studenten – allein der Gedanke ließ den Doctor schmunzeln. Chaos und Verwirrung wären die Folgen solcherart falsch verstandener Toleranz.

Girardus gab dem Pedell ein Zeichen, woraufhin der Hilfslehrer mit dem Stab aufstampfte. Sogleich kehrte Ruhe ein. Girardus öffnete sein Buch.

»Wir hören einen Abschnitt aus ›Über die Natur des Menschen‹ des Hippokrates von Kos«, verkündete der Doctor und begann seinen gelehrten Vortrag in lateinischer Sprache. Girardus hatte sich entschieden, über die Vier-Säfte-Lehre zu referieren, jene Theorie, auf der jegliches medizinisches Wissen basierte, verbreitet von Hippokrates und verfeinert von Galen, den beiden antiken Patriarchen des Arztberufes. Wer die Vier-Säfte-Lehre beherrschte, war gewappnet für die Krankenpflege und konnte es mit jedem Leiden aufnehmen.

»Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, sie stellen die Natur seines Körpers dar, und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund«, trug Girardus vor. »Gesund ist er nun besonders dann, wenn diese Substanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind; Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allen genannten gemischt ist.«

Die Studenten schrieben eifrig mit. Girardus beschloss, spontan ein wenig von dem autoritativen Text abzuweichen. Die Vorlesung vertrug etwas akademische Kühnheit. Er hatte nämlich eigene Überlegungen zur Vier-Säfte-Lehre angestellt und einen Kommentar verfasst, der Hippokrates’ Theorie klug, aber respektvoll ergänzte. Ja, man konnte durchaus sagen, dass der Kommentar die erhabene Symbiose aus Hippokrates’ Weisheit und seiner eigenen Genialität darstellte.

Als Girardus gerade mit seinen Ausführungen beginnen wollte, rief jemand: »Bei allem Respekt, Doctor, aber ich kann es nicht mehr hören!«

Stirnrunzelnd hob Girardus den Kopf. Dies war eine Vorlesung, keine Disputation – Lautäußerungen der Zuhörer waren weder üblich noch erwünscht. Was einige Studenten nicht davon abhielt zu kichern.

»Ich meine, schon wieder die Vier-Säfte-Lehre«, fuhr der Zwischenrufer fort. »Es vergeht keine Woche, ohne dass einer der Doctoren über die vier Säfte, die vier Temperamente oder die vier Elemente referiert. Ich bin sicher, jeder hier kann die Theorie im Schlaf aufsagen. Lernen wir auch einmal etwas anderes?«

Girardus war ein alter Mann; seine Augen und Ohren waren nicht mehr die besten, und er brauchte einen Moment, bis er den Störenfried ausgemacht hatte. Adrianus, natürlich. Ein Medizinstudent im letzten Jahr. Fraglos ein kluger Kopf. Leider auch ein Unruhestifter, dessen Überschuss an Blut und gelber Galle ihn dazu trieb, ständig zu widersprechen.

»Seit fünf Jahren sitze ich hier und höre Euch Doctoren zu, wie Ihr Galen und die anderen antiken Autoritäten zitiert«, fuhr Adrianus fort. »Wenn wir wenigstens einmal Hippokrates’ ›Über das Einrenken der Gelenke‹ hören würden. Aber nein, immer sind es die vier Säfte. Nachts träume ich schon davon, in einem Meer aus Schleim zu ertrinken. Wenn ich ein Bier genießen will, sehe ich einen Humpen mit gelber Galle vor mir. Und wenn ich ein Mädchen betrachte, kann ich mich nicht an ihren Rundungen erfreuen, weil ich mich immerzu frage, ob ihr Blut und ihre schwarze Galle im Gleichgewicht sind.«

Die Studenten johlten. Der Pedell sah sich gezwungen, mit dem Stab aufzustampfen und scharf Ruhe einzufordern.

Girardus’ Stimme knarzte vor Empörung. »Magister Adrianus, ich darf dich daran erinnern, dass wir alle nur Zwerge sind, die auf den Schultern von Riesen stehen. Nicht umsonst lautet das Motto der Medizinischen Fakultät: ›Olim Cous nunc Monspeliensis Hippocrates – In früherer Zeit war Hippokrates von Kos, heute ist er von Montpellier.‹ Wir tun gut daran, die antiken Autoritäten zu respektieren. Sie gründlich zu studieren ist die einzig nutzbringende Art des Lernens. Das gilt auch und besonders für dich.«

»Ich habe nichts gegen die antiken Meister.« Adrianus stand auf. »Aber würde es schaden, gelegentlich auch einmal etwas Neues zu lehren? Womöglich etwas, das uns beim Dienst am Kranken tatsächlich nützt?«

»Die Vier-Säfte-Lehre ist überaus nützlich«, entgegnete Girardus schneidend. »Wer dies bestreitet, ist hier fehl am Platz. Außerdem studiert ihr die Schriften des Constantinus Africanus und des Nicolas von Salerno und bekommt eine profunde Ausbildung in Astrologie!«

»Astrologie ist nicht eben das, was Roger Bacon unter pragmatischer Medizin versteht. Er rät den Ärzten, sich mehr auf die eigene Beobachtung statt auf die Sterne zu verlassen.«

Stille herrschte im Saal, als die Studenten gefesselt dem Wortgefecht lauschten. Girardus war entschlossen, den frechen Magister mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, ihn mit gelehrten Argumenten zu vernichten. »Roger Bacon glaubt auch, dass es eines Tages Wagen geben wird, die ohne jegliches Zugtier fahren, und dass die Menschen mit Fluggeräten zum Himmel aufsteigen werden. Der Mann ist ein Fantast!«

»Mag sein«, sagte Adrianus. »Aber wenigstens hatte er den Mut, überkommene Ansichten infrage zu stellen.«

»Ah.« Der Doctor lächelte dünn. »Und du hältst dich zweifellos für genauso mutig. Dann verrate uns doch, Magister Adrianus – was sollte die Medizinische Fakultät deiner Meinung nach lehren?«

»Wie wäre es mit Chirurgie?«

»Chirurgie ist das Feld des handwerklich ausgebildeten Wundarztes. Der akademische Physicus ist gehalten, den menschlichen Körper unversehrt zu lassen und daher von solch brachialen Methoden Abstand zu nehmen. Fünf Jahre Studium, und ich muss dir tatsächlich solche Selbstverständlichkeiten erklären!« In seinem Zorn nahm Girardus das Lehrbuch in beide Hände und schlug es dröhnend auf das Lesepult.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Chirurgie dem gelehrten Medicus verboten ist«, erwiderte Adrianus. »Aber vielleicht ist diese Regelung unzeitgemäß und töricht und sollte aufgegeben werden.«

»Der Papst selbst hat dies verfügt. Und du nennst es töricht?« Der Doctor schrie nun. »Seit zweiundzwanzig Jahren lehre ich an dieser Universität, aber so eine Frechheit ist mir noch nie untergekommen! Ich sollte dich vor deinen Kommilitonen vom Pedell züchtigen lassen!«

»Ich werde Euch schwerlich daran hindern können.« Adrianus besaß tatsächlich die Unverschämtheit, ihn anzugrinsen. »Zum Glück kenne ich einen guten Wundarzt, der nachher meine Blessuren kurieren wird.«

Das Gelächter der Studenten dröhnte Girardus in den Ohren. Der Doctor richtete einen zitternden Finger auf die Tür.

»Raus«, ächzte er mit erstickter Stimme. »Melde dich sofort beim Rektor.«

»Setz dich«, befahl der Pedell und verschwand in der Amtsstube des Rektors.

Man ließ ihn lange warten. Das war Teil der Strafe und sollte ihn Demut lehren. Adrianus machte das Beste daraus, indem er seine Gedanken treiben ließ und die Studenten beobachtete, die in dem steinernen Wohnhaus ein und aus gingen. Viele von ihnen waren Mönche; besonders an der Theologischen Fakultät waren sie stark vertreten. Auch Adrianus hätte man für einen Ordensbruder halten können, denn wie alle Studenten und Lehrer trug er eine Tonsur und ein schlichtes Gewand. Sämtliche Mitglieder der universitas, der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, gehörten dem Klerus an und unterstanden dem Papst.

Adrianus aber war kein Mönch. Er war der Zweitgeborene des Kaufmanns Josselin Fleury und kam aus der Freien Stadt Varennes-Saint-Jacques im Herzogtum Lothringen. Sein richtiger Name war Adrien, aber da man an der Universität ausschließlich Latein sprach, hatte er ihn entsprechend angepasst. Vor nunmehr acht Jahren war er nach Montpellier gegangen, um zu studieren – zuerst die Sieben Freien Künste an der Artistenfakultät, anschließend die Heilkunst an der renommierten Medizinschule. Denn sein sehnlichster Wunsch war es, Arzt zu werden.

Wobei er sich, was das betraf, schon lange nicht mehr sicher war. Die staubtrockenen Ausführungen eines Girardus, die endlosen Vorlesungen über Astrologie, die kritiklose Verehrung von Galen und Hippokrates seitens der Doctoren – all das erschien ihm inzwischen wie Zeitverschwendung. Wollte er wirklich sein restliches Leben damit verbringen, die Säfte seiner Patienten mit Diäten und fragwürdigen Trünken ins Gleichgewicht zu bringen, obwohl es so viel bessere Methoden gab, ihre Leiden zu lindern?

Er seufzte. Nun, er war es seiner Familie schuldig, zumindest das Studium zu beenden. Nur noch wenige...