dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die wilde Sophie

Lukas Hartmann

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608113 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

13,99 EUR


 

{15}in welchem der kleine Prinz Brei essen muss und mit zwei Nebenhergehern Bekanntschaft schließt


Das Kind wuchs von Tag zu Tag. Es wurde gewaschen, gewickelt, gefüttert, gewogen. Es schlief, es trank, es rülpste, es machte die Windeln nass.

Isabella blieb dabei gelassen; Ferdinand aber kam kaum mehr zur Ruhe. Täglich entdeckte er neue Gefahren, die sein Söhnchen bedrohten.

»Du sorgst dich zu sehr, Mann«, pflegte die Königin zu sagen.

»Nein, noch viel zu wenig«, entgegnete der König.

Als Erstes verbot er, das Kind weiterhin in die Wiege zu legen.

{16}»Sie schwankt zu sehr«, erklärte er. »Der Prinz könnte herausfallen und sich das Genick brechen.« Er ließ vom königlichen Schreiner einen Bettkasten mit abgerundeten Kanten und gepolsterten Wänden anfertigen, der so tief war, dass das Kind nicht herausfallen konnte.

»So was Unnützes«, sagte Isabella. »Aber gut, wenn’s dich beruhigt.«

Als Nächstes ordnete Ferdinand an, dass niemand den kleinen Jan in die Arme nehmen und herumtragen dürfe außer der Königin und der Kinderfrau. Bei jedem Gang wurde die Kinderfrau außerdem von zwei Soldaten begleitet, die links und rechts von ihr und immer einen halben Schritt voraus ein Netz zwischen sich ausgespannt hatten, so dass das Kind, hätte die Kinderfrau es fallen gelassen, darin aufgefangen worden wäre.

»Soll er doch seinen Willen haben«, sagte die Königin, als die Kinderfrau sich bei ihr über diese Verrücktheit beschwerte.

 

Doch eines Morgens entdeckte der König, dass Jans linke Wange von drei Mückenstichen geschwollen war. »Mücken!«, schrie er. »Diese niederträchtigen Biester! Sieh nur, Isabella, sie könnten ihn glatt totstechen!« Wie um ihn anzuspornen, verzog Jan sein Gesicht und begann zu wimmern.

{17}»Ach, Ferdinand«, sagte Isabella. »Du übertreibst wie immer. So schlimm ist das gar nicht. Wir tragen ein wenig Salbe auf, und dann schwillt es wieder ab.« Sie nahm das Kind in die Arme und gab ihm die Brust.

»Majestät«, sagte Raimund, der zugehört hatte, »Sie müssten vielleicht befehlen, sämtliche Fenster im Schloss zu schließen.«

Der König stutzte. »Eine ausgezeichnete Idee! Von wo kommen die Mücken? Von draußen! Wir schließen die Fenster nicht nur, wir vernageln sie, dann zieht es auch nicht mehr. Ich habe bisher viel zu wenig daran gedacht, wie sehr Zugwind meinem Kind schaden könnte.«

Isabella wehrte sich gegen diese neue Maßnahme. Doch Ferdinand ließ sich nicht beirren. Er rief den königlichen Schreiner und befahl ihm, sämtliche Fenster zuzunageln. Das dauerte ein paar Tage, gleichzeitig gingen Stanislaus und Raimund auf Mückenjagd. Sie forschten nach schwarzen Punkten an Wänden und Decken; sie schlugen mit ihren Klatschen auch Spinnen, Wanzen und Schaben tot, von denen es im Schlosskeller wimmelte. Der König war entsetzt, als er all die Insektenleichen sah, die ihm die Diener vorwiesen. »In Ohren und Nase könnten sie dem Kind kriechen! Oder es könnte sich an einer fetten Fliege verschlucken!« Und er {18}beschloss, eine neue Stelle zu schaffen: die eines königlichen Insektenjägers, der alles, was sechs Beine hatte, aufspüren und vernichten musste.

»Wie willst du ihn bezahlen?«, fragte Isabella. »Wir haben sowieso kein Geld. Und für eine solche Dummheit schon gar nicht.«

»Für unser Kind darf uns nichts zu teuer sein«, sagte Ferdinand mit finsterem Blick. »Im Notfall erhöhe ich die Steuern.«

Der König ließ durch seinen nebenamtlichen Herold ausrufen, dass er einen fähigen Insektenjäger suche. Es meldeten sich ein paar Burschen, und Ferdinand wählte den flinksten aus. Er hieß Karol. Von morgens früh bis abends spät hallte sein Klatschen durchs Schloss. Die Mauerritzen und das undichte Dach sorgten dafür, dass ihm die Arbeit nicht ausging; im Gegenteil, je größer seine Beute war, desto unverschämter schienen sich die Insekten zu vermehren, und am Abend war er jeweils zu Tode erschöpft.

 

Als Jan die ersten Zähne bekam, hatte der König einen weiteren Grund, sich zu sorgen. Das Kind hatte bisher Muttermilch getrunken und Brei gegessen; jetzt griff es nach Brotkanten und kaute auf ihnen herum.

»Um Gottes willen!«, rief Ferdinand, als er dies {19}zum ersten Mal sah. »Die Rinde ist doch viel zu hart.«

»Kinder müssen kauen lernen«, entgegnete die Königin. »Das ist nun einmal so.«

»Aber Jan hat einen so zarten Gaumen. Er könnte sich verletzen, die Wunde könnte zu eitern beginnen. Schrecklich!«

Isabella schüttelte den Kopf. »Ach Mann, du mit deinen ewigen Ängsten. Lass unseren Jan doch groß werden wie andere Kinder.«

Im selben Augenblick verschluckte sich das Kind, es hustete, sein Gesicht lief rot an, und Isabella legte es bäuchlings über die Knie und klopf‌te ihm auf den Rücken, bis es das Brotstück wieder ausspuckte.

»Siehst du?«, sagte sie. »Jetzt hast du beinahe einen Unfall herbeigeredet.«

Starr vor Schrecken hatte Ferdinand die Szene verfolgt. Allmählich kam er wieder zu sich. »Ich werde anordnen«, sagte er, »dass Jan von heute an nur noch Brei zu essen bekommt, Gemüsebrei, Fleischbrei, Früchtebrei, verstehst du? Alles, was der Kleine isst, wird in der Küche vorher zermanscht und zerstoßen, jedes Knöchelchen, jeder Apfelkern wird entfernt.«

»Mann, du bist verrückt. Das ist gegen die Natur, das erlaube ich nicht.«

{20}»Du wirst tun, was ich befehle.«

»O nein!«

»O doch! Die Königskrone trage ich, du bist nur meine Frau!«

»Ich bin Jans Mutter!«

Sie starrten einander erbost an. Aber auch diesmal setzte Ferdinand seinen Willen durch. Er rief den Ministerrat zusammen, der aus drei nebenamtlichen Ministern bestand; und nachdem sie einen Tag lang im Thronsaal eingesperrt gewesen waren, entschieden sie, der König habe immer recht und in Angelegenheiten seines Sohnes noch mehr als sonst.

Ein paar Monate vergingen. Jan lernte krabbeln; er griff nach allem, was er sah, und versuchte, es in den Mund zu stecken.

»Schrecklich!«, rief der König. Und er befahl, sämtliche Gegenstände, die sich in Jans Nähe befanden, wegzuräumen. Keine Rassel durf‌te er berühren, kein Holzpferd, keinen Kreisel: alles viel zu gefährlich! Der Ausrufer verkündete in ganz Zipfelland, der König benötige einen Wegfreiräumer, der dem Prinzen die kleinsten Steinchen aus dem Weg räume.

»Sicher ist sicher«, sagte sich der König, nachdem er aus der Reihe der Bewerber den Tüchtigsten ausgewählt hatte.

{21}Rupert, der königliche Wegfreiräumer, tänzelte nun tagsüber vor dem Kind her, versuchte, dessen gewundenen Weg vorauszuahnen, und krähte: »Aus dem Weg! Aus dem Weg!« Wann immer es ging, mussten Raimund und Stanislaus ihm beistehen und alle Möbel, die Jan im Weg standen, zur Seite rücken. Besonders das königliche Sofa war ein schweres Stück, und sie mussten es, den Launen des Kindes folgend, an einem einzigen Tag bis zu dreißigmal verschieben.

 

Der Zufall wollte es, dass Ferdinand gerade dabei war, als sein Sohn sich zum ersten Mal von allein aufrichtete. Isabella hatte sich dem Kind gegenüber auf den leergeräumten Boden gekauert und klatschte in die Hände. »Komm«, lockte sie, »versuch’s doch mal!«

Fassungslos sah der König, wie das Kind die Ärmchen ausstreckte und schwankend einen Fuß vor den andern setzte. »Halt!«, schrie er, bleich vor Angst. Jan erschrak, schwankte noch stärker, und er wäre auf den Hintern geplumpst, wenn nicht der König mit einem Sprung bei ihm gewesen wäre und ihn aufgefangen hätte. Jan begann zu weinen, entwand sich den Händen des Vaters und krabbelte verängstigt zu Isabella hin, die ihm tröstend durchs Haar fuhr.

{22}»Willst du das Kind umbringen?«, schimpf‌te der König. »Beinahe wäre es gestürzt und hätte sich ein Bein oder einen Arm gebrochen!«

»Jan lernt gehen«, sagte Isabella und zwang sich zur Ruhe. »Da wird er noch einige Male auf den Hintern fallen. Das ist eben so bei kleinen Kindern.«

»Aber nicht bei Jan.«

»Was denn sonst? Soll er sein Leben lang auf allen vieren krabbeln?«

»Nein. Aber wenn er stolpert oder schwankt, darf ihm nichts passieren.« Ferdinand dachte angestrengt nach.

»Ich hab’s!«, rief er plötzlich. »Ich ernenne einen ersten und einen zweiten Nebenhergeher. Der erste geht zur Rechten und der zweite zur Linken des Prinzen. Und dann ernenne ich einen Hinterhergeher und einen Vorausgeher, und alle vier müssen den Prinzen auf allen seinen Gängen begleiten und ihn auf‌fangen, wenn er in ihre Richtung fallen sollte.«

Isabella verschlug es die Sprache; aber die Kinderfrau räusperte sich und sagte: »Mit Verlaub, Majestät, wie stellen Sie sich das vor, wenn das Kind durch eine schmale Tür geht? Sollen sie sich zu dritt hindurchquetschen?«

Ferdinand runzelte die Stirn. »Im Schloss gibt’s {24}keine schmalen Türen. Und wenn’s dennoch eine gibt, werde ich sie erweitern lassen.«

»Mann«, sagte die Königin, »mit dir ist’s ja wirklich nicht mehr auszuhalten. Nochmals vier Bedienstete? So was Dummes! Denk doch ein bisschen nach. Was nützt ein Vorausgeher? Der sieht ja gar nicht, was hinter seinem Rücken passiert.«

»Dann geht der Vorausgeher eben rückwärts«, sagte der König, »so kann er den Prinzen im Auge behalten.«

Wieder versuchte Isabella, ihren Mann daran zu hindern, seinen unvernünftigen Plan auszuführen; aber wieder hatte sie die Minister gegen sich, die gehorsam nachplapperten, was der König sagte. Ein paar Tage lang stritt sie sich bei...