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Maiglöckchenweiß - Ein Fall für Milena Lukin

Christian Schünemann, Jelena Volic

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608182 , 352 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{32}4


Die Kleine-Save-Straße war eine jener sanft ansteigenden Gassen, die den Hafen mit der oberen Altstadt verbanden. Rechts und links standen schmale Häuser, zwei und drei Stockwerke hoch, enge Gehwege. Milena fuhr Schritttempo und überlegte, ob Philip, ihr Ex, diese Gegend eigentlich kannte. Nur einmal war er nach Belgrad gekommen. Sie erinnerte sich genau. Es war kurz vor ihrer Hochzeit gewesen, sein Antrittsbesuch sozusagen. Sie hatte ihn durch die Stadt geführt und ihm all die Plätze und Ecken gezeigt, die in ihrem Leben wichtig waren: Wo sie geboren wurde, wo sie in den Kindergarten ging, wo zur Schule, wo sie studiert hatte. Der erste Kuss auf der Save-Promenade, der letzte Kaffee im Bahnhofslokal, bevor sie nach Deutschland ging und Philip in ihr Leben treten sollte.

Am Abend hatte er völlig erschlagen, mit Blasen an den Füßen, bei Vera in der Küche gesessen, und seine zukünftige Schwiegermutter hatte aufgetischt: {33}Gibanica, Gulasch, Grießflammerie. Milena übersetzte, dabei gab es kaum etwas zu übersetzen, und von dem wenigen, was Philip sagte, ließ sie manche Bemerkung lieber unter den Tisch fallen und erfand dafür an anderer Stelle noch ein bisschen dazu. Noch heute sagte Vera: »Dass er damals nichts gegessen hat, war schon ein schlechtes Zeichen.«

An diese Dinge dachte Milena, als sie mit ihrem Lada die Kleine-Save-Straße hochfuhr und nach dem Hotel Amsterdam Ausschau hielt, in dem sie ihren Ex und seine Lebensgefährtin unterbringen wollte.

Das schmale Haus stand in einer leichten Kurve und war das einzige, das frischverputzt und freundlich angestrichen war. Die Pilaster aus rotem Backstein und das Mauerwerk um die Sprossenfenster herum waren liebevoll herausgearbeitet und farblich abgesetzt. Milena schaltete die Warnblinkanlage ein und überlegte, ob an dieser Stelle früher vielleicht das Hutgeschäft gewesen war. Nein, der Laden existierte zwei Häuser weiter und sah im Vergleich zu diesem renovierten und sanierten Gebäude inzwischen noch verstaubter und armseliger aus. Das Hotel war ein kleines Schmuckstück, und Siniša hatte recht: Es war genau das Richtige für Philip und Jutta.

Milena stellte den Motor ab und stieg aus.

{34}Die hohe Eingangstür aus Glas war verschlossen. Sie klingelte, aber kein Ton war zu hören. Vielleicht war die Anlage kaputt?

Drinnen war alles dunkel. Ein Bereich mit kleinen Tischen und bunt zusammengewürfelten Stühlen. Dahinter ein Empfangstresen, der abends anscheinend auch als Bar benutzt werden sollte. Seitlich davon gab es ein paar gemütliche Klubsessel und einen Kamin. Aber kein Mensch war zu sehen.

»Ich fürchte, hier ist schon wieder Sense«, sagte jemand hinter ihr.

Ein älterer Herr mit Schirmmütze schaute missmutig an der Fassade hoch. »Da hat sich wohl jemand finanziell ein bisschen übernommen.«

Milena folgte seinem Blick. Oben bewegte sich eine Gardine.

»Kennen Sie die Leute?«, fragte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Über dreißig Jahre habe ich hier mein Bier getrunken. Aber heutzutage muss ja alles umgekrempelt werden. Große Fenster und alles neu. Zum Kotzen.«

»Ich finde, das Hotel macht einen guten Eindruck.«

»Und ich erkenne meine eigene Stadt nicht mehr. Haben Sie mal gesehen, was hier am Wochenende für ein Volk unterwegs ist? Von sonst woher.«

Brummelnd zog er weiter, und Milena sah, wie {35}eine Frau, ungefähr ihr Alter oder etwas jünger, mit Einkaufstüten die Gasse entlangkam und in den schmalen Weg neben dem Hotel einbog.

»Entschuldigung!«, rief sie laut.

Die Frau blieb stehen. Über dem T-Shirt trug sie eine weitgeschnittene karierte Hemdbluse und auf der Nase eine schwarze Hornbrille. Hinter der Spiegelung waren die Augen kaum zu erkennen.

»Gehören Sie zufällig zum Hotel?«, fragte Milena. »Oder wissen Sie, was da los ist? Ich würde nämlich gerne ein Zimmer buchen.«

»Die Eröffnung ist bis auf weiteres verschoben.«

»Sind Sie die Besitzerin?«

Mit den Tüten rechts und links, pustete die Frau sich eine Strähne aus dem Gesicht und trat ein wenig zurück. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Milena Lukin ist mein Name. Ich muss nächste Woche Gäste aus Deutschland unterbringen. Der Tipp mit Ihrem Hotel kam von Siniša Stojković.«

»Herrn Stojković?« Das Gesicht der Frau hellte sich ein wenig auf. Sie musste ihre Tüten absetzen, um Milenas Hand zu ergreifen. »Tut mir leid«, sagte sie, »aber wir haben im Moment technische Probleme.«

»Siniša hatte versucht, Sie telefonisch zu erreichen, und da auch Ihre Internetseite nicht aktiv ist, bin ich jetzt einfach hierhergefahren.«

{36}»Tut mir leid, dass Sie sich umsonst hierherbemüht haben. Wie gesagt …« Sie zog ihre Umhängetasche nach vorne. »Aber das hier kann ich Ihnen geben.« Sie überreichte Milena einen Flyer und hob ihre Tüten wieder an.

»Warten Sie.« Milena kramte ihr Portemonnaie aus der Tasche hervor. »Falls es mit der Eröffnung kurzfristig doch noch klappen sollte« – sie gab der Frau ihre Karte –, »sagen Sie mir einfach Bescheid.«

Die Frau nahm die Karte und ließ sie in ihrer Hosentasche verschwinden. Dann drehte sie sich um, ging den holprigen Weg entlang und verschwand hinter dem Haus. Schutt und Steine türmten sich dort und die alten sanitären Anlagen – wahrscheinlich das ganze Zeug, das man bei den Bauarbeiten aus dem Haus geholt hatte.

*

Als Milena nach Hause kam und auf der Fahrt in den fünf‌ten Stock im Lift die Schmierereien an der Kabinenwand betrachtete, erinnerte sie sich, dass Vera heute Morgen angekündigt hatte, die Gardinen zu waschen. Hoffentlich hatte die alte Waschmaschine nicht gerade jetzt schlappgemacht, das hätte ihr noch gefehlt.

»Hallo!«, rief Milena und zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss, stellte ihre Einkaufstüte ab {37}und hängte den Schlüssel ans Brett. Es roch nach überbackenem Käse, und sie merkte, wie hungrig sie war. Sie schlüpf‌te in ihre Pantoffeln.

Die Nebenkostenabrechnung war gekommen und lehnte dekorativ am Strohhut auf der Anrichte, außerdem ein Werbegutschein für den neuen Fußpflegesalon in der Carnegie-Straße. Die Gardinen im Wohnzimmer rochen frisch und sahen aus wie neu.

Fiona, die Katze, saß sittsam in der Küche auf Milenas Stuhl, zwischen Vera und Adam, die schon mit dem Essen begonnen hatten.

»Du bist spät«, sagte Vera. »Setz dich.«

Milena öffnete den Kühlschrank, um die Einkäufe zu verstauen. »Was macht dein Schnupfen?«, fragte sie und hielt ihre Hand an Adams Stirn.

»Oma und ich haben heute die Winterdecken weggepackt und die Sommerdecken rausgeholt«, sagte er.

Milena fuhr ihm über die Haare. »Sehr schön.«

»Und die Kopfkissen.«

»Das habt ihr gut gemacht.« Sie gab der Katze einen Stups, und Vera häuf‌te eine große Portion vom Auf‌lauf auf Milenas Teller. Die übriggebliebenen Putenschnitzel vom Vortag befanden sich darin, in Streifen geschnitten, außerdem Steinpilze und frischer Estragon.

»Haben wir noch Weißwein?«, fragte Milena.

Bevor Vera etwas sagen konnte, war Adam {38}bereits aufgestanden und holte die Flasche aus dem Kühlschrank.

Milena schaute ihren Sohn erstaunt an. »Habt ihr Französisch zurückbekommen?«

»Wieso?«

»Ich frage ja nur. Hast du ein schlechtes Gewissen?«

»Lass den Jungen«, sagte Vera. »Es ist alles in Ordnung.«

Als er im Bett lag – die Zähne geputzt, Arme und Beine mit der guten Pavlović-Creme eingerieben – und Milena zurück in die Küche kam, legte Vera ihr Kreuzworträtsel beiseite. Milena schenkte sich einen Rest kalten Kaffee ein und setzte sich zu ihr an den Küchentisch.

»Was ist los?«, fragte sie.

Vera nahm ihre Brille ab. »Ich mache mir Sorgen«, sagte sie.

»Hat er etwas angestellt?«

»Ich glaube, er brütet etwas aus.«

»Wie kommst du darauf? Er hat dir heute bei den Betten geholfen.«

»Und bei den Gardinen.«

»Na also.«

»Das soll er aber nicht. Er soll lernen, sich wie ein Mann zu benehmen.«

»Aber ich will nicht, dass er im Stehen pinkelt.«

{39}Vera schüttelte den Kopf. »Du willst mich nicht verstehen. Wir sind zwei Weiber, und wir müssen aufpassen, dass er nicht verweichlicht.«

»So ein Blödsinn.«

»Siniša ist völlig meiner Meinung.«

»Siniša? Was hat er jetzt damit zu tun?«

»Er hat angerufen. Er hat dich nämlich gesucht.«

»Geh schlafen, Mama.« Milena stellte ihren Becher in die Spüle. »Und mach dich nicht verrückt.«

Sie gab ihrer Mutter einen Kuss, ging in ihr Zimmer und knipste die Lampe über dem Schreibtisch an. Kurz horchte sie in den Flur, dann schloss sie die Tür, nachdem – im letzten Moment – Fiona hereinhuschte.

Milena nahm einen Zigarillo aus der Schachtel und stellte das Fenster auf Kipp. Sie rauchte, streichelte die Katze und starrte auf das Haus gegenüber, die graue Betonwand. Einmal im Leben kam Philip zu Besuch, und die ganze Familie drehte durch. Seit Wochen fieberte Adam seinem Geburtstag und seinem Vater entgegen. Milena war keine Psychologin, aber vielleicht hatte ihr Kind deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie streif‌te die Asche ab.

Sie wusste nicht, ob sie bei ihrer Erziehung alles richtig machte, ob sie zu wenig Zeit mit ihrem Kind verbrachte, es zu sehr verhätschelte, nicht konsequent genug war, Vera zu viel Verantwortung {40}aufbürdete. Aber Adam war ein geliebtes Kind. Und wenn er anders war als andere Jungs, zu sensibel, verweichlicht oder was auch...