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Das Rätsel der doppelten Mama - Mami 2049 - Familienroman

Nina Nicolai

 

Verlag Martin Kelter Verlag, 2022

ISBN 9783740918248 , 100 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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1,99 EUR


 

Alles war weiß und blendete fürchterlich.

Ella Salewski blinzelte in den milchigen Himmel und presste den in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelten Tulpenstrauß an sich. Dass es in der vergangenen Nacht doch noch einmal geschneit hatte, sogar fast dreißig Zentimeter Neuschnee, wie es in den Morgennachrichten hieß, war sensationell für Ende März. Doch leider betrug die Sicht nur wenige Meter. Und schon wieder fielen dicke Flocken vom Himmel und verwirbelten in der frostigen Luft.

Die Neunjährige krauste die Nase und machte schmale Augen, um besser sehen zu können. Vergebens, die Buchstaben auf dem Straßenschild rappten und die Hausnummern waren viel zu weit weg, um sie erkennen zu können. Und was nun?

Die Tulpen mussten unbedingt schleunigst abgeliefert werden, das hatte ihr die Mami aufgetragen. »Die Glockengasse ist nur zwei Straßen weiter, Ella. Und das Doktorhaus ist ganz leicht an seinem ungewöhnlich geschweiften Giebel zu erkennen.«

Woran erkannte man einen ungewöhnlich geschweiften Giebel? Klar, sie hätte die Mami vorher danach fragen können. Aber, ganz großes Aber: es gehörte eine Menge Mumm dazu, jemandem die Zeit zu klauen. Es war nämlich so, dass Katinka Salewski, ihre fabelhafte, jedoch bedauerlicherweise unablässig in irgendwelche ungeheuer wichtige Aktivitäten verwickelte Mami, niemals auch nur eine freie Minute erübrigen konnte. Total getaktet war ihr Leben.

Die Gehwege waren verschneit, der Kanal war zugefroren. Wirkte nicht auch die Zeit eingefroren? Leere und Stille, nur unterbrochen vom Kratzen der Schneeschaufeln und Krähengezeter.

Ein älterer Herr hatte vorhin im Blumenladen von einem Wintermärchen gesprochen, während er sich die schönste Hyazinthe unter etwa zwanzig Exemplaren auswählte, um sich dann für ein Töpfchen mit Krokussen zu entscheiden. Ella und ihre Mutter hatten einen flinken Blick gewechselt, mehr nicht, denn oberstes Gebot war, dass die Kunden zufrieden das Geschäft verließen.

Wintermärchen, ha! Ella wurde das dicke Blumenpaket schwer. Mit der Hand, die in einem knallroten Handschuh steckte, wischte sie die Schicht Schneeflocken herunter. Und wo war nun dieses Doktorhaus mit dem ungewöhnlich geschweiften Giebel? Wildes Herzklopfen, denn vorgestern hatte sie schon mal einen Fehler gemacht, als sie die Blumen an der falschen Adresse ablieferte.

»Ella«, hatte Katinka Salewski mit ernster Miene gesagt, als sie das Telefongespräch mit dem erregten Auftraggeber beendete, »so eine Verwechslung kann mal passieren, okay, aber das sollte sich bitte nicht wiederholen. Schau, ich bin doch erst dabei, mir das Vertrauen der Kundschaft zu erwerben. Verstehst du?«

Natürlich hatte Ella kapiert, worauf ihre Mami hinauswollte. War ja nicht schwer zu begreifen, dass Kunden Zuverlässigkeit mindestens genau so schätzen wie frische Blumen bester Qualität.

Ella schossen Tränen in die Augen, weil es so anstrengend war, sich auf die Hausnummern zu konzentrieren. In der Schule nannten zwei Jungen sie schon Blindschleiche, weil sie immer blinzeln musste, um etwas an der Tafel zu erkennen. Obwohl sie sich aus diesem Grund ganz nach vorn gesetzt hatte. Es war auch schon vorgekommen, megablöd, dass sie manches falsch abschrieb.

Das einzig Gute am Schneetreiben war, dass es einen irgendwie unsichtbar machte. Selbst Jan und Ben würde es schwer fallen, sie zu erkennen. Gut so, dann konnten sie sich auch nicht über sie lustig machen, weil sie Blumen austrug.

War schon vorgekommen. Die Zwillinge waren grässlich, richtige Angeber mit ihren teuren Smartphones. Und wen sie auf dem Kieker hatten, den machten sie gnadenlos fertig. »Das ist immer so, wenn jemand neu in der Klasse ist«, hatte das Mädchen, neben das Ella gesetzt worden war, geflüstert. Die anderen hatten die Köpfe eingezogen oder weggeguckt. Mit Hilfe war somit nicht zu rechnen.

Ella pustete das weiße Wölkchen Atemluft fort. Sollte sie jemanden fragen, wo das Doktorhaus war? Aber in einer Kleinstadt sprach sich alles schnell herum. Und wenn ihre Mami von ihrem Problem erfuhr, hatte sie noch mehr Sorgen als ohnehin schon.

Es war nämlich keine Kleinigkeit, ein Blumengeschäft ganz allein zu managen, wenn man zwar Blumen mochte, jedoch als abgebrochene Studentin wenig von handelsmäßigen Dingen und so wusste.

Endlich erblickte Ella das Doktorhaus mit den gelben Fassaden und dem tatsächlich ungewöhnlich geschweiften Giebel darüber. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich. Himmlisch der Anblick des Doktorschilds am Zaun, das klipp und klar bewies, dass sie sich in der Adresse nicht irrte. Nun aber rasch hinein!

Die Arzthelferin hinter dem Tresen lächelte ihr freundlich zu und nahm ihr das Tulpenpaket ab. Warm war es in der Anmeldung. Und süß schmeckte der Schokoriegel, den Ella geschenkt bekam.

Der Heimweg war halb so lang, zeitlich allemal, denn die Neunjährige hüpfte nun leichtfüßig zwischen den von Anwohnern kraftvoll zur Seite geschobenen Schneemassen in Richtung Marktplatz.

»Hallo, Ellaspatz!«, rief Katinka Salewski munter, als ihre Tochter die Eingangstür des Blumengeschäfts aufschob. Die junge Frau umwickelte gerade die Stiele eines frisch gebundenen Straußes bunter Frühlingsblumen mit Bast und wischte sich mit dem Unterarm eine blonde Locke aus dem Gesicht. »Hat alles geklappt?«

Hätte ihre Mutter vier oder gar sechs Hände statt der zwei besessen, würden die garantiert auch ständig in action sein.

»Klaro«, verkündete Ella total cool. Kein Wort von irgendwelchen Schwierigkeiten. »Soll ich die Blumen irgendwo hinbringen?«

»Das wäre schön. Es ist diesmal auch nicht so weit. Aber erst nach dem Essen. Ich hab uns die Suppe von gestern warm gemacht. Geh schon mal nach hinten, Kleines, ich werde gleich nachkommen.«

Ella nickte und schob den Vorhang zur Seite, der das Geschäft vom angrenzenden privaten Raum trennte.

Auf dem kleinen Tisch an der Wand stand ein Suppentopf, davor zwei Teller mit Löffeln.

Es roch lecker nach Hühnersuppe mit Reis, genau das richtige Essen, wenn man hungrig war. Und draußen schneite es immer noch.

So gemütlich wie oben in der Wohnung über dem Geschäft war der Raum zwar nicht. Aber Ella sah ein, dass die Zeit für eine längere Mittagspause fehlte. Auch war es wichtig, wie Katinka ihrer Tochter erklärte, dass die Kundschaft jederzeit kommen konnte. Ihr Vorteil gegenüber der starken Konkurrenz, zumal jenen Blumendiscountern, die zu günstigeren Konditionen einkaufen konnten.

Ella zog die Mütze vom Kopf und schlüpfte aus der wattierten Jacke. In der Wärme des Raums begann sie schnell aufzutauen. In der Vorfreude auf die Suppe setzte sie sich auf einen der beiden Klappstühle. Gleich würde ihre Mami kommen. Und dann würden sie es sich gemütlich machen. Die Neunjährige lächelte zufrieden.

Dann klingelte das Telefon auf dem Arbeitstisch ganz rechts.

»Katinkas Blumenladen. Was kann ich für Sie tun?«, meldete sich die junge Frau mit dem ihr eigenen Schwung, obwohl seit Stunden unermüdlich auf den Beinen, schwere Vasen schleppend. »Guten Tag, Frau Niekerken, das ist ja eine Überraschung.«

Anschließend wurde es still. Nur manchmal sagte Katinka: »Ja.« Oder: »Ich verstehe.« Sie schien aufmerksam zuzuhören.

Ella zog die Schultern hoch. Weshalb rief ihre Klassenlehrerin ihre Mami an? Bestimmt nicht, um Blumen zu bestellen, das würde sich nicht so ziehen. Auch klang Mamis Stimme ziemlich bedrückt. Ihr ­Problemvermeidungsprogramm hatte wohl nicht so super funktioniert wie gedacht, spekulierte die Neunjährige aufseufzend.

Endlich war das Telefonat beendet. Die Mami zog sich in den Privatraum zurück und brachte einen Schwall von Blumendüften mit.

»Tut mir leid«, murmelte Ella mit gesenktem Kopf.

Es wurde ungeheuer still. Bis Katinka sich über ihr Kind beugte, um es liebevoll zu umarmen. »Dir muss nichts leid tun. Ich muss mich im Gegenteil bei dir entschuldigen. Weil ich in letzter Zeit nur an den Laden gedacht und dich vernachlässigt habe.«

»Hast du nicht«, brachte Ella tränenerstickt hervor.

»Komm mal her, meine Kleine.« Katinka zog ihre Tochter an sich. »Du bist eine ganz Tolle, weißt du das eigentlich? Mir zuliebe hast du Stress in Kauf genommen und sogar ertragen, dass dich deine Mitschüler hänseln. Wie ich mich schäme!«

»War gar nicht so schlimm.« Ella fragte sich bedrückt, auf welches ihrer zahlreichen Probleme ihre Mami wohl abhob. Hatte Frau Niekerken die mobbenden Zwillinge doch wahrgenommen?

»Jetzt erteilst du mir Rabenmutter auch noch Absolution.«

Ein unbekanntes Wort. »Ist das was Gutes?«

»Ziemlich.« Katinka wischte sich die blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die es mit notorischer Frechheit immer schaffte, sich aus dem Haargummi zu befreien. »Weißt du was, wir machen heute früher Schluss und unternehmen etwas. Nur wir beide.«

»Aber …« Noch wagte Ella nicht, an ihr Glück zu glauben. Ihre Mutter schenkte ihr das Kostbarste der Welt, nämlich Zeit?

»Heute bist du meine Hauptperson.« Katinka nahm auf dem zweiten Klappstuhl Platz und hob den Deckel vom Suppentopf. »Wir gehen konditern, wir beiden Hübschen, und dann rüber zum Optiker.«

Ellas Herz verkrampfte sich. Bitte nicht, flehte sie und stellte sich schlotternd vor, wie Jan und Ben reagieren würden.

»Du bekommst eine Brille! Und nun gib mir mal deinen Teller.«

*

Die Entenfamilie hatte sich unaufhörlich schnatternd in den Schatten der übers Wasser hängenden, maigrünen Büsche zurückgezogen. Helles Sonnenlicht flutete über die glatte Wasseroberfläche, die nur gelegentlich von einem Windstoß gekräuselt...