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Carnacki, der Geisterdetektiv - Erzählungen

William Hope Hodgson

 

Verlag Festa Verlag, 2017

ISBN 9783865524362 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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7,99 EUR


 

Der unsichtbare Wächter

Carnacki war also zurückgekehrt in sein Haus am Cheyne Walk in Chelsea, denn wie sonst hätte ich diese Postkarte in den Händen halten können? Die übliche Karte, die ich nun wieder las und die mich knapp und doch auch förmlich für den heutigen Abend einlud: Mein Erscheinen sei gewünscht, wenn es mir denn genehm wäre – und zwar für nicht später als sieben Uhr.

Carnacki hatte die letzten drei Wochen in Kent verbracht, so viel war mir und den anderen aus dem kleinen Kreis guter Freunde bekannt. Aber das war schon alles, was wir wussten, denn Carnacki war – bei aller Freundschaft – wortkarg und verschwiegen, und niemand brachte auch nur eine Silbe aus ihm heraus, bevor er die Gelegenheit für gekommen hielt.

Doch dann traf ganz unvermeidlich eine Karte oder ein Telegramm ein, und wir vier machten uns ebenso unvermeidlich auf den Weg. Wir, das waren außer mir noch Jessop, Arkright und Taylor, und keiner von uns hat je aus freien Stücken eine solche Einladung ausgeschlagen. Das Dinner war stets leicht und unaufwendig, mit Bedacht, und gewöhnlich hob der Hausherr die Tafel alsbald auf, um es sich in seinem großen Lehnsessel gemütlich zu machen. Er zündete die Pfeife an, wartete noch, bis wir anderen unsere Plätze rund um den Kamin eingenommen hatten – dann redete er.

An diesem Abend nun traf ich als Erster ein und fand Carnacki über seiner Zeitung sitzend, die Pfeife in der Hand. Er erhob sich kurz, begrüßte mich mit festem Händedruck und zeigte auf einen Stuhl, ohne dass wir ein einziges Wort gewechselt hatten. Und da ich ihn kannte, verkniff ich mir jedwede neugierige Frage und nahm mir stattdessen eine Zigarette. Bald erschienen auch die drei anderen Freunde, und so verbrachten wir eine angenehme und nicht im Mindesten langweilige Stunde beim Essen.

Doch jetzt war es so weit. Wie gewohnt ließ sich Carnacki in seinen Lehnstuhl sinken, stopfte die Pfeife und paffte eine Weile vor sich hin, den Blick nachdenklich auf das Kaminfeuer gerichtet. Auch wir suchten uns jeder einen bequemen Sitzplatz und warteten gespannt auf seinen Bericht. Langatmige Vorreden waren Carnackis Sache nicht, schon mit dem ersten Satz war er mitten in der Geschichte angelangt: »Ich komme soeben aus Burtontree im Süden Kents, dem Landsitz Sir Alfred Jarnocks«, sagte er, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden. »Dort hat sich etwas sehr Merkwürdiges zugetragen, sodass Mr. George Jarnock – der älteste Sohn des Hauses – sich veranlasst sah, mich telegrafisch zu Hilfe zu rufen. Und weil ich glaubte, etwas für ihn tun zu können, machte ich mich auf den Weg.

Es gibt dort, in einem Seitenflügel des Schlosses, eine alte Kapelle, von der seit jeher behauptet wird, dass es darin ›spuke‹. Man war sogar ein bisschen stolz darauf, wie sich herausstellte, bis nun diese unschöne Sache passierte und jedermann daran erinnert wurde, dass – unbescheidenerweise – Schlossgespenster sich nicht immer nur als hübsche Dekoration verstehen wollen.

Ich weiß, es klingt fast schon albern, wenn sich eine uralte Geschichte, die man für ein Märchen hält – außer vielleicht in mondlosen Nächten, während der Wind ums Schloss pfeift –, plötzlich als wahr erweisen soll, als eine reale Gefahr … Doch wie dem auch sei: Der Spuk (oder wenn es euch lieber ist: die übernatürliche Macht) hatte sich eines anderen besonnen und war zur Tat geschritten, und so wurde eines Abends in der Kapelle mit einem ganz bestimmten Dolch auf den alten Butler eingestochen, dass er nur um Haaresbreite dem Tod entging.

Es ist ebendieser Dolch, auf dem der Spuk beruhen soll. Zumindest spielt er eine wichtige Rolle, denn die Überlieferung der Jarnocks besagt, dass diese Waffe ›jedermann blutig strafen wird, der des Nachts in böser Absicht die Kapelle betritt‹. So heißt es, und bis dato hatte man dies ebenso wenig ernst genommen wie andere Spukgeschichten auch; allerdings ist anzumerken, dass den meisten Leuten selbst nicht klar ist, wie ernst sie das Übernatürliche und seine Macht eigentlich nehmen, und gewöhnlich haben sie auch nie Gelegenheit, hier etwas dazuzulernen. Ihr wisst nun, dass ich, was die Geisterwelt angeht, der geborene Skeptiker bin – mit einer wesentlichen Einschränkung jedoch: Ich bin ein unvoreingenommener Skeptiker. Und es ist nicht meine Art, etwas ›aus Prinzip‹ für möglich oder unmöglich zu halten, denn solche Prinzipien sind Sache von Ignoranten, die sich dessen meist auch noch rühmen. Ich dagegen betrachte einen Fall von ›Spuk‹ zunächst einmal als unbewiesen, um mich dann mit meinen Untersuchungen Schritt für Schritt dem Kern der Sache zu nähern, und ich muss zugeben, dass es sich in 99 von 100 Fällen um Hirngespinste oder einfach nur dummes Zeug handelt. Aber das 100. Mal! … Na ja – wenn das nicht wäre, dann gäbe es an Abenden wie diesem nicht viel zu erzählen, oder?

Natürlich war nach der Attacke auf den Butler klar, dass an der Geschichte von dem Dolch ›etwas dran‹ sein musste, und jedermann im Hause Jarnock war geneigt zu glauben, dass das antike Stück rätselhafterweise aus eigener Kraft oder in der Hand eines unsichtbaren Wesens nicht von dieser Welt seinen Streich geführt hatte. Aber natürlich war es weitaus wahrscheinlicher, dass das von niemandem gesichtete Wesen ein ganz und gar diesseitiger Übeltäter war – dafür sprach meine nicht geringe Erfahrung in solchen Dingen.

Das war der Punkt, den es als Erstes zu klären galt, und so machte ich mich daran, alle Augenzeugen und sonst wie Beteiligte aufs Peinlichste zu befragen.

Über das Ergebnis war ich gleichermaßen überrascht und erfreut, denn ich hatte nun guten Grund zu glauben, dass es sich tatsächlich um eine der seltenen Manifestationen des Übernatürlichen handelte – volkstümlich ausgedrückt: um einen Spuk.

Doch zunächst einmal die Fakten: Es ist fast zwei Wochen her, dass sich die Familie Jarnock samt Gesinde wie gewohnt am Sonntagabend zum Gottesdienst in der Kapelle versammelt hatte. Abgehalten wird er vom Pfarrer der nahen Gemeinde, der sich nach Erledigung seiner übrigen Pflichten auf den Weg ins Schloss macht, immerhin drei Meilen.

Hinterher standen Sir Alfred Jarnock, sein Sohn George und der Pfarrer noch einige Minuten beisammen, während der alte Butler, Bellett, die Runde machte, um die Kerzen zu löschen. Zwischen den Bankreihen standen sie, nicht weit vom Ausgang, als dem Pfarrer einfiel, dass er sein kleines Gebetbuch auf dem Altar hatte liegen lassen. Also rief er dem Butler zu, es bei seinem Gang durch den Chor doch mitzunehmen.

Alle diese Einzelheiten bitte ich genau zu beachten, ebenso dass der Pfarrer sich dabei dem Butler zugewandt hatte und so Sir Alfred Jarnock und dessen Sohn veranlasste, in dieselbe Richtung zu sehen. Was für ein Glücksfall, möchte man fast sagen, denn so wurden gleich drei Menschen Zeuge dessen, was dem Mann vorn im Mittelgang geschah, während der Chor noch hell erleuchtet war – denn genau in diesem Augenblick war es, dass der Dolch ihn traf.

Den Pfarrer wollte ich so bald als möglich befragen, gleich nach Mr. George Jarnock, der mich bat, auch für seinen Vater sprechen zu dürfen: Der sei offensichtlich noch sehr mitgenommen von dem Geschehenen und sollte nicht immer von Neuem daran erinnert werden.

Was der Pfarrer nun zu berichten hatte, ließ sich lebhafter gar nicht schildern, und es gab keinen Zweifel, dass Erstaunlicheres oder Erschreckenderes ihm nie in seinem Leben widerfahren war. Klar und deutlich sehe er den alten Bellett noch vor sich, sagte er, wie er auf die Pforte in der Chorschranke zuging. Ganz allein, niemand sonst zu sehen – und dann dieser gewaltige Hieb aus dem Nichts, der den alten Mann der Länge nach durch den Mittelgang schleuderte. Als ob ihn ein riesiges Pferd getreten hätte, meinte der Pfarrer, übermächtig und unsichtbar zugleich … Und das Leuchten in seinen großen, gütigen Augen verriet mir, wie sehr er noch im Bann eines Geschehens stand, das er bis dahin für schlechthin unmöglich gehalten hatte.

Als ich ging, nahm er das Blatt Papier wieder zur Hand, an dem er geschrieben hatte. Ich möchte wetten, dass er die erste unorthodoxe Predigt seines Lebens entwarf. Ein netter Bursche war er, und diese Kanzelrede hätte ich bestimmt nicht versäumt, wäre ich lange genug an jenem Ort geblieben.

Den Butler befragte ich zuletzt. Er war körperlich und seelisch in einem bedauernswerten Zustand, verständlicherweise, und auch seine Aussage deutete fast unvermeidlich auf das Wirken einer übernatürlichen Macht dort in der Kapelle hin. Bis ins kleinste Detail bestätigte er, was auch die anderen Zeugen gesagt hatten: Auf dem Weg in den Chor sei er gewesen, um die restlichen Kerzen zu löschen und das Gebetbuch des Pfarrers vom Altar zu holen, als er plötzlich einen gewaltigen Schlag gegen die Brust spürte und zurück in den Mittelgang geschleudert wurde.

Wie sich herausstellte, hatte ihn jener Dolch getroffen, der seinen Platz seit jeher an der Wand über dem Altar hat – doch davon später. Die Waffe verfehlte das Herz nur um eine Handbreit, als sie dicht unter dem Schlüsselbein eindrang, das durch die Gewalt des Stoßes brach. Glatt und sauber durchbohrte die Klinge den Brustkorb und trat neben dem Schulterblatt wieder aus.

Das Reden fiel dem armen Kerl schwer, und so belästigte ich ihn nicht lange, zumal ich in einem Punkt nun Gewissheit hatte: dass sich nämlich zum Zeitpunkt der Attacke in einem Umkreis von mehreren Metern kein menschliches Wesen befand.

Das Nächste war nun, sich diese Kapelle einmal genauestens anzuschauen. Klein ist sie und sehr...