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München

Robert Harris

 

Verlag Heyne, 2017

ISBN 9783641213725 , 432 Seiten

Format ePUB

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9,99 EUR


 

2

Die Wilhelmstraße im Herzen des Regierungsviertels von Berlin. Paul von Hartmann saß an seinem Schreibtisch in dem weitläufigen, dreistöckigen Bau aus dem 19. Jahrhundert, der das deutsche Außenministerium beherbergte. Er dachte über das Telegramm nach, das in der Nacht aus London eingetroffen war.

Vertraulich

London, 26. September 1938

Im Namen unserer alten Freundschaft und unseres gemeinsamen Wunsches nach Frieden zwischen unseren Völkern bitte ich Eure Exzellenz dringend, allen Einfluss geltend zu machen, um eine Verschiebung des entscheidenden Vorrückens am 1. Oktober auf einen späteren Zeitpunkt zu erreichen, damit die hitzigen Gemüter sich abkühlen können und sich Gelegenheit findet, eine Regelung der Angelegenheit zu erzielen.

Rothermere, Fourteen Stratton House, Piccadilly, London

Von Hartmann zündete sich eine Zigarette an und grübelte über die passende Form der Antwort nach. In den sieben Monaten seit Joachim von Ribbentrops Amtsantritt als Reichsaußenminister war er oft damit betraut worden, eingehende Nachrichten vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen und dann im Namen des Ministers eine Antwort zu entwerfen. Zunächst hatte er sich an den herkömmlichen formellen und neutralen Tonfall des Berufsdiplomaten gehalten. Viele dieser Entwürfe waren als unzureichend nationalsozialistisch zurückgewiesen worden – manche hatte ihm SS-Sturmbannführer Sauer aus von Ribbentrops Stab sogar persönlich überbracht –, durchgestrichen mit einem dicken schwarzen Stift. Da er auf der Karriereleiter weiter aufsteigen wollte, hatte er sich gezwungen gesehen, eine gewisse Anpassung seines Stils vorzunehmen. Nach und nach hatte er sich antrainiert, das bombastische Gehabe und die radikale Weltsicht des Ministers zu imitieren. Und in diesem Geiste machte er sich an die Arbeit, für Viscount Rothermere, den Besitzer der Daily Mail, eine Antwort zu formulieren. Er steigerte sich in eine Pseudoempörung hinein und hackte geradezu mit der Schreibfeder auf das Papier ein. Besonders der letzte Absatz erschien ihm meisterhaft gelungen:

Der Gedanke, das wegen des Sudetenproblems, das für England völlig nebensächlicher Natur ist, zwischen unseren beiden Völkern der Frieden gebrochen werden könne, scheint mir Wahnsinn und ein Verbrechen an der Menschheit. Deutschland hat England gegenüber eine schnurgerade Politik der Verständigung verfolgt. Es wünscht den Frieden und die Freundschaft mit England, aber wenn fremde bolschewistische Einflüsse in der englischen Politik Oberwasser bekämen, ist Deutschland auf jede Eventualität vorbereitet. Die Verantwortung vor der Welt für ein solches Verbrechen würde aber niemals auf Deutschland fallen können, das wissen Sie, mein lieber Lord Rothermere, am besten von allen.

Er blies auf die Tinte. Bei von Ribbentrop konnte man wirklich nie zu dick auftragen.

Von Hartmann zündete sich eine neue Zigarette an. Er begann noch einmal von vorn, blinzelte durch den Rauch auf das Papier und änderte hier und da eine Kleinigkeit. Seine Augen hatten eine auffallend violette Färbung, sein Blick war leicht verschleiert. Er besaß eine hohe Stirn, der Haaransatz hatte sich trotz seinen erst neunundzwanzig Jahren schon fast bis zur Schädelmitte zurückgezogen. Der Mund war breit und sinnlich, die Nase kräftig – es war ein lebhaftes und ausdrucksstarkes Gesicht: einnehmend, ungewöhnlich, fast hässlich. Und doch war es ihm gegeben, dass sowohl Männer als auch Frauen ihn mochten.

Er wollte gerade den Entwurf in den Korb für die Schreibkräfte legen, als er ein Geräusch hörte. Vielleicht war es präziser zu sagen, dass er das Geräusch spürte. Es schien durch die Schuhsohlen zu dringen und an den Stuhlbeinen emporzukriechen. Die Blätter in seiner Hand zitterten. Das Grollen wurde stärker, steigerte sich zu einem Dröhnen, und einen Augenblick lang fragte er sich, ob wohl ein Erdbeben die Stadt heimsuche. Aber dann hörte er die unverkennbaren Geräusche von schweren, hoch drehenden Motoren und klirrenden Metallketten heraus. Seine beiden Bürokollegen, von Nostitz und von Rantzau, schauten sich an und runzelten die Stirn. Sie standen auf und gingen zum Fenster. Von Hartmann folgte ihnen.

Eine Kolonne olivgrüner gepanzerter Fahrzeuge rollte von Unter den Linden kommend in südlicher Richtung durch die Wilhelmstraße – Halbkettenfahrzeuge, Panzer auf Schwerlasttransportern, schwere, von Lastwagen oder Pferdegespannen gezogene Geschütze. Von Hartmann verrenkte den Hals. Er konnte kein Ende erkennen. Nach der Länge zu urteilen, musste es sich um eine vollständige motorisierte Division handeln.

»Mein Gott, geht es schon los?«, sagte von Nostitz, der älter als von Hartmann war und einen Dienstgrad über ihm stand.

Von Hartmann ging zu seinem Schreibtisch zurück, hob den Telefonhörer ab und wählte einen Nebenanschluss im Haus. Er musste sich das linke Ohr zuhalten, um den Lärm auszuschalten. »Kordt«, sagte eine blecherne Stimme am anderen Ende.

»Hier ist Paul. Was geht da vor?«

»Wir treffen uns unten.« Kordt legte auf.

Von Hartmann nahm seinen Hut vom Haken.

»Wollen Sie auch gleich einrücken?«, fragte von Nostitz spöttisch.

»Natürlich nicht, ich will nur unserer heldenhaften Wehrmacht zujubeln.«

Er eilte durch den düsteren hohen Gang, dann die Haupttreppe hinunter und schließlich durch die Flügeltür. Eine kurze, von zwei Steinsphingen gesäumte Treppe, auf der in der Mitte ein blauer Läufer lag, führte in die Eingangshalle. Obwohl die Luft vom hereindringenden Lärm geradezu vibrierte, lag die Halle zu von Hartmanns Überraschung verlassen da. Kordt stieß eine Minute später zu ihm. Seine Aktentasche hatte er unter den Arm geklemmt. Er nahm die Brille ab, hauchte auf die Gläser und polierte sie mit dem Krawattenzipfel. Zusammen traten sie hinaus auf die Straße.

Auf dem Gehweg hatte sich nur eine Handvoll Angestellter des Außenministeriums eingefunden. Gegenüber sah das natürlich anders aus. Im Propagandaministerium lagen sie in allen Fenstern. Der Himmel war wolkenverhangen und lechzte danach, sich ausregnen zu können. Von Hartmann spürte einen Tropfen auf der Wange. Kordt nahm von Hartmanns Arm, und zusammen gingen sie in die gleiche Richtung wie die Militärkolonne. Die zahlreichen rot-weiß-schwarzen Hakenkreuzfahnen hingen regungslos über ihnen. Sie verliehen der grauen Steinfassade des Ministeriums ein festliches Aussehen. Dennoch waren auf der Straße auffallend wenige Menschen unterwegs. Niemand winkte oder jubelte, die meisten hielten den Kopf gesenkt oder blickten starr geradeaus. Von Hartmann wunderte sich. Normalerweise wurden solche Auftritte von der Partei besser organisiert.

Erich Kordt hatte noch kein Wort gesagt. Der Rheinländer schritt nervös aus. Nachdem sie etwa zwei Drittel der Gebäudefront hinter sich hatten, schob er von Hartmann unter den Mauervorsprung eines unbenutzten Eingangs. Die schwere Holztür war verriegelt, das Vordach schützte sie vor neugierigen Blicken. Nicht dass es da viel zu sehen gab: nur den wie ein harmloser bebrillter Beamter aussehenden Büroleiter des Reichsaußenministers und einen großen, jungen Legationssekretär, die eine Stegreifbesprechung abhielten.

Kordt drückte die Aktentasche an die Brust, öffnete den Schnappverschluss und zog ein maschinengeschriebenes Schriftstück heraus. Er reichte es von Hartmann. Sechs Seiten in besonders großen Buchstaben, so wie es der Führer mochte, um seine weitsichtigen Augen zu schonen, wann immer er sich mit banalem Bürokratenkram abzugeben hatte. Es handelte sich um den Bericht seines morgendlichen Treffens mit Sir Horace Wilson, geschrieben von Dr. Paul Schmidt, dem Chefdolmetscher im Außenministerium. Obwohl das Geschilderte in ödester Amtssprache abgefasst war, konnte von Hartmann es sich dennoch so lebhaft vorstellen wie eine Episode aus einem Roman.

Der servile Wilson hatte dem Führer zur freundlichen Aufnahme seiner Sportpalastrede vom Abend zuvor gratuliert (als ob etwas anderes möglich wäre!), hatte ihm für die freundliche Erwähnung von Premierminister Chamberlain gedankt und zwischendurch die weiteren Anwesenden gebeten – von Ribbentrop und Botschafter Nevile Henderson sowie dessen Kanzleichef Ivone Kirkpatrick von der britischen Botschaft –, ihn kurz mit dem Führer allein zu lassen. Von Mann zu Mann versicherte er ihm persönlich, dass London weiter Druck auf die Tschechen ausüben werde (Schmidt hatte seine Worte sogar im englischen Original festgehalten: I will still try to make those Czechos sensible). Aber den Kern der Begegnung konnte nichts verschleiern: Wilson hatte die Verwegenheit besessen, eine vorbereitete Erklärung des Inhalts zu verlesen, dass im Falle von Kampfhandlungen die Briten den Franzosen beistehen würden, und hatte dann den Führer gebeten, das Gesagte zu wiederholen, um jedes Missverständnis auszuschließen! Kein Wunder, dass Hitler die Beherrschung verloren und Wilson angeschnauzt hatte, es sei ihm einerlei, was Franzosen oder Briten täten, er habe Milliarden für die Kriegsvorbereitung ausgegeben, und wenn sie Krieg wollten, dann würden sie Krieg bekommen.

Von Hartmann sah das Bild eines unbewaffneten Passanten vor sich, der einen Geistesgestörten zu überreden...