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Animox 3. Die Stadt der Haie

Aimée Carter

 

Verlag Verlag Friedrich Oetinger, 2017

ISBN 9783960520139 , 330 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Erstes Kapitel Sturzflug


Eigentlich war Simon Thorn kein Angeber.

Er mochte es nicht, wenn andere Leute sich aufspielten. Und er selbst hatte normalerweise sowieso nicht viel, womit er angeben konnte. Simon war ein durchschnittlicher Zwölfjähriger mit durchschnittlichen Noten und durchschnittlichem Aussehen, abgesehen von seiner unterdurchschnittlichen Größe. Er stach aus keiner Menge heraus. Obwohl die überdurchschnittlich vielen Raufbolde, mit denen er es bereits zu tun gehabt hatte, ja einen Grund gehabt haben mussten, um gerade auf ihm herumzuhacken. Nur welchen? Er wusste es nicht.

Aber als er dreihundert Meter über dem Central Park durch die Luft flog, seine Goldadlerflügel links und rechts neben dem gefiederten Körper ausgestreckt, hatte er plötzlich doch etwas, womit er angeben konnte.

Ein Rotschwanzbussard reckte etwa hundert Meter hinter ihm die Klauen in die Luft und mühte sich ab, seine Flughöhe zu halten. Er scheiterte kläglich, und jeder zufällige Beobachter hätte geglaubt, dass es sein erster Flug war. Dabei war er schon mindestens dreimal geflogen – aber er hatte den Dreh noch immer nicht raus. Simon hatte sich bei seinem ersten Flug geschickter angestellt, und in Anbetracht der Tatsache, dass der Bussard ihn aus seinem warmen Bett gezerrt hatte, um die über Nacht gefallene Schneedecke von oben zu bewundern, spürte er ein deutliches Gefühl der Genugtuung.

»Simon, flieg langsamer! Du bist zu schnell!«, rief der Bussard.

»Und du strengst dich zu sehr an«, rief Simon zurück und stieß zu ihm herab. »Du musst nicht ständig mit den Flügeln schlagen. Lass dich einfach vom Wind tragen und vertrau deinem Instinkt.«

»Du hast gut reden. Du fliegst ja schon seit Monaten«, grummelte der taumelnde Bussard. Er verlor ganz plötzlich an Höhe, und Simon hörte ihn panisch nach Luft japsen. Es wäre beinahe komisch gewesen, wenn Simon nicht ernstlich gefürchtet hätte, der Bussard könnte auf den gefrorenen Boden stürzen.

»Lass uns eine Pause machen«, schlug Simon vor. »Siehst du den Baum dahinten? Den großen?«

»Da sind jede Menge Bäume!«

»Flieg mir einfach nach.« Simon flog langsamer, damit der Bussard ihm folgen konnte, steuerte auf einen Ast zu, breitete die Flügel zum Bremsen aus und ergriff mit den Klauen das kalte Holz.

Der Bussard war weniger erfolgreich. Er streifte den Ast noch nicht einmal. Stattdessen landete er, wie Simon hilflos mit ansehen musste, kopfüber in einer Schneewehe.

»Nolan!« Simon flog sofort zu dem Loch, das der Vogel im Schnee hinterlassen hatte. Sein Puls raste, während ihm entsetzliche Bilder durch den Kopf schossen. »Nolan, geht es dir …«

Ein Junge, der die gleichen blauen Augen hatte wie Simon, streckte den Kopf aus dem Schnee und rief fröhlich: »Das war fantastisch!«

Simon stieß einen Fluch aus, der seinen Onkel Malcolm veranlasst hätte, ihm einen Klaps zu geben, und verwandelte sich in menschliche Gestalt. Er plumpste rückwärts auf den kalten Boden, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, als wären sie noch immer die Flügel des Goldadlers. »Ich dachte, du wärst tot!«

»Quatsch, so schnell geh ich nicht drauf.« Sein Zwillingsbruder strich sich den Schnee aus den hellbraunen Haaren, die erst letzte Woche geschnitten worden waren. Die Frisur war der einzige Unterschied zwischen den beiden Jungen: Simons Haare, ebenfalls hellbraun, waren lang und zottelig, nachdem er monatelang keine Schere in ihre Nähe gelassen hatte. Malcolm hatte mehrmals versucht, ihn zu einem Haarschnitt zu bewegen, doch Simon hatte sich immer wieder geweigert, und schließlich hatte sein Onkel aufgehört, ihn zu drängen.

Simon seufzte. Der rötliche Himmel färbte sich golden, während die Sonne hinter der Skyline von Manhattan emporkletterte. »Wir müssen zurück, bevor das Rudel uns erwischt.«

»Ach was, wir haben noch jede Menge Zeit«, widersprach Nolan, erhob sich und dehnte seine Schultern mit kreisenden Bewegungen. »Ich will noch ein bisschen fliegen.«

»Du meinst, du willst noch ein bisschen abstürzen«, entgegnete Simon. »Erst mal musst du lernen, wie man landet. Es wird nicht immer ein weicher Schneehaufen auf dich warten … He, Nolan!«

Doch sein Bruder animagierte bereits. Sein schmaler Körper schrumpfte, braune Federn sprossen aus seiner Haut und seiner Kleidung, während seine Arme zu Flügeln wurden und seine Füße sich zu gelben Krallen krümmten. Innerhalb eines Herzschlags hatte sich sein Bruder in einen Goldadler verwandelt, die gleiche Gestalt, die Simon zuvor angenommen hatte.

»Fang mich!«, krächzte der Adler, und bevor Simon widersprechen konnte, erhob er sich ungelenk aus dem Schnee, schwankend und heftig mit seinen großen Flügeln schlagend.

Simon blickte sich besorgt um und hoffte, dass niemand gesehen hatte, was passiert war. Zwei Jungen, die aus dem Nichts heraus in einer Schneewehe auftauchen – das ließ sich noch irgendwie erklären. Aber bei einem Jungen, der sich in einen Vogel verwandelte, sah das schon anders aus.

Die meisten Leute in New York City waren ganz normal, doch Simon und sein Bruder waren Animox – sie gehörten zu einer geheimen Gruppe von Menschen mit der Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln. Hier in New York befand sich die berühmteste Animox-Akademie des Landes: die Leitende Animox-Gesellschaft für Exzellenz und Relevanz, kurz L. A. G. E. R., in einem versteckten Gebäude unter dem Central Park Zoo. Raubtiere aus allen fünf Königreichen gingen dort zur Schule und lernten nicht nur Geschichte, Zoologie und das Kämpfen in ihrer jeweiligen Animox-Gestalt, sondern auch die Gesetze ihrer Welt. Das wichtigste Gesetz war, dafür zu sorgen, dass kein Mensch je von ihnen erfuhr. Wenn also irgendjemand Nolan gerade beim Animagieren gesehen hätte, hätten sie beide jetzt ein echtes Problem.

Doch von den wenigen Leuten, die um diese Uhrzeit im Park unterwegs waren, schien niemand in ihrer Nähe zu sein, und Simon dankte seinem Glücksstern. Er verwandelte sich wieder in einen Adler, ließ sich von einem Luftstrom tragen und schraubte sich in den Himmel, bis er seinen Bruder eingeholt hatte.

»Wo willst du hin?«, rief Simon. Sie steuerten geradewegs auf den Central Park Zoo zu, wo er mehrere graue Wölfe über die verlassenen Pfade streichen sah.

»Was glaubst du?« Nolan lachte schallend und flog schwankend noch höher. Simon stockte der Atem, als sein Bruder den Zoo und damit auch mögliche weiche Landeplätze hinter sich ließ. Stattdessen düste er auf einen Wolkenkratzer einige Blocks weiter zu. Das gläserne Kuppeldach reflektierte die Strahlen der frühen Morgensonne, und Simons Herz setzte kurz aus.

Der Sky Tower.

»Nolan, nein!«, schrie er, doch seine Stimme verlor sich im Wind. Sein Bruder streckte die Klauen aus, und es gelang ihm auf wundersame Weise, die Dachkante zu erreichen, wo er einen schrecklichen Augenblick lang nach hinten zu kippen schien, bevor er das Gleichgewicht wiedererlangte.

»Siehst du? Ich werde immer besser«, sagte Nolan stolz und trippelte auf die Kuppel zu. Simon landete neben ihm und schlitterte über das vereiste Glas.

»Wir sollten nicht hier sein«, keuchte er und drehte seinen Adlerkopf zur Seite, während sich ein Knoten aus Angst in seinem Hals formte. »Orion …«

»Orion ist nicht hier.« Nolan plusterte das Gefieder auf, aber immerhin hatte er genug Verstand, um sich nicht zurück in menschliche Gestalt zu verwandeln. Nicht vierzig Stockwerke über dem Erdboden. »Und wenn er hier wäre, würde ich ihn umbringen.«

Simon verlagerte nervös das Gewicht. Orion war der Herr des Vogelreichs und leider auch ihr Großvater, der Vater ihrer Mutter. Trotz der familiären Verbindung hatte er vor wenigen Monaten versucht, Simon vom Dach des Sky Towers zu stoßen. Zu seinem großen Glück hatte Simon im freien Fall zum ersten Mal animagiert und war dem sicheren Tod entkommen. Doch es war nicht das einzig Schreckliche, was er auf diesem Dach erlebt hatte.

Den Großteil seines Lebens hatte Simon an der Upper West Side von Manhattan gelebt, gleich gegenüber vom Central Park, bei seinem Onkel Darryl. Darryl war ebenfalls ein Animox gewesen – ein riesiger grauer Wolf, was Simon jedoch erst erfahren hatte, als seine Mutter von der Rattenarmee entführt worden war und sein Onkel ihn vor den bissigen Nagern gerettet hatte.

Seine Suche hatte ihn schließlich hierher geführt: auf das Dach des Sky Towers, wo Orion Darryl vor Simons Augen getötet hatte. Als er nun dort im eisigen Wind kauerte, konnte er die Stelle sehen, an der sein Onkel gestorben war. Im Laufe der Zeit hatten Regen und Schnee die letzten Blutspuren abgewaschen, doch Simon sah noch immer den leblosen Körper seines Onkels vor sich.

»Wir müssen gehen«, sagte er und schluckte, als er sich wegdrehte. Nolan wollte protestieren, doch nach einem Blick auf seinen Bruder besann er sich eines Besseren.

»Oh … das hatte ich ganz vergessen. Dein Onkel.«

»Er war auch dein Onkel«, sagte Simon rau, obwohl Nolan Darryl nie richtig kennengelernt hatte. Kurz nachdem Orion Simons Vater getötet hatte, hatte seine Mutter die neugeborenen Zwillinge getrennt, um sie vor Orion zu schützen. Simon wurde von Darryl großgezogen, Nolan von der Alpha des Säugerreichs, Celeste, die Darryls und Malcolms Mutter war und Simons Vater adoptiert hatte. Die Entscheidung seiner Mutter hatte sie geschützt, aber sie hatte auch zur Folge gehabt, dass Simon und Nolan einander nicht nur nie begegnet waren, sondern nicht einmal voneinander gewusst hatten,...