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Raubbau an der Seele - Psychogramm einer überforderten Gesellschaft

Wolfgang Schmidbauer

 

Verlag oekom Verlag, 2017

ISBN 9783960062165 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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1
Die fatale Attraktion der Antidepressiva


Von der Pharmaindustrie unabhängige Forscher sind sich weitgehend einig, dass die Wirkung antidepressiver Medikamente 1. nicht auf dem von den Herstellern behaupteten Mechanismus der »Erschöpfung« des Botenstoffs Serotonin im Gehirn beruht und 2. bei der weit überwiegenden Zahl behandelter Patienten die Wirkung des geläufigen Placebo aus Milchzucker nicht übersteigt.
Wie lässt sich dann der wachsende Umsatz solcher Medikamente verstehen?
Eine Analyse dessen, was hier geschieht, ist zugleich eine Analyse der verwickelten Beziehungen zwischen Arzt und Patient in der Konsumgesellschaft, der Werbung in einem von starken emotionalen Bedürfnissen bestimmten Feld und dem strategischen Vorgehen der beteiligten Industrie. Und sie ermöglicht tiefe Einblicke in seelische Zurichtungen, welche der 1972 versuchten Unterscheidung eines Homo consumens vom Homo sapiens neue Aspekte hinzufügen.
Wenn wir die Vorgeschichte einer Depression verstehen, verstehen wir auch die seelischen Vorteile einer Zuschreibung von »organischen« Ursachen. Zu dieser Vorgeschichte gehört ein soziales Milieu, das parallel zur Entwicklung der modernen Gesellschaft mehr und mehr von abstrakten pädagogischen Forderungen geprägt wird.
In einer Jägerkultur muss niemand dem Kind mit viel Nachdruck beibringen, nicht zu naschen. Alle essen alles, essen, was sie finden können, Verzicht wird von der Natur auferlegt, nicht von den Eltern. Die Kinder werden nicht geschlagen, nicht bestraft, wenn sie nicht still sitzen. Das Leben in einer solchen Kultur ist hart, aber dieser Härte sind alle unterworfen, sie wird nicht geschaffen, um das Verhalten der Kinder entlang von Erwartungen zu kanalisieren, die für das Kind unverständlich sind.
Heute werden die Erwachsenen von den Kindern grundsätzlich ambivalent erlebt. Vor allem sind das gerade jene Erwachsenen, die dem Kind am nächsten stehen, zu denen die intensivste Beziehung besteht, die am meisten als Rollenmodell verinnerlicht werden. Manche Eltern drohen mit Liebesentzug, ja Strafe, wenn das Kind nicht lernt, abstrakte Normen – etwa still zu sitzen, sich Schriftzeichen zu merken, mit Zahlen umzugehen – zu erfüllen. Andere bemühen sich, keinen Druck auf das Kind auszuüben. Dennoch kann auch hier das Kind die Ängste der Eltern unbewusst aufnehmen, es könnte versagen.
Die Depression wird in ihrem lebensgeschichtlichen Kontext verständlich, wenn wir die Dreifaltigkeit von Angst, Aggression und Anpassung betrachten. Das Kind reagiert spontan mit Wut auf die Zwänge, seine Wünsche zu kanalisieren, auf die Ausführung von Impulsen zu verzichten, sich den Forderungen nach Anpassung zu unterwerfen. Aber es muss lernen, diese Wut zu unterdrücken, sie nicht mehr zu spüren, »lieb und brav« zu sein, um die brüchigen Elternbilder zu stützen. Es bemerkt die Ängste der Eltern und lernt, sich so zu verhalten, dass die Eltern weniger Angst haben und es ihnen gut geht, denn das bedeutet auch für das Kind ein höheres Maß an Sicherheit.
Die Schritte von der Orientierung am Hunger zur Orientierung an der Angst erfordern viele Entscheidungen, in denen komplexe Zusammenhänge langfristig angegangen und Interessenkonflikte bewältigt werden sollen. Nach dem Verlust der Orientierung am Hunger müssen erheblich mehr Gefühle von Schuld und Scham verarbeitet werden; insgesamt wachsen die Forderungen, schnelle Emotionen zu stoppen, sie durch gründliche Überlegung zu klären und zum Teil dauerhaft zu unterdrücken.
In einer auch an ökologischen und evolutionstheoretischen Gesichtspunkten orientierten Sichtweise dreht sich die Betrachtung der Depression sozusagen um. Unsere Psyche ist zunächst von den Lebensformen der Altsteinzeit strukturiert, einem intakten Wechselspiel von Anspannung und Entspannung. Dieses Wechselspiel ist in der Konsumgesellschaft nicht mehr auf einigermaßen harmonische Weise möglich. Um ein dauerhaftes Funktionieren in dieser Gesellschaft zu gewährleisten, muss eine manische Abwehr aufgebaut werden, eine präventive Abwehr von Unlust, Angst und Aggression. Sie kann besser oder schlechter funktionieren. Sie kann auch zusammenbrechen; das Ergebnis ist je nach der Intensität des Zusammenbruchs eine mehr oder weniger heftige/lang dauernde Depression.
Der »normale« Mensch kann die Normen in der modernen Gesellschaft nur dadurch erfüllen, dass er seine Belastbarkeit überschätzt. Diese Überschätzung ist der Kern einer manischen Abwehr. Großstadtkinder würden über ein Eskimokind lachen, das Lärm und Reizüberflutung einer Metropole unerträglich findet. Aber die Abwehr, die sie aufbauen mussten, fordert ihren Preis.
Die zahlreichen Ansprüche an unsere Belastbarkeit haben ebenso zahlreiche Formen des Versagens an den Leistungsforderungen hervorgerufen – von der Sucht bis zu den Zwängen, den Angststörungen und der Depression. Die psychischen Störungen haben in der modernen Welt nicht dazu geführt, die Überschätzung dessen zu revidieren, was »Normale« ertragen müssen. Im Gegenteil, es entstand ein riesiges Angebot von Dienstleistungen und Waren um den Gedanken herum, die manische Abwehr zu ignorieren und nicht bei ihr anzusetzen, sondern ihre zwangsläufigen Zusammenbrüche zu vermarkten.
Ein emeritierter Ordinarius kommt wegen einer Depression in Behandlung. Die Sorgen und Ängste des Siebzigjährigen kreisen um seinen Sohn. Er hat dem nicht mehr jungen Mann, der ihm schon während der Schulzeit viele Sorgen machte, Marihuana rauchte und sich mit den Lehrern anlegte, zwei abgebrochene und ein abgeschlossenes Studium bezahlt. Gegenwärtig arbeitet der 45-Jährige an einer Dissertation und schreibt Artikel für eine alternative Filmzeitschrift, mit denen er kaum Geld verdient. Der Vater finanziert ihm eine Wohnung und unterstützt ihn in unregelmäßigen Abständen. Er beklagt die Unfähigkeit des Sohns, mit Geld umzugehen und sich notfalls rechtzeitig zu melden, um die hohen Zinsen für den Dispokredit zu vermeiden. Der Sohn kommt erst, wenn sein Kreditrahmen überzogen ist, weil er sich schämt, dass er nicht genug verdient, wird aber wütend und unzugänglich, wenn der Vater versucht, mit ihm Wege zu diskutieren, mit seinen Qualifikationen eine Arbeit zu finden, die ihn von den väterlichen Zuwendungen unabhängig macht. Er lasse sich keine Deppenarbeit aufzwingen! »Ich kann ihn nicht im Stich lassen«, sagt der Vater. »Als er noch klein war, habe ich mich nicht genug um ihn gekümmert.« Die Eltern sind geschieden, Mutter und Sohn haben nach einem Streit den Kontakt abgebrochen.2
Während der Professor seine Karriere festigen und darin seinen Realitätssinn bewahren konnte, hat er sich als Vater folgenschwer überschätzt. Er hat in der Begegnung mit seinem Sohn alle Signale ignoriert, aus denen er hätte schließen können, dass seine spezielle Form der Fürsorge nicht angemessen aufgenommen wurde.
Der junge Mann hat keinen Weg in eine erwachsene Rolle und in wirtschaftliche Unabhängigkeit gefunden, sondern sich bisher immer so verhalten, wie es die Verzerrung der Realität durch die väterliche Abwehr erforderte. Da der Vater die Möglichkeit eines Scheiterns der akademischen Karriere des Sohns nicht zulassen konnte, hat er dessen wiederholt auftretende Depressionen geleugnet und den Sohn darin unterstützt, sie durch mehrere Studienwechsel manisch zu verarbeiten.
Das Leben des Sohnes ist von einer Mischung aus Scham- und Schuldgefühlen sowie Resignation geprägt, die durch eine auf den Vater gerichtete Entwertung erträglich gehalten wird. Er kann immer wieder die Überzeugung aufbauen, dass der Vater an seiner Unreife schuld ist und bisher das Falsche von ihm verlangt und für ihn getan hat. In diesem Zustand ist er für den Vater ebenso unzugänglich wie im Cannabisrausch, dessen Vorzüge er gegenüber dem Alkoholkonsum des Vaters ins Feld führt.
Es leuchtet ein, dass die Beteiligten, Vater wie Sohn, eine Auseinandersetzung mit ihrem Realitätsbezug und ihren Erwartungen aneinander scheuen. Sie müssen damit rechnen, dass unangenehme Fragen laut werden und beschämende Veränderungen anstehen. Sie können sich durch die Vorstellung entlasten, dass es eine depressive Erbanlage gebe, die entweder von der Mutter komme oder aber vom Vater durch große Disziplin gezügelt worden sei. Auf jeden Fall ist der Sohn betroffen. Jetzt droht auch beim Vater die Krankheit auszubrechen.
Das Kind greift in der Suche nach Schutz zu Elternbildern und verinnerlicht sie. Diese jedoch sind von Angst und Aggressionsvermeidung geprägt. Der manischen Überschätzung entspricht die manische Abwehr als entscheidender Kategorie. Daher will ich an dem Begriff der manischen Abwehr festhalten, denn in ihr ist die zentrale Illusion der Konsumgesellschaft klar betont. Sie ist die Prämisse des depressiven Zusammenbruchs und bindet gleichzeitig die depressiv Erkrankten an diese Gesellschaft. Deren Motto lautet seit jeher »jetzt haben, später zahlen!« – buy now, pay later, der Werbegrundsatz der Kreditkartenindustrie in den USA.
Nun erleben viele Personen zwar die Depression leidvoll, finden aber in sich nichts, was sie eine manische Abwehr nennen würden, es sei denn die schlichte Erwartung, dass ihr Leben glattgeht, Leistung belohnt wird, Menschen, denen ich gut begegne, mir Gleiches vergelten. Die antidepressiven Medikamente unterstützen diese Ignoranz in Bezug auf die manische Abwehr. Sie werden angeboten als Helfer gegen die Depression, die sich nicht mehr leugnen lässt. Aber sie tragen auch dazu bei, den gesellschaftlichen Bezug zu leugnen, die Einsicht in einen falschen Weg auszublenden.
Wer einen Weg...