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Wie man es vermasselt

George Watsky

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608236 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{22}14.–15. August


Wir ließen San Francisco hinter uns und fuhren nun durch die nordkalifornischen Trinity Alps bis zur kleinen Hütte meines Onkels und meiner Tante in der Nähe von Hyampom. Jackson und ich verbrachten dort einen Tag, ließen Steine übers Wasser titschen und freuten uns über die Libellen und die Adler, die über uns daherflogen. Dann machten wir uns wieder auf nach Norden. Unser nächster Halt war Seattle, wo Jacksons Bruder als Wassertaxikapitän arbeitete und morgens um vier aufstehen musste, um Pendler vom Festland zu ihren Arbeitsstellen auf den kleinen Inseln vor der Küste zu schippern. In der Nacht verbrachten Jackson und ich die letzten Stunden vor Beginn unserer Schmugglerkarriere in Decken gekuschelt im dunklen Wohnzimmer und stellten uns den schlimmstmöglichen Ausgang unseres Unterfangens vor.

»Der Typ hatte in Mexiko Gras verkauft, und dann haben die dem zwei Morde angehängt.« Die Geschichte stammte aus Horror Trips – Wenn Reisen zum Alptraum werden, Jacksons Lieblings-Reality-Serie über Reisende, die Gesetze brachen und deren Reisen … na ja, zum Alptraum wurden. In jeder Folge, die Jackson nacherzählte, hatte der Missetäter am Ende ein byzantinisches {23}Gerichtsverfahren am Hals, hockte ohne Kontaktmöglichkeit zu seiner Familie fest, musste trockenes Brot essen, das von Maden nur so wimmelte, und kratzte Nachrichten in die Steinwände seines Verlieses, das er sich mit einem sexuell unersättlichen Bodybuilder-Typ namens Tiny teilen musste.

Per Münzwurf bestimmten wir, dass Jackson uns nach Kanada fahren und ich den Rückweg übernehmen würde. Während wir uns, zwischen Wäldern und Bergen, allmählich der Grenze und der ersten tatsächlich riskanten Situation näherten, verlor das Abenteuer, dessen Helden wir hatten werden wollen, zusehends an Reiz. Wir können jederzeit einen Rückzieher machen, versicherten wir einander, das wäre keine Schande. Nur stimmte das leider nicht – es wäre eine entehrende, vernichtende Schande. Obwohl die Stimmung im Auto immer mehr sank, fuhren wir weiter und reihten uns in die Warteschlange am Grenzübertritt ein.

Schließlich waren wir dran.

»Ihren Reisepass, bitte. Was ist der Grund Ihres Aufenthalts in Kanada?«

»Wir besuchen eine Freundin der Familie.« Jackson übernahm das Reden und reichte dem Beamten unsere Pässe.

»Und was machen Sie da?«

»Wir gehen zusammen wandern«, gab Jackson {24}an – das war das Alibi, das wir uns zurechtgelegt hatten.

»Ach ja? Wo denn?«

Weiter als bis zum Stichwort »wandern« waren wir bei unserer Geschichte nicht gekommen. Jackson schluckte. »Keine Ahnung.«

Der Beamte sah von den Pässen auf.

»Haben Sie irgendwelche Drogen, Waffen oder Alkohol dabei?«

»Nein«, sagte Jackson. Er klang nicht gerade überzeugend.

»Fahren Sie bitte rechts ran, stellen Sie den Motor ab, und warten Sie drüben im Zollbüro.«

Durchs Fenster des Zollbüros sahen wir zu, wie eine halbe Hundestaffel an den Autotüren herumschnüffelte und ein Beamter das Wageninnere durchwühlte, jeden einzelnen Gegenstand in die Hand nahm und untersuchte.

Jackson lehnte sich zu mir herüber. »Die finden doch nichts, oder?«, flüsterte er.

»Pssst!«, machte der Beamte am Schreibtisch.

Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatten wir jegliches Gefahrengut vor dem Grenzübertritt beseitigt. Nach einer hitzigen, aber ergebnislosen Debatte darüber, ob Hunde psychedelische Drogen riechen können, hatten wir sogar mein letztes Stück Shroom-Schokolade bei Jacksons Bruder in {25}Seattle gelassen und somit ein reines Gewissen. Tatsächlich gab der Beamte irgendwann auf und kam zu uns in den Warteraum.

»Wer von Ihnen ist George?«

Ich hob die Hand und ging auf ihn zu, auf das Schlimmste gefasst.

»Sie sind also Musiker, hm?«

»So was ähnliches, ja.«

»Und Sie gehen demnächst auf Tour?«

Der Beamte reichte mir mit ernstem Gesicht meinen Kalender und lächelte dann überraschend. »Viel Spaß!«

Obwohl wir kurz darauf den Stempel im Reisepass und das rosa Einreiseformular in der Tasche hatten, das uns offiziell in Kanada willkommen hieß, kam uns die Durchsuchung wie ein schlechtes Omen vor. Bestimmt standen wir jetzt auf irgendeiner internationalen Liste zwielichtiger Gestalten, die uns beim Verlassen des Landes eine weitere Durchsuchung einbringen würde.

Wir fuhren direkt nach Vancouver weiter und gaben uns große Mühe, dabei nichts Verdächtiges zu tun. Sobald unsere Handys sich ins internationale Roaming eingewählt hatten, riefen wir Lydia an und sagten ihr, dass wir bald da sein würden. Vor dem Fenster zog die gespenstisch fremde Landschaft mit ihren Tim-Hortons-Filialen, {26}Entfernungsangaben in Kilometern und verschlafenen Seitenstraßen vorbei.

 

»Das findet ihr totenstill? Ihr hättet mal hier sein sollen, als die Canucks das Cup-Finale verloren haben«, begrüßte uns Lydia. »Da konnte man einzelne Herzen brechen hören.«

Ihre Wohnung war blitzblank und spärlich dekoriert. Ich wartete ungeduldig, während sie und Jackson über Leute aus Denver tratschten, die sie beide über Tante June kannten. Endlich führte sie uns ins Schlafzimmer. Der Stoßzahn lag schon auf ihrem Bett bereit, halb in die Decke eingesunken. Ein faszinierendes Meisterwerk der Natur: ein gewundener Speer, dessen Spiralringe unten weit waren und sich nach oben hin mit mathematischer Präzision immer mehr verengten. Der Stoßzahn war kompakt, tödlich und gleichzeitig wunderschön, ebenso geisterhaft wie greifbar. Jetzt konnte ich Tante Junes Besessenheit verstehen. Auch Lydia schien es nicht ganz leicht zu fallen, sich von ihm zu trennen. Sie wusste ja, dass wir gekommen waren, um ihn mitzunehmen, und half uns gern. Aber als Jackson ihr das schwarze Plastikrohr abnehmen wollte, in dem er steckte, flackerte in ihren Augen kurz eine Gollum-mäßige Gier auf. Dann ließ sie los, und der Stoßzahn gehörte uns.

{27}In der Küche verpackte sie die Beute für den Transport. Dabei schüttete sie ein paar lose Elfenbeinstückchen aus dem Plastikrohr in ihre Hand, winzige Partikel, die von der Basis des Stoßzahns abgesplittert waren, dort, wo er einst mit dem Schädel verbunden war. Sie wollte sie gerade in den Mülleimer werfen, da durchzuckte mich der Gedanke, dass Narwalstoßzähne, und sei es in Form von Spänen, bestimmt irgendwelche geisterabwehrenden/potenzsteigernden/halluzinogenen oder sonstwie magischen Kräfte besaßen.

»Warte mal, die nehm ich als Souvenir mit.«

Sie schüttete die Stücke in einen kleinen Zip-Beutel und gab ihn mir. Dann gingen wir hinaus, um das Plastikrohr im Auto zu verstauen. Während ich es mit meiner Schmutzwäsche bedeckte, besprachen wir das weitere Vorgehen. Jackson und ich hielten es für das Klügste, erst spätnachts, im Schutze der Dunkelheit, zurück über die Grenze zu fahren. Das hieß, dass wir noch ein paar Stunden totzuschlagen hatten.

»Kommt doch einfach wirklich mit mir wandern«, schlug Lydia vor.

Am Stadtrand von Vancouver gibt es ein kleines Skigebiet namens Grouse Mountain, dessen Piste man im Sommer hochwandern kann. Der Spitzname der fast vertikalen Route, »der {28}Todesaufstieg«, hat für die Heerscharen von Fitnessmasochisten in der Stadt offenbar einen verführerischen Klang. Lydia wollte an diesem Nachmittag ohnehin für einen bald anstehenden Triathlon trainieren, was für den Durchschnittskanadier gar nicht so ungewöhnlich ist, wie ich überrascht erfuhr. Wir hatten ja gewusst, dass sie wandern gehen wollte, das war schließlich die Basis unseres wackligen Alibis gewesen, und wodurch wird ein wackliges Alibi besser? Genau, indem man es wahr macht.

Also joggten wir gemeinsam mit zwei von Lydias Trainingsfreunden, die in teure Sportkleidung gehüllt waren, vom Parkplatz zum Fuß des Bergs, wo uns eine Parkwächterin gerade das schmiedeeiserne Tor vor der Nase zuschlagen wollte.

»Schluss für heute, wir machen zu!«, rief sie.

Lydia schob das Tor unbeeindruckt mit der Schulter ein Stück auf, und wir schlüpf‌ten schnell hindurch, bevor es hinter uns metallisch krachend ins Schloss fiel. Vor uns stand ein riesiges Warnschild: »WANDERN AUF EIGENE GEFAHR. ES WIRD KEINERLEI HAFTUNG ÜBERNOMMEN FÜR VERLETZUNGEN ODER TODESFÄLLE DURCH LAWINEN, STEINSCHLAG, SCHLUCHTEN, KLÜFTE, GLETSCHERSPALTEN, WASSERFÄLLE, PLÖTZLICHE WETTERUMSCHWÜNGE, HAUS-, WILTDIERE ODER WEITERE GEFAHRENQUELLEN.« An einem Zaun ein paar Meter {29}weiter warnte ein zweites Schild, dass hier vor kurzem Schwarzbären gesichtet worden waren. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Schlucht und einer Kluft?, überlegte ich. Das ist doch eine unglaublich spitzfindige Unterscheidung. Wahrscheinlich war das Formular für die Schlucht-Todesfälle irgendwann voll gewesen, und da hatten sie eben ein neues mit Kluft-Todesfällen angefangen. Die Parkwächterin rief uns noch einmal halbherzig etwas hinterher. Geistig war sie schon längst im Feierabend, wahrscheinlich wollte sie uns lediglich noch mal darauf hinweisen, dass im Falle des Falles niemand unsere Leichen vom Berghang runterholen würde.

»Wer als erster oben ist!«

Lydia und ihre Freunde sprinteten los wie kleine Road Runner und waren Sekunden später in einer Staubwolke verschwunden.

Der »Todesaufstieg« ist so steil, dass Holzstufen – oder eher Leitersprossen – in den Berg gehauen werden mussten. Jackson und ich quälten uns hinauf und...