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Amrita. Am Ende beginnt der Anfang

Aditi Khorana

 

Verlag Dressler Verlag GmbH, 2017

ISBN 9783862720569 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

Eins


Als ich hereinkam, stand Vater auf dem Balkon seiner Bibliothek. Von der Tür aus konnte ich sehen, wie die versinkende Sonne das Land, das er von seinem Vater geerbt hatte und von dem ich immer gedacht hatte, ich würde es eines Tages von ihm erben, mit seinen Hügeln und Ebenen in goldenen Glanz tauchte und die schneebedeckten Berggipfel in der Ferne wie goldgewirkte Baumwolle glitzern ließ.

Blaue und silberne Türmchen erhoben sich über Ananta, der befestigten Hauptstadt von Shalingar. Über dem Chanakya-See lagen Nebelschleier, zwischen denen winzig klein und friedlich Hausboote zu erkennen waren, die auf ihren Dächern sorgsam angelegte Gärten trugen, wie Hüte aus Moos.

Nur ich war alles andere als friedlich. Während ich den großen, mit unvergleichlichem Filigranwerk ausgestatteten Raum durchquerte, der meines Vaters Zufluchtsort war und dessen goldene und kristallene Gewölbedecke die Regale samt den darin stehenden Wälzern mit honigfarbenem Licht übergoss, zählte ich jeden meiner Atemzüge und versuchte, sie zu kontrollieren, als könnte ich, wenn es mir gelänge, auch über mein Schicksal selbst bestimmen.

Als ich auf den Balkon trat, drang der Lärm von den Festivitäten auf den Straßen zu uns herauf. Fanfaren erschallten, Geschützdonner ließ die Palastmauern erzittern. Und gleich unterhalb dieser Mauern drehten sich in weiße Seide gehüllte Tänzer wie Kreisel in den Gassen, um die Taille grüne und rote Bänder. Kinder warfen Rosenblätter gen Himmel, die bei ihrer Landung die schlammigen Gassen zwischen den Häusern in rosafarbene Flüsse verwandelten. Durch diese Flüsse bahnten sich Elefanten ihren Weg, herausgeputzt mit spiegelbesetzten Decken, Quasten und festlichen Seidenbändern. Auf ihren Rücken trugen sie die höchsten Würdenträger Makedons. Grellbunte Laternen erleuchteten die Straßen und wiesen Kaiser Sikander den Weg in unser Haus.

Vater stand da und betrachtete die Feierlichkeiten. Als ich zu ihm trat, wandte er sich abrupt um, als hätte ich ihn aus einem Traum gerissen – oder war es ein Albtraum? »Shabahaat Shaam«, sagte ich und umarmte ihn liebevoll.

Er stutzte, und da wurde mir klar, dass er mich noch nie so festlich gekleidet und hergerichtet gesehen hatte: meine Wangen rot geschminkt; die Lippen purpurn gezogen; die Wimpern geschwungen und so dick und schwarz wie Spinnenbeine. Mein Körper in einen kostbaren violett-goldenen Sari gewickelt, mein Haar zu einem hohen Turm gesteckt.

Stundenlang hatten Mala, meine Kammerfrau, und eine ganze Schar von Helferinnen mich wie ein Schwarm Bienen umschwirrt und von Kopf bis Fuß zurechtgemacht. Ein Tanz, der jedes Mal aufgeführt wurde, wenn das Reich wichtigen Besuch erwartete, doch heute hatte der Bienenschwarm einen derartigen Eifer an den Tag gelegt, als hätte ein unsichtbarer Taktgeber ihnen ein noch höheres Tempo vorgegeben.

»Nun halt doch mal still, Mädchen. Wenn ein mächtiger König zu Besuch kommt, muss eine Prinzessin nun mal herausgeputzt sein«, hatte Mala gesagt, während sie mein verfilztes Haar auskämmte und mit ihren geschickten Fingern die Knoten löste.

Ein mächtiger König.

Ein mächtiger König, der das Schicksal unseres Reiches in den Händen hielt, und mein eigenes Schicksal auch.

Rasch hatte Vater sich wieder gefasst.

»Shabahaat Shaam«, erwiderte er und lächelte mich an, dann wandte er den Blick wieder den überfüllten Straßen zu. »Manchmal vergesse ich, wie schön anzusehen mein Reich um diese Tageszeit ist. Nicht die Tänzer oder der Trubel da unten … sondern das Licht …« Er schaute kurz zum Himmel hinauf, wobei er den Kopf schüttelte, als könnte er es gar nicht glauben. »Als wollten Sonne und Mond sich unserem kleinen Königreich von ihrer allerbesten Seite zeigen.«

»Aber Vater, das sind doch nur Himmelskörper«, warf ich ein. »Shree hat es mir im Astronomieunterricht erklärt: Sonne und Mond sind Himmelskörper. Und weil Shalingar sich so zum Ozean hin neigt …«, mit den Händen deutete ich die Krümmung der Erde an, »wird ihr Licht vom Wasser reflektiert.«

Mein Vater sah mich an und lachte. »Es könnte aber auch Zauberei sein«, neckte er mich, und seine Augen funkelten.

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ausgeschlossen.«

»Vielleicht hast du recht«, antwortete er leise, und einen Augenblick lang bereute ich meine Worte, weil sein Gesicht schon wieder ernst geworden war. »Eines Tages, wenn du die Welt bereist hast, wirst du begreifen, wie besonders Shalingar ist.«

»Aber das weiß ich doch schon, Vater«, erwiderte ich und seufzte. »Ach, wenn ich doch bloß für immer hierbleiben könnte …« Ich brachte den Satz nicht zu Ende.

»Hast du selbst mir nicht immer in den Ohren gelegen, du möchtest die Welt bereisen?«, fragte er wehmütig. »Bald wirst du die Gelegenheit dazu haben.« Doch seine Stimme verriet, wie wenig überzeugt er von dem war, was er sagte. Was uns in den nächsten Tagen bevorstand, war nicht die Art von »die Welt bereisen«, die wir im Sinn hatten, das wussten wir beide.

»Du und Sikander, ihr wart doch mal Freunde, nicht wahr?«, wechselte ich schnell das Thema.

Wenn er einmal Vaters Freund war, dann kann er doch nicht so schlimm sein, oder?, versuchte ich mich zum x-ten Mal zu beruhigen. Die gleiche Frage hatte ich in den vergangenen Wochen so oder ähnlich allen im Palast gestellt.

»Das sind doch nur Legenden, die man über ihn hört, nicht wahr?«, hatte ich zum Beispiel Arjun, meinen besten Freund, noch gestern Abend gefragt, als wir durch die Palastgärten spaziert waren.

»Natürlich sind das nur Legenden.«

»Und dass er die Berater seines Vaters hat steinigen lassen?«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen!«, hatte Arjun ebenso heftig wie bestimmt widersprochen. Den Rest des Spaziergangs aber war er so einsilbig geblieben, dass meine aufkeimende Zuversicht gleich wieder erloschen war …

Nun wandte sich mein Vater mir zu und das Licht des Sonnenuntergangs erfasste seine Augen und verwandelte sie in pures Gold. Wir sahen uns ähnlich, mein Vater und ich, zumindest sagten das die Leute. Ich hatte seine Hände mit den schlanken Fingern geerbt, sein breites, ungezwungenes Lächeln und sein dunkles, gewelltes Haar.

»Freunde … So könnte man es nennen, ja. Aber das ist lange her. Das letzte Mal habe ich Sikander gesehen, da warst du noch ein Säugling. Jetzt werden die Karten neu gemischt.« Die Unruhe in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich vermutete, dass er nicht gern darüber redete. Was die Vergangenheit betraf, so war er nie sehr gesprächig gewesen.

Trotzdem wusste ich über Sikander und über Makedon mehr, als meine Lehrerin Shree mir im Unterricht über die Seidenstraße und Sikanders Eroberungszüge erzählt hatte. Ich wusste auch, dass mein Vater und Sikander sich als junge Soldaten an der Militärakademie von Makedon kennengelernt hatten. Damals waren sie sehr wohl Freunde gewesen, zumindest hatte Arjuns Vater Bandaka mir das erzählt, und der war Vaters engster Vertrauter.

Das alles war, bevor Sikander seinen eigenen Vater ermordet und sich selbst zum Herrscher ausgerufen hatte und mit seinem Heer durch Anatolien, Syrien, Phönizien und Judäa bis nach Baktrien gezogen war. Nachdem er auch Persien unterworfen hatte, gab man ihm den Beinamen »der Große«, und er befehligte das größte und schlagkräftigste Heer aller Zeiten. In kaum fünfzehn Jahren hatte er dank seiner Armee das Territorium seines Staates fast vervierfacht. Aber wer ist er wirklich? Wer war er damals, als Vater und er Freunde waren?

Ich versuchte es auf einem anderen Weg. »Wie hat es dir in Makedon gefallen?«, fragte ich.

»Auf eine Art ist es … sehr fortschrittlich. Die Gebäude sind so hoch, dass man kaum die Sonne sieht. Es gibt riesige Arenen, deren Bau Jahrzehnte gedauert hat und in denen Sklaven einander bis auf den Tod bekämpfen, während die Zuschauer sie johlend anfeuern. Praktisch jeder besitzt Sklaven.« Er schüttelte den Kopf. »Die Makedonen glauben nicht an die Gleichwertigkeit von Männern und Frauen. Den Herrscher zu kritisieren, gilt als schlimmstes Verbrechen. Und sie lieben den Krieg, sehr sogar.«

Ich fragte nicht weiter, denn mir war bewusst, dass es im Grunde einerlei war, wie es in Makedon aussah – ich würde es sowieso nur von meinem Fenster aus in Sikanders Harem sehen, in dem ich zusammen mit all seinen anderen Frauen leben würde. Nie würde ich die großen Städte der Welt besuchen oder über unser kleines Reich herrschen wie mein Vater, eine Gefangene in Sikanders juwelengeschmücktem Zenana voller Püppchen würde ich sein, nichts weiter.

Der Gedanke daran, das wusste ich, machte Vater krank – genauso wie mich. Ich wollte mich nicht damit abfinden, dass mein Schicksal besiegelt war, doch wir beide wussten, dass er kaum eine andere Wahl hatte. Wenn er Sikanders Antrag, mich zu heiraten, zustimmte, bliebe Shalingar unangetastet und gewönne einen mächtigen Verbündeten. Weigerte er sich aber, würde er Sikander unweigerlich vor den Kopf stoßen und seine Rache heraufbeschwören, wie andernorts schon geschehen.

Tatsächlich wurde erwartet, dass wir uns glücklich und tief geehrt schätzten, dass Sikander diplomatische Beziehungen zu unserem kleinen Königreich aufnehmen wollte. Das war Sikanders neue Strategie, nachdem er bald die halbe Welt erobert hatte. In Wirklichkeit war es das Einzige, was den kleinen Königreichen blieb, die er noch nicht unterworfen hatte: Willige in alle Bedingungen Sikanders ein, was Handelsbeziehungen, die Errichtung neuer Handelswege von Ost...