dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Vintage

Grégoire Hervier

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608120 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

2


Boleskine House, Loch Ness

 

Ich zuckte zusammen, als der Chauffeur neben mir auf‌tauchte, um die Tür zu öffnen. Er bat mich hinein, verneigte sich und verschwand wortlos im rechten Gebäudeflügel. Ich blieb allein in der fast leeren Eingangshalle zurück. Im Schein der elektrischen Wandfackeln entdeckte ich in einer Ecke ein rundes Tischchen, auf dem unter einer Glasglocke eine seltsame kleine Gitarre lag. Ich trat einen Schritt näher. Bei genauerer Betrachtung war es vielmehr eine große Mandoline, eine Mandola, auf deren geschweiftem Kopf der Schriftzug ›The Gibson‹ prangte. Ich kannte sie bisher nur aus Büchern: Es war eine der berühmten Lloyd Loars, die Stradivari unter den Mandolinen, wenn man so will. Unter den Mandolinen der Bluegrass-Countrymusik, sollte ich vielleicht hinzufügen, denn dieses Instrument unterschied sich ziemlich stark von den Mailänder Mandolinen oder den klassischen Mandolinen der Renaissance.

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich irgendwo in den Appalachen zwischen den italienischen Einwanderern, die gekommen waren, um in den Kohlebergwerken zu arbeiten, und den einheimischen Hinterwäldlern, den hillbillies, etwas Folgenschweres ereignet. Es muss eines Abends am Lagerfeuer passiert sein, als einer der Bergarbeiter seine Mandoline hervorholte, einen der wenigen Gegenstände, die ihn auf der Atlantiküberfahrt begleitet hatten, und Lieder aus seiner italienischen Heimat spielte. Den Gebirgsbewohnern gefielen die wehmütigen Töne. Genau wie die Geige nahmen sie die Mandoline in ihre Folklore auf, wenn auch in leicht abgewandelter Form. Orville Gibson hatte ihren Hals verlängert und den Korpus etwas abgeflacht. Und mit ebendiesem Instrument wurde 1902 die Gibson Mandolin-Guitar Ltd. gegründet. Der Durchbruch gelang schließlich Lloyd Loar – selbst Musiker und Komponist, aber auch Ingenieur und herausragender Instrumentenbauer – in den zwanziger Jahren. Seine Mandoline F5 erlangte dank Bill Monroe, dem Urvater des Bluegrass, schon bald Berühmtheit. Schnell wurden Hunderte von Instrumenten gebaut, von denen zahlreiche bis auf den heutigen Tag erhalten sind, weshalb man sie recht einfach und zu annehmbaren Preisen findet. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens baute Lloyd Loar jedoch eine ganz besondere Serie, die einen horrend hohen Schätzwert besitzt. Diese Mandolinen sind an den wunderschönen Perlmuttintarsien zu erkennen, ein Farnornament direkt unterhalb des Gibson-Schriftzugs. Solch ein Exemplar hatte ich vor mir, und zwar in tadellosem Zustand. Die Decke hatte eine herrliche Wölbung, die Mechaniken sowie alle anderen Metallteile waren vergoldet und allem Anschein nach original. Was mochte dieses Prachtstück wohl wert sein? Womöglich vier- oder fünfmal so viel wie die Gitarre, die ich ihrem neuen Besitzer überreichen sollte …

»7. Oktober 1924, die letzte von dreiundzwanzig Exemplaren, die gebaut wurden. Sie steht nicht zum Verkauf.«

Erschrocken fuhr ich herum. Der Mann, der das auf Englisch gesagt hatte, war um die siebzig Jahre alt, was man ihm durchaus ansah, aber sein Blick war wach und durchdringend. Er saß im Rollstuhl, und es war nicht Jimmy Page.

»Lord Charles Winsley«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.

»Thomas«, erwiderte ich und schüttelte sie. »Es tut mir schrecklich leid. Monsieur de Chévigné war in letzter Minute verhindert, wollte Sie aber nicht warten lassen und –«

»Wir hatten vereinbart, dass er mir diese Gitarre persönlich liefert, das war meine einzige Bedingung. Ich hätte durchaus warten können, bis Monsieur de Chévigné seinen Verpf‌lichtungen nachgekommen ist.«

»Das wusste ich nicht«, sagte ich verdattert. Erst jetzt begriff ich, dass sich Alain offenbar einfach aus der Affäre gezogen hatte. »Das ist mir sehr unangenehm. Ich nehme an, dass Alain Ihren Wunsch nicht richtig verstanden hat, denn es ist nicht seine Art, Kunden zu enttäuschen.«

»Davon gehe ich aus.«

»Er hat mich gebeten, ihn dieses eine Mal ausnahmsweise zu vertreten, und versprochen, so bald wie möglich persönlich zu erscheinen, sollten Sie das wünschen.«

In den Augen des Lords flackerte Genugtuung auf, ich nutzte den Moment, um aus der Defensive zu kommen.

»Gestatten Sie mir, Ihnen in seinem Namen diese Gitarre zu überreichen«, plapperte ich forsch wie ein Straßenverkäufer drauf‌los und reichte ihm den Koffer.

»Kommen Sie bitte mit mir.«

Ich folgte ihm in eine dieser typisch britischen Bibliotheken – dunkel gehaltene Wandtapeten, mit Schnitzereien verzierte Möbel und Chesterf‌ield-Sofas.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?«, fragte der Lord und steuerte auf eine gutbestückte Hausbar zu. »Wie wäre es mit einem Whisky hier aus der Gegend?«

»Sehr gern.«

»Sie vertreten also Monsieur de Chévigné. Sind Sie denn ebenfalls Spezialist für Vintage-Gitarren?«, fuhr der Lord fort, während er zwei Stielgläser herausholte.

»Nein, Spezialist würde ich nicht sagen. Ich verkaufe sie nur, und gelegentlich repariere ich eine. Eigentlich bin ich Musiker, Rockgitarrist. Und ich begeistere mich für Gitarren, besonders für E-Gitarren.«

»Da könnte ich Ihnen so einige zeigen. E-Gitarren mag ich auch am liebsten, aber nur die aus den Fünfzigern und Sechzigern. Die heutigen Instrumente sind qualitativ einwandfrei, keine Frage, aber für einen Nostalgiker wie mich haben sie keinen Wert.«

»Verständlich. Alain sieht das genauso, auch wenn er aus finanziellen Gründen hier und da Kompromisse eingeht.«

Das war keine sehr geschickte Bemerkung gewesen, also fügte ich schnell hinzu: »Das gilt natürlich nicht für die Goldtop, die ich Ihnen bringe. Sie war das Juwel seines Ladens.«

»Monsieur de Chévigné ist ein ausgezeichneter Kenner mit untrüglichem Geschmack. Und doch habe ich einige Vorbehalte bezüglich der Qualität seiner Popgitarren. Aber wie jeder gute Geschäftsmann ist er auch ein kluger Stratege. Im Übrigen weiß ich, dass die Goldtop, die vor Ihnen steht, über jeden Zweifel erhaben ist«, fügte er hinzu und schenkte mir ein.

»Soll ich sie aus dem Koffer nehmen?«

»O nein, jetzt doch noch nicht! Ich nehme sie erst morgen früh in Augenschein. Das Material hat während der Reise sicher mehr gearbeitet, als ihm guttut, deshalb möchte ich den Koffer erst dann öffnen, wenn sich die Luft darin auf Zimmertemperatur erwärmt hat. Stoßen wir lieber auf unsere Begegnung an, mon cher Thomas.«

»Auf unsere Begegnung«, sagte ich und nippte an meinem Glas.

Es war ein einheimischer Whisky, verdammt torfig. Ich hüstelte so diskret wie möglich, während mein Gastgeber tat, als bemerkte er nichts.

»Sie sind also Rockgitarrist …«

»Ganz genau.«

»Spielen Sie in einer Band?«

»Ich hatte mal eine … Wir haben uns vor kurzem aufgelöst.«

»Keinen Erfolg gehabt?«

»Kann man so sagen.«

»Haben Sie auch eigene Stücke geschrieben?«

»Ja.«

»Musik, die Ihnen gefiel, oder Musik, von der Sie glaubten, sie könnte gut ankommen?«

»Hm. Gute Frage … Ich würde sagen, eher Musik, die mir gefiel.«

»Das ist ein Fehler. Aber bei euch Franzosen ist das ja meistens so. Ihr verlasst euch auf die Kraft der Grundidee und wollt das Wesentliche daran, ihre Reinheit bewahren und sie nur ja nicht verfälschen. Wir Angelsachsen sind da pragmatischer: Wenn wir eine Idee haben, interessiert uns vor allem, ob sie funktioniert oder nicht. Wir fragen andere nach ihrer Meinung und wandeln die ursprüngliche Idee ab, auch auf die Gefahr hin, dass wir uns von ihr entfernen oder sie womöglich sogar ganz aus den Augen verlieren. Rationalismus versus Empirismus. Ihre Methode kann etwas Geniales hervorbringen. Das Problem ist aber, dass Ihnen nur Genies folgen können. Und wie Sie wissen, sind Genies rar gesät. Auf jeden Fall nicht zahlreich genug, um Sie zum Millionär zu machen.«

»Oh, ich will auch gar kein Millionär werden. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich von der Musik leben könnte.«

»Sie haben Ihr Leben noch vor sich, und vor Erfolg ist niemand gefeit. Man braucht nur den Fernseher einzuschalten, dann sieht man es. Aber in einem haben Sie recht: Man darf sich nie auf die Erwartungen anderer beschränken. Man muss tun, was man will. Das ist das einzige Gesetz. Das eigentlich Schwierige ist herauszufinden, was man wirklich will.«

Die darauffolgende Stille hätte peinlich werden können, hätte mein Gastgeber sie nicht unterbrochen.

»Ob man, wie in Ihrem Beispiel, Musik machen will, zu der nur man selbst Zugang hat, oder Musik, die einen Teil des Planeten berührt.«

»Sind Sie auch Gitarrist?«, fragte ich.

»Das war ich früher einmal«, sagte er, eine Spur von Bedauern in der Stimme. »Ein ziemlich miserabler Gitarrist, um ehrlich zu sein. Aber in London Mitte der Sechziger drängte sich das auf. Ich hatte damals mit ziemlich vielen Musikern zu tun. Richtig guten Musikern, meine ich, weshalb mir auch irgendwann klarwurde, dass ich mich besser anderweitig orientiere. Aber der Kontakt ist nie abgerissen. Und die Leidenschaft für den Rock ’n’ Roll und die Kraft, die von ihm ausgeht, sind mir bis heute geblieben.«

»Apropos, bitte verzeihen Sie, falls ich zu neugierig bin, aber hat dieses Haus hier nicht einmal jemand Berühmtem gehört?«

»Stimmt genau«, antwortete der Lord mit einem Leuchten in den Augen. »An wen dachten Sie denn?«

»Na ja, ich meine, ich...