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Die Schlaflosen - Thriller

Graham Masterton

 

Verlag Festa Verlag, 2017

ISBN 9783865525475 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

2

An der Tür des Arbeitszimmers ertönte ein zaghaftes Klopfen. Wie von der Tarantel gestochen warf Michael seine Ausgabe der Zeitschrift Mushing weg und sprang von der Ledercouch auf. Als Jason die Tür öffnete und eintrat, saß Michael an seinem Schreibtisch vor dem Fenster, den Kopf auf eine Hand gestützt, während er mit der anderen auf einem Notizblock kritzelte, als täte er es schon seit Stunden.

Er machte weiter, als sich Jason dem Schreibtisch näherte. Jason trat leise auf, weil er wusste, dass sein Vater beschäftigt war und es nicht mochte, wenn seine Gedankengänge unterbrochen wurden. Jason war 13, dünn, sanftmütig und groß für sein Alter, das blonde Haar kurz gestutzt wie eine Scheuerbürste. Er trug eine Clark-Kent-Brille mit schwarzem Gestell, die seine Ohren abstehen ließ, aber er besaß unheimlich fesselnde blaue Augen, klar wie zwei spiegelglatte Seen, und einen bezaubernden, trockenen Sinn für Humor. Er trug ein T-Shirt mit der roten Aufschrift Legastheniker verheddren Buschtaben.

Michael drehte sich auf seinem abgewetzten, grünen Lederstuhl herum und fragte mit bemühter Geduld: »Ja, Jason, was gibt’s?«

»Draußen ist so ein Typ, der will mit dir reden«, antwortete sein Sohn.

»Ein Typ also, ja?«, hakte Michael nach. »Hat der Typ auch gesagt, was er will?«

Jason zuckte mit den Schultern. »Er hat nur gesagt: ›Ist Mr. Rearden zu Hause?‹«

Michael lehnte sich auf dem Stuhl zurück und tippte sich mit dem Kugelschreiber gegen die Schneidezähne. »Er hat nichts von der Games Company erwähnt?«

»M-m.«

»Ich erwarte nämlich jemanden von der Games Company. Siehst du all das Zeug auf dem Schreibtisch? Die Hunderte kleiner Zettel? Das ist es, mein neuester Goldesel. Projekt X.«

Jason spähte aus dem Augenwinkel zu den unzähligen Haufen von Kärtchen, Post-its, Zeitungsausschnitten, Blättern aus Notizblöcken und herausgerissenen Zeitschriftenartikeln, die sich alle leicht in der Brise regten, die zart durch das halb offene Fenster hereinwehte.

»Du willst in die Altpapierverwertung einsteigen?«, riet er.

Michael ließ den Arm vorschnellen und versetzte ihm einen angedeuteten Klaps hinters Ohr. »Altpapierverwertung! Klugscheißer!«

Er schwenkte wieder herum und ergriff seinen Notizblock. »Das, mein Freund, ist das erste bedeutende neue Fragenspiel seit Trivial Pursuit. Das wird Millionen einbringen. Ach was, gelogen – Milliarden. In den kommenden Jahren wird man dieses Spiel in einem Atemzug mit Monopoly und Scrabble nennen. Dann werden du und ich in Saus und Braus in Palm Beach leben, mit Schnellbooten, Lamborghinis und so vielen Zuckerschnecken, wie wir verkraften. Na ja, so vielen Zuckerschnecken, wie du verkraftest. Ich bin rundum zufrieden mit deiner Mutter.«

Jason betrachtete das Chaos mit ernster Miene und meinte: »Sieht irgendwie kompliziert aus.«

Michael verzog das Gesicht. »Oh, klar. Jetzt sieht es kompliziert aus. Aber denk mal darüber nach: Bevor man eine Uhr zusammenbaut, sieht sie auch irgendwie kompliziert aus, oder? All die kleinen Rädchen und der Kram. Aber wenn ich erst mal fertig bin« – er schichtete einige Zettel zu einem Stoß – »tja, dann wird es weniger kompliziert sein.«

»Der Typ hat gesagt, er muss unbedingt mit dir reden.«

»Ach ja, der Typ. Hat er dir verraten, wie er heißt?«

»Rocky Woods, glaube ich.«

Mit schlagartig ernster Miene sah Michael seinen Sohn an. »Rocky Woods? Das hat er gesagt?«

»Seine exakten Worte waren: ›Ich muss mit deinem Vater reden. Frag ihn, ob er sich an Rocky Woods erinnert.‹«

Einen Moment lang bedeckte Michael mit der Hand den Mund und schwieg. Nur seine Augen verrieten, was ihm durch den Kopf ging. Sie zuckten hin und her, als lese er von einem Teleprompter ab oder erinnere sich lebhaft und in mehr Einzelheiten als die meisten Menschen an etwas, das ihn einst aufgewühlt hatte.

»Dad?«, fragte Jason. »Hab ich was falsch gemacht? Willst du, dass ich ihm sage, er soll gehen?«

Aber Michael streckte den Arm aus, ergriff Jasons Handgelenk, drückte es, bemühte sich zu lächeln und erwiderte: »Du hast alles richtig gemacht. Geh und bitte ihn herein, ja?«

»Okay, wenn du meinst.«

Nachdem Jason losgerannt war und die Tür angelehnt gelassen hatte, stand Michael auf und ging um den Schreibtisch herum zum Fenster. Sein Arbeitszimmer war kaum mehr als ein heruntergekommener Wintergarten mit Aussicht auf die grasbewachsenen Dünen des Strands von New Seabury und das immerblaue Wasser von Nantucket Sound. Der Rest des Gebäudes war genauso spartanisch – ein Sommerhäuschen mit drei Schlafzimmern, das er von einem Freund bei Plymouth Insurance gekauft hatte. Es bestand aus nackten, abgewetzten Dielen, Quäker-Einrichtung und Läufern in indianischem Stil. Als sein Freund mit seiner Familie aus Boston hergekommen war, um zu sehen, wie es Michael erging, hatte er scherzhaft gemeint, es fühle sich an, als verbrächte man ein Wochenende mit den Pilgervätern – »Succotash, Kürbiskuchen und die große Frage, wie man durch den Winter kommt«.

Michael war ein schlanker, 34-jähriger Mann mit falkenartiger Nase, mattbraunen, kurz gestutzten Haaren und blauen, undurchsichtigen Augen, während die seines Sohnes blau und klar waren. Er war auf die Weise attraktiv, wie es Jimmy Dean oder der junge Clint Eastwood gewesen waren – er wirkte ein wenig zu abgehärmt, leicht verwirrt und verletzt in der Art, wie er Menschen ansah. In seinem blau karierten, kurzärmligen Hemd muteten seine Handgelenke knorrig und so an, als bestünden sie aus drei Gelenken, und seine kurze, khakifarbene Wanderhose betonte seine schlaksigen Beine wenig vorteilhaft. Seine Bewegungen kamen einem zögerlich vor, zurückhaltend, gelegentlich beinah weibisch. Dennoch bestand kein Zweifel an seiner Männlichkeit. Abgesehen davon, dass er der hübschesten Frau bei Plymouth Insurance den Hof gemacht und sie letztlich geheiratet hatte, entsprachen seine Interessen dem klassisch männlichen Schema: Angeln, Baseball, Bier und Herumbasteln an allen möglichen Dingen.

Seine größte Leidenschaft bezeichnete er selbst als »Windrichtungsdenken« – was bedeutete, dass man Probleme löste, indem man sich in Windrichtung von hinten an sie anpirschte und sich dann auf sie stürzte, wenn sie am wenigsten damit rechneten. Seit dem Umzug nach New Seabury vor über anderthalb Jahren hatte er ein selbstlösendes Gewicht zum Auswerfen von Angelleinen in Rekordweiten erfunden und Patsys elektrisches Trainingsgerät in eine Vorrichtung umgebaut, mit der man Seepocken, Napfschnecken und andere Schalentiere von Jachtkielen entfernen konnte. Auf dieselbe Weise, wie das Trainingsgerät bewirkte, dass sich menschliche Muskeln zusammenzogen, brachte der »Kletten-Zapper« zweischalige Muscheln dazu, ihren gesamten Körper zu verkrampfen, wodurch sie buchstäblich vom Kiel sprangen.

Aber zwei mittelprächtig erfolgreiche Erfindungen hatten nicht annähernd genug an Einkommen generiert, um dafür zu sorgen, dass Patsy weiterhin Strumpfhosen oder Jason weiterhin Adidas tragen konnte, und sie lebten nach wie vor sehr wie die Pilgerväter. Nur gab es Hackbraten statt Succotash und Wackelpudding statt Kürbiskuchen, und sie fragten sich regelmäßig, wie sie bis zum Monatsende überleben sollten, ohne überhaupt erst an den Winter zu denken.

Michael beobachtete, wie die Schatten der Wolken über den Sand wanderten. Sie erinnerten ihn an riesige Rochen, die flink und lautlos über den Meeresboden glitten. Er erblickte drei Kinder, die einen roten Kastendrachen steigen ließen, und eine Frau in rosa Badeanzug mit einem riesigen rosa Hut, die mit einem braunen und weißen Cockerspaniel spazieren ging. Wenn man diese Szene nur genauso einfangen könnte, wie sie war, einschließlich Wind und Bewegung und Ton samt den Netzvorhängen, die sich am Fenster kräuselten. Er lächelte bei sich, als ihm klar wurde, dass er gerade das Fernsehen erfunden hatte.

Es ertönte kein Klopfen an der Tür, aber er hörte, wie sie ein wenig weiter aufschwang. Michael drehte sich um, und da stand Joe Garboden, wie er ihn in Erinnerung hatte, in einem malvenfarben, grün, kirschrot und gelb gestreiften Blazer, der anmutete, als wäre er von den Mambo Kings als zu protzig abgelehnt worden. Joe besaß einen großen Kopf, dichtes, schwarzes, schmieriges Haar und Wangen mit der Beschaffenheit von Blumenkohl. Seine Augen saßen tief in den Höhlen und funkelten, aber auf freundliche Weise, und er lächelte viel – jedenfalls mehr als der Durchschnitt –, wodurch er zu einem der erträglichsten Überbringer schlechter Neuigkeiten wurde, die Michael je kennengelernt hatte.

»Hallo, Joe«, begrüßte er ihn und behielt die Hände tief in den Taschen seiner Wandershorts vergraben.

Joe kam näher und stellte sich neben ihn, eine Hand ausgestreckt. Er wartete und wartete, bis er letztlich meinte: »Was ist denn los, Michael? Ist es wichtiger, mit deinem Dödel rumzuspielen, als einen alten Kollegen mit Handschlag zu begrüßen?«

Zögerlich nahm Michael eine Hand aus der Tasche und schüttelte die ihm dargereichte. Joe lächelte, dann starrte er auf seine Handfläche und sagte: »Ich hoffe, du hast nicht wirklich mit deinem Dödel gespielt.«

»Siehst du mich erblinden? Wohl eher nicht, oder?«, konterte Michael.

»Das liegt aber nur daran, dass du’s nicht richtig machst.«

Joe legte seinen speckigen Panamahut auf den Schreibtisch, direkt auf Michaels...