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Schneller als das Auge

Ray Bradbury

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608076 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{11}Schneller als das Auge


Der Mann, der wie mein Zwillingsbruder aussah, begegnete mir bei einer Zaubervorführung.

Meine Frau und ich saßen in einer Samstagabendvorstellung, es war Sommer, warm, das Publikum aufgelöst vor Hitze und Ausgelassenheit. Ringsum sah ich verheiratete und unverheiratete Paare erst entzückt, dann beunruhigt von der komischen Oper ihres Lebens, die auf der Bühne als gigantisches Symbol dargeboten wurde.

Eine Frau wurde in zwei Hälf‌ten zersägt. Wie die Ehemänner im Publikum lächelten!

Eine Frau verschwand aus einem Schrankkoffer. Ein bärtiger Magier weinte verzweifelt um sie. Da tauchte sie oben im zweiten Rang wieder auf, winkte mit weißgepuderter Hand, unendlich schön, unerreichbar, weit weg.

Wie die Ehefrauen ihr Katzengrinsen grinsten!

»Schau sie dir an!«, sagte ich zu meiner Frau.

Eine Frau schwebte mitten in der Luft … eine Göttin, geboren in den Köpfen aller Männer aus deren eigener, wahrer Liebe. Lasst nicht zu, dass ihre zierlichen Füße den Boden berühren! Haltet sie fest auf ihrem unsichtbaren Sockel! Aufgepasst! Gott, ich will nicht wissen, wie das gemacht wird! Ah, seht, wie sie schwebt, und träumt!

Und wer war der Mann, der mit Tellern, Kugeln, Sternen {12}und Fackeln jonglierte, der Reifen um die Ellbogen kreiseln ließ, der auf seiner Nase eine blaue Feder balancierte, und das alles auch noch gleichzeitig? Wer anders, sagte ich mir, als der pendelnde Ehemann, Liebhaber, Arbeiter, der eilige Mittagsgast, der mit Stunden, Benzedrin, Nembutal, Kontoauszügen und Haushaltsgeld jongliert?

Offensichtlich war keiner von uns hierhergekommen, um die Welt draußen zu fliehen, sondern eher, um sie in leichter verdaulichen Formen, heller, reiner, rascher, gefälliger, wieder zugeworfen zu bekommen; ein Schauspiel, ebenso ermutigend wie melancholisch.

Hat nicht jeder schon einmal eine Frau verschwinden sehen?

Dort, auf der schwarzen plüschigen Bühne, verschwanden Frauen, rätselhafte Wesen aus Talk und Rosenblüten. Cremefarbene Alabasterstatuen, Skulpturen aus Sommerlilien und frischem Regen zerrannen zu Träumen, und die Träume wurden zu blinden Spiegeln, noch als der Zauberer gierig nach ihnen griff.

Aus Schrankkoffern und ineinandergeschachtelten Kisten, aus ausgeworfenen Fischernetzen verschwanden die Frauen, zersprangen wie Porzellan, wenn der Zauberkünstler seine Pistole abfeuerte.

Das muss etwas Symbolisches sein, dachte ich. Warum zielen Zauberer mit Pistolen auf entzückende Assistentinnen? Dahinter steckt bestimmt ein geheimer Pakt mit dem männlichen Unbewussten.

»Was?«, fragte meine Frau.

»Eh?«

»Du hast etwas gebrummelt.«

{13}»Entschuldigung.« Ich sah im Programm nach. »Oh! Als Nächstes kommt Miss Quick! Die einzige Taschendiebin der Welt!«

»Das kann nicht sein«, sagte meine Frau ruhig.

Ich schaute sie an, weil ich nicht sicher war, ob sie scherzte. Im Dunkeln schien ihr Mund undeutlich zu lächeln, aber wie sie lächelte, blieb mir verborgen.

Die Kapelle summte wie ein heiterer Bienenschwarm.

Der Vorhang ging auf.

Vor uns – kein lauter Tusch, keine schwungvolle Geste mit dem Umhang, keine Verbeugung, sondern lediglich ein herablassendes Neigen des Kopfes und ein fast unmerkliches Hochziehen der linken Augenbraue – stand Miss Quick.

Ich glaubte, es handle sich um eine Hundenummer, als sie mit den Fingern schnipste.

»Freiwillige. Nur Männer!«

»Setz dich hin.« Meine Frau zerrte an mir.

Ich hatte mich erhoben.

Im Saal wurde es unruhig. Die Männer waren aufgesprungen wie eine Meute lautlos bellender Hunde und stapf‌ten (oder rannten sie?) auf ein Schnipsen von Miss Quicks unmanikürten Fingern nach vorn.

Miss Quick war, daran bestand kein Zweifel, dieselbe Frau, die den ganzen Abend über verschwunden war.

Sparprogramm, dachte ich; alle haben Doppelrollen. Die gefällt mir nicht.

»Was?«, fragte meine Frau.

»Denke ich schon wieder laut?«

Aber wirklich, Miss Quick brachte mich auf die Palme. {14}Sie sah aus, als sei sie in ihre Garderobe gegangen, habe ein zerknittertes Tweedkostüm – eine Nummer zu groß, voller Gras- und Bratenflecken – übergeworfen, danach ihr Haar zerwühlt und ihren Lippenstift verschmiert und sei gerade dabei gewesen, durch den Bühnenausgang hinauszugehen, als ihr jemand zurief: »Dein Auf‌tritt!«

So stand sie nun hier, in ihren zweckmäßigen Schuhen, mit glänzender Nase, ruhelosen Händen, aber unbewegtem Gesicht, und wollte die Sache hinter sich bringen …

Die Füße fest und entschlossen in den Boden gerammt, die Hände tief vergraben in den ausgebeulten Taschen ihres Tweedkostüms, wartete sie mit ausdruckslosem Mund darauf, dass die tumben Freiwilligen auf die Bühne hechelten.

Mit ein paar Klapsen ließ sie die buntgemischte Meute antreten, reihte sie auf in militärischer Formation.

Das Publikum wartete.

»Das wär’s! Die Nummer ist vorbei! Zurück auf Ihre Plätze!«

Schnipp!, machten ihre schmucklosen Finger.

Die Männer waren entgeistert, blickten einander einfältig an und verdrückten sich. Sie ließ sie die halbe Treppe hinunter ins Dunkel stolpern, dann gähnte sie.

»Haben Sie auch nichts vergessen?«

Eifrig drehten sie sich um.

»Hier.«

Mit einem Lächeln, sauer wie der trockenste Wein, kramte sie aus einer ihrer Taschen träge eine Brief‌tasche heraus. Eine weitere holte sie unter ihrem Umhang hervor. Gefolgt von einer dritten, einer vierten, einer fünf‌ten! Insgesamt zehn Brief‌taschen!

{15}Sie hielt sie ihnen hin wie braven Tieren einen Hundekuchen.

Die Männer blinzelten. Nein, das waren nicht ihre Brief‌taschen! Sie hatten nur einen Augenblick lang auf der Bühne gestanden. Sie war nur beim Vorbeigehen in ihre Nähe gekommen. Das Ganze war ein Scherz. Bestimmt bot sie ihnen nagelneue Brief‌taschen an, mit den besten Empfehlungen des Hauses!

Doch jetzt begannen die Männer, sich zu betasten, wie Ritter, die in ihrer alten, eilig zusammengeklopf‌ten Rüstung plötzlich Risse entdeckten. Sie sperrten die Münder auf, und ihre Bewegungen wurden hektischer, sie patschten sich auf die Brusttaschen und gruben in ihren Hosentaschen.

Die ganze Zeit über schenkte Miss Quick ihnen keinerlei Beachtung und sortierte ihre Brief‌taschen wie die Morgenpost.

Genau in diesem Augenblick bemerkte ich den Mann ganz rechts am Ende der Reihe, halb auf der Bühne. Ich hob mein Opernglas. Ich sah durch. Einmal. Zweimal.

»Na, so was«, sagte ich leichthin. »Ich glaube, da steht ein Mann, der mir irgendwie ähnlich sieht.«

»Ach ja?«, sagte meine Frau.

Ich reichte ihr lässig das Glas. »Ganz rechts.«

»Er sieht dir nicht ähnlich«, sagte meine Frau. »Das bist du!«

»Nun ja, fast«, entgegnete ich bescheiden.

Der Bursche sah gut aus. Natürlich war es nicht die feine Art, sich auf diese Weise selbst anzuschauen und zu einem positiven Urteil zu gelangen. Gleichzeitig war mir ziemlich {16}kalt geworden. Ich nahm das Opernglas wieder an mich und nickte fasziniert. »Bürstenschnitt. Hornbrille. Rosiger Teint. Blaue Augen –«

»Dein Zwillingsbruder, absolut!«, rief meine Frau.

Sie hatte recht. Und es war höchst sonderbar, dazusitzen und mir selbst auf der Bühne zuzusehen.

»Nein, nein, nein«, flüsterte ich unaufhörlich.

Doch mein Auge nahm hin, wogegen mein Verstand sich sträubte. Gab es nicht zwei Milliarden Menschen auf dieser Welt? Ja! Alles unterschiedliche Schneeflocken, keine identisch mit der anderen! Doch hier, vor meinen Augen, eine Gefahr für mein Ego und meine Eigenliebe, hier war ein Abguss derselben Urgestalt, der aus derselben Gussform stammte.

Sollte ich meinen Augen trauen, misstrauen, Stolz empfinden oder vor Schreck das Weite suchen? Denn hier wurde ich Augenzeuge der Vergesslichkeit Gottes.

»Ich glaube nicht«, sagte Gott, »dass ich so einen schon einmal erschaffen habe.«

Und ich dachte, verzaubert, erschrocken, entzückt: Gott irrt.

Blitze aus alten Psychologiebüchern leuchteten in meinem Kopf auf.

Vererbung. Umwelt.

»Smith! Jones! Helstrom!«

Auf der Bühne hielt Miss Quick in schneidendem Kommandoton Appell und gab das Diebesgut zurück.

Du borgst dir deinen Körper von all deinen Vorfahren, dachte ich. Vererbung.

Aber ist der Körper nicht zugleich auch Umwelt?

{17}»Winters!«

Die Umwelt, heißt es, umgibt dich. Nun gut, umgibt dich nicht auch der Körper, mit seinen Wasserspeichern, seinem Knochenbau, seiner seelischen Fülle oder Ödnis? Was du siehst, wenn du an spiegelnden Schaufenstern vorübergehst, das Gesicht ein heiterer Schneefall oder ein pockennarbiger Abgrund, die Hände wie Schwäne oder Spatzen, die Füße Ambosse oder Kolibris, der Körper ein schwerfälliger Mehlsack oder ein sommerlicher Farn – malen sich diese nicht, hat man sie einmal gesehen, in den Geist ein, hinterlassen ein Abbild, formen Hirn und Psyche wie Ton? Und ob!

»Bidwell! Rogers!«

Nun denn, eingesperrt in die gleiche Umgebung, den gleichen Körper wie ich, wie erging es dem Fremdling auf der Bühne?

Wie es meine Art ist, wollte ich aufspringen und rufen: »Wie viel Uhr ist es?«

Und wie der Nachtwächter, der spätabends mit meinem Gesicht vorübergeht, mochte er halb trauervoll erwidern: »Hört, ihr Herren, lasst euch sagen, dass die Glock hat neun geschlagen. Verwahrt Feuer und das Licht, dass dadurch kein Schad...