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Die Hexenholzkrone 1 - Der letzte König von Osten Ard 1

Tad Williams

 

Verlag Klett-Cotta, 2017

ISBN 9783608108781 , 752 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR

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Vorspiel


Ross und Reiterin glitten bergab durch das Kynswaldgehölz, das aus Lärchen, glanzblättrigen Buchen und mit Kätzchen behangenen Eichen bestand. Lautlos erschienen sie in einem Sonnenlichtkegel, dann im nächsten. Sie bewegten sich in einem Tempo fort, das jeden Sterblichen erschreckt hätte. Doch der helle Mantel der Reiterin schien sämtliche Farben der Umgebung zu reflektieren, sodass ein unkonzentrierter Betrachter nur eine kurze Bewegung wahrgenommen, nur an einen Windhauch gedacht hätte.

Die milde Luft gefiel Tanahaya. Die Musik der Waldinsekten auch, das Zirpen von Grashüpfern und das Summen fleißiger Honigsammlerinnen. Auch wenn der Geruch der Sterblichensiedlung stark und dieser Wald nur ein vorübergehender Schutz war, sagte sie doch innerlich Dank für dieses heitere Zwischenspiel.

Preis dir, Mutter Sonne. Preis für die Düfte des Wachsens. Preis für die Bienen und ihren goldenen Tanz.

Nach den Maßstäben ihres Volkes war sie noch jung, erst wenige hundert Jahre auf der weiten Erde. Viele dieser Jahre hatte Tanahaya von Shisae’ron im Sattel verbracht, zuerst als Botin ihres Clanoberhaupts Himano von den blühenden Hügeln, später dann, nachdem sie dem Haus der Tanzenden Jahre ihre Fähigkeiten bewiesen hatte, in allen möglichen Missionen für ihre Freunde im Clan. Doch dieser Ritt in die Sterblichenhauptstadt schien der gefährlichste zu sein, und mit Sicherheit war er der seltsamste. Sie hoffte, dass sie stark und schlau genug war, um das in sie gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen.

Tanahaya wurde öfter als ungewöhnlich weise für ihr Alter bezeichnet, aber sie verstand noch immer nicht, warum ihre Freunde die Angelegenheiten von Sterblichen so wichtig nahmen – speziell derjenigen Sterblichen, die diesen Teil der Welt bewohnten. Und noch unerklärlicher fand sie es jetzt, da doch klar schien, dass die Zida’ya überhaupt keinem dieser kurzlebigen Wesen mehr trauen konnten.

Aber da kam die Burg, ihr Ziel, gerade eben durch die Bäume in Sicht. Beim Anblick der trutzigen Türme und mächtigen Steinmauern konnte Tanahaya kaum glauben, dass dort einst Asu’a gestanden hatte, die größte und schönste Stadt ihres Volkes. Konnte in diesem plumpen Steingebilde, das die Menschen Hochhorst nannten, noch etwas vom alten Zuhause der Zida’ya übrig sein?

Ich darf nicht darüber nachdenken, was sein könnte, was ich fürchte oder was ich hoffe. Pferd und Reiterin flogen weiter bergab. Ich darf nur sehen, was ist. Sonst erfülle ich meinen Schwur nicht und lasse meine Freunde im Stich.

Am Waldrand machte sie halt. »Tsa, Spinnenseide«, flüsterte sie, und das Pferd stand vollkommen still, während Tanahaya horchte. Neue Geräusche drangen jetzt den Hang herauf, zugleich mit einem neuen unerfreulichen Geruch, den tierischen Ausdünstungen ungewaschener Sterblicher. Tanahaya schnalzte mit der Zunge, und Spinnenseide trat seitwärts ins Schattendunkel.

Tanahaya hatte eine Hand am Schwertgriff, als ein Mädchen mit goldenem Haar ins Sonnenlicht herausgerannt kam, in der einen Hand einen schwingenden Korb mit Vorfrühlingsblumen, Narzissen, Schneeglöckchen und lila Krokussen. Tanahayas Sinne sagten ihr, dass das Kind nicht allein war, darum hielt sie sich noch im Schatten zwischen den Bäumen, als auch schon ein halbes Dutzend Bewaffneter keuchend und eisenklirrend hinter dem Kind hergerannt kam. Doch Tanahaya entspannte sich rasch. Es war klar, dass die Bewaffneten der Kleinen nichts tun wollten. Trotzdem erstaunte es sie, dass Sterblichensoldaten so leichtsinnig waren: Sie hätte den meisten von ihnen einen Pfeil in den Leib jagen können, ehe sie auch nur gemerkt hätten, dass sie nicht allein im Kynswald waren.

Eine Sterblichenfrau mit einem Hut, so groß wie ein Wagenrad, folgte den Bewaffneten auf die Lichtung. »Lillia!«, rief die Frau und blieb dann keuchend stehen. »Renn doch nicht weg, Kind! Oh, was bist du ungezogen! Läufst einfach davon, und wir dürfen hinter dir herrennen!«

Das Kind blieb stehen, die Augen vor Staunen aufgerissen. »Aber schau doch mal, Tante Rhoner! Beeren!«

»Beeren? Im Monat Marris? Du verrücktes kleines Ding!« Die Frau, die immer noch nach Atem rang, war wohl nach Sterblichenmaßstäben hübsch – groß, mit feinen, aber kräftigen Wangenknochen. Aus dem, was das Kind gesagt hatte, schloss Tanahaya, dass es Gräfin Rhona von Nad Glehs war, eine der besten Freundinnen der Sterblichenkönigin. Tanahaya fand nichts Seltsames daran, dass eine hohe Adlige ein Kind hütete, auch wenn es andere vielleicht gewundert hätte. »Nein, Lämmchen, du gehst jetzt mit mir nach Hause«, sagte die Gräfin. »Das da sind Eulenbeeren, von denen wirst du krank.«

»Nein, werd ich nicht«, verkündete das Kind. »Weil es nämlich Waldbeeren sind. Und Waldbeeren haben Zauberkräfte. Feenzauberkräfte.«

»Zauber.« Die Frau mit dem Hut klang entrüstet, aber selbst aus dieser Entfernung sahen Tanahayas scharfe Augen, dass ein Lächeln um ihren Mund spielte. »Ich geb dir gleich Feenzauber, mu’harcha! Du wolltest erste Frühlingsblumen suchen, und ich bin mit dir losgegangen. Wir sind jetzt seit Stunden draußen – und bei Deanaghas makellosen Röcken, schau mich an! Ich bin völlig verdreckt und von Brennnesseln zerstochen!«

»Das sind keine Brennnesseln, das sind Beerensträucher«, sagte das goldhaarige Kind. »Deswegen haben sie Dornen. Damit niemand die Beeren isst.«

»Diese Beeren will sowieso niemand außer den Vögeln. Nicht mal Hirsche gehen da dran!«

Die Soldaten, die wegen ihrer schweren Kettenhemden noch immer mächtig schnaufend und mit vor Schweiß glänzenden Gesichtern dastanden, strafften sich allmählich wieder. Das Mädchen hatte ihnen offensichtlich ein langes, ermüdendes Rennen über die Bergflanke geliefert. »Sollen wir sie ergreifen, Erlaucht?«, fragte einer.

Die Gräfin runzelte die Stirn. »Lillia, wir müssen jetzt zurück. Ich möchte mein Mittagsmahl.«

»Ich muss gar nichts, wenn du mich nicht ›Prinzessin‹ oder ›Hoheit‹ nennst.«

»Sei nicht albern! Deine Großeltern sind weg, und ich bin deine Wärterin, mein Löwenjunges. Komm jetzt. Ärgere mich nicht.«

»Wenn nur Onkel Timo hier wäre. Der lässt mich immer Sachen machen.«

»Onkel Timo ist dein ergebener Dienstmann. Nein, er ist dein hilfloser Sklave und lässt dir alles durchgehen. Ich bin aus härterem Holz geschnitzt. Komm jetzt.«

Das Mädchen namens Lillia blickte von der Gräfin auf all die dunklen Sträucher voller bläulich weißer Früchte, seufzte und trottete dann zurück. Wäre der Henkel länger gewesen, hätte der Korb über den Lehmboden geschleift. »Wenn Oma und Opa wiederkommen, sag ich’s ihnen«, warnte sie die Gräfin.

»Sagst du ihnen was?« Die Gräfin sah sie stirnrunzelnd an. »Dass ich dich nicht allein in den Wald rennen lasse, damit dich die Wölfe und Bären fressen?«

»Ich könnte ihnen ja Beeren geben. Dann würden sie mich nicht fressen.«

Die Gräfin nahm die Kleine bei der Hand. »Nicht mal hungrige Bären fressen Eulenbeeren. Und die Wölfe würden lieber dichdich dichdichdich fressen.«

Staunend sah Tanahaya dem Grüppchen nach, bis es in einem Gehölz aus Eichen und Eschen weiter unten am Hang verschwand. Die Vorstellung, dass dieses kleine Geschöpf namens Lillia zur Frau werden, vielleicht heiraten und Kinder und Enkel bekommen, alt werden und sterben würde – alles in nicht viel mehr als einem Großjahr ihres Volkes! Tanahaya dachte, dass man sich als Sterblicher fühlen musste, als versuche man ein ganzes Leben in dem Moment zwischen Absturz und Aufprall zu leben – ein rauschender, wirbelnder Fall in den Tod. Wie machten das diese armen Kreaturen nur?

Erstmals kam es Tanahaya von Shisae’ron in den Sinn, dass sie aus diesem Auftrag vielleicht etwas lernen konnte. Es war ein überraschender Gedanke.

Dieses kleine Wesen war also Lillia, die Enkeltochter von Königin Miriamel und König Seoman – den Sterblichenherrschern, zu denen ihre Mission sie führte. Sie würde diese temperamentvolle kleine Hummel von einem Mädchen also wiedersehen.

Hummel? Nein, Schmetterling, dachte sie mit jähem Bedauern. Ein kurzes prächtiges Leuchten, dann wird sie so schnell wie alle Sterblichen schon zu Staub werden.

Doch Tanahaya wusste, wenn sich die Befürchtungen ihrer Freunde als begründet erwiesen, dann würde für dieses Schmetterlingskind und alle übrigen Sterblichen auf dem Hochhorst das Ende sogar noch schneller kommen.

Als sie...