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Sleeping Beauties

Stephen King, Owen King

 

Verlag Heyne, 2017

ISBN 9783641219475 , 976 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

Einige Meilen vom Gefängnis entfernt, auf der Terrasse der Familie Norcross, war der Pooljunge Anton damit beschäftigt, totes Ungeziefer aus dem Bassin zu keschern. Den Swimmingpool hatte Dr. Clinton Norcross seiner Frau Lila zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Wenn Clint den Pooljungen zu Gesicht bekam, fragte er sich oft, ob das ein kluges Geschenk gewesen war. Heute Morgen war es wieder so weit.

Anton trug seinen nackten Oberkörper zur Schau, und zwar aus zwei guten Gründen. Erstens sollte es heute ein heißer Tag werden. Zweitens war sein Bauch hart wie ein Brett. Er hatte einen Sixpack, wie er im Buche stand; er sah damit aus wie ein Modellathlet auf dem Cover eines Liebesromans. Wenn man auf Antons Bauch feuerte, dann empfahl es sich, das von der Seite her zu tun, damit man nicht von Abprallern getroffen wurde. Wovon der Kerl sich wohl ernährte? Von bergeweise reinem Protein? Und worin bestand sein Trainingsprogramm? Im Ausmisten des Augiasstalls?

Anton hob den Blick und lächelte unter den dunkel schimmernden Gläsern seiner Wayfarer hindurch. Mit der freien Hand winkte er Clint zu, der ihn vom Badezimmerfenster im Obergeschoss aus beobachtete.

»Lieber Herrgott«, sagte Clint leise zu sich selbst. Er winkte zurück. »Hab Erbarmen!«

Clint stahl sich vom Fenster weg. Im Spiegel der geschlossenen Badezimmertür tauchte ein achtundvierzigjähriger Mann mit weißer Hautfarbe auf, Bachelor von der Cornell University, Medizinstudium an der NYU, kleiner Rettungsring von zu viel Grande Mocha bei Starbucks. Sein grau melierter Bart erinnerte weniger an einen maskulinen Holzfäller als an einen struppigen, einbeinigen Schiffskapitän.

Dass ihn sein Alter und sein allmählich schlaffer werdender Körper überraschten, kam Clint ziemlich komisch vor. Er hatte nie etwas für männliche Eitelkeit übriggehabt, vor allem nicht wenn sie im mittleren Alter auftrat, und seine angesammelte Berufserfahrung hatte diese Abneigung noch verstärkt. Was Clint als großen Wendepunkt seiner medizinischen Laufbahn betrachtete, hatte sich 1999 ereignet, vor achtzehn Jahren, wo ein zukünftiger Patient namens Paul Montpelier ihn als jungen Arzt wegen einer »Krise seiner sexuellen Ambitionen« konsultiert hatte.

»Was meinen Sie denn mit dem Ausdruck sexuelle Ambitionen?«, hatte er Montpelier gefragt. Wenn man ambitioniert war, hatte man es normalerweise auf eine Beförderung abgesehen, aber Leiter der Sexabteilung konnte man eigentlich nicht werden. Merkwürdige Umschreibung.

»Ich meine …« Montpelier wog offenbar verschiedene Erklärungen ab. Schließlich räusperte er sich und entschied sich. »Ich will es noch bringen. Will noch ran an den Speck.«

»Das kommt mir nicht ungewöhnlich ambitioniert vor«, sagte Clint. »Eher ganz normal.«

Clint hatte gerade erst seine psychiatrische Facharztausbildung abgeschlossen, weshalb er sich die Hörner noch nicht abgestoßen hatte. Das war sein zweiter Tag in der Praxis, und Montpelier war erst sein zweiter Patient.

(Sein erster Patient war eine junge Dame mit Angstgefühlen gewesen. Sie fürchtete, ihre Aufnahmeanträge für verschiedene Colleges könnten abgewiesen werden. Allerdings stellte sich ziemlich schnell heraus, dass sie ausgezeichnete Noten vorweisen konnte. Nachdem Clint sie darauf hingewiesen hatte, bestand keine Notwendigkeit für eine Behandlung oder auch nur einen weiteren Termin bei ihm mehr. Geheilt! Das hatte er unten auf den gelben Notizblock mit seinen Aufzeichnungen gekritzelt.)

An jenem Tag hatte Paul Montpelier, der Clint gegenüber auf dem Kunstledersessel saß, einen weißen Pullunder und Hosen mit Bügelfalte getragen. Vornübergebeugt hockte er da, ein Bein breit über das andere geschlagen, und hielt sich mit einer Hand an seinem Anzugschuh fest. Clint hatte beobachtet, wie er auf dem Parkplatz vor dem niedrigen Bürogebäude seinen knallroten Sportwagen abgestellt hatte. Den hatte ihm seine Position als Topmanager in der Kohlenindustrie ermöglicht, obwohl Clint das hagere, sorgenvolle Gesicht eher an einen der Panzerknacker erinnerte, die in den alten Comics immer Onkel Dagobert auf die Pelle rückten.

»Meine Frau sagt – na ja, eigentlich sagt sie es nicht, aber, Sie wissen schon, es ist klar, was sie meint. Die, äh, unterschwellige Botschaft. Sie will, dass ich mich davon löse. Von meinen sexuellen Ambitionen, meine ich.« Er hob ruckhaft das Kinn.

Clint folgte seinem Blick. An der Decke drehte sich der Ventilator. Wenn Montpelier seine sexuellen Ambitionen dorthin sandte, wurden sie abgesäbelt.

»Unterfüttern wir das doch ein wenig, Paul. Wie ist das Thema zwischen Ihnen und Ihrer Frau überhaupt zur Sprache gekommen? Womit hat es angefangen?«

»Ich hatte eine Affäre. Das war der Auslöser. Und Rhoda – meine Frau – hat mich rausgeschmissen! Ich habe ihr erklärt, es wäre nicht wegen ihr, sondern wegen … Na ja, ich hatte halt das Bedürfnis. Männer haben eben Bedürfnisse, die Frauen nicht immer verstehen.« Montpelier ließ den Kopf kreisen und stieß ein frustriertes Zischen aus. »Ich will mich nicht scheiden lassen! Irgendwas in mir hat das Gefühl, dass sie diejenige ist, die damit zurechtkommen muss. Mit mir, meine ich.«

Unter Montpeliers Augen wölbten sich tiefe purpurrote Falten, und unter der Nase war ein kleiner roter Strich, wo er sich geschnitten hatte, vielleicht mit einem billigen Einmalrasierer, den er sich hatte besorgen müssen, weil seine Frau ihn ohne sein richtiges Rasierzeug aus dem Haus geworfen hatte. Seine Traurigkeit und Verzweiflung waren echt, und Clint konnte sich vorstellen, welchen Schmerz dem Mann seine plötzliche Vertreibung bereitete – schließlich lebte er nun in einem Hotel aus dem Koffer und verzehrte in irgendeinem Imbiss einsam und allein verwässerte Speisen. Um eine klinische Depression handelte es sich zwar nicht, aber sein Zustand war so heikel, dass er Respekt und Fürsorge verdiente, auch wenn er sich selbst in diese Lage gebracht hatte.

Montpelier beugte sich über sein Altersbäuchlein. »Seien wir ehrlich. Ich bin bald fünfzig, Dr. Norcross. Was Sex angeht, sind meine besten Tage schon vorüber. Die habe ich für meine Frau hingegeben. Habe sie ihr geopfert. Ich habe Windeln gewechselt. Habe die Kinder zu sämtlichen Sportveranstaltungen und Wettbewerben gefahren, habe Geld für die Studiengebühren angespart. Ich habe alles geleistet, was man von einem Ehemann erwarten kann. Wieso können wir da jetzt nicht zu irgendeiner Einigung kommen? Wieso muss alles so furchtbar zerstritten sein?«

Clint hatte nichts erwidert und einfach abgewartet.

»Letzte Woche war ich bei Miranda. Das ist die Frau, mit der ich geschlafen habe. Wir haben es in der Küche getrieben. Wir haben es in ihrem Schlafzimmer getrieben. Fast hätten wir es noch ein drittes Mal unter der Dusche gemacht. Ich war glücklich wie ein Fisch im Wasser! Endorphine! Dann bin ich nach Hause gefahren, wir haben nett mit den Kindern zu Abend gegessen und abschließend Scrabble gespielt, und alle anderen waren ebenfalls froh und glücklich! Wo liegt das Problem? Das Problem ist selbst gemacht, finde ich. Wieso steht mir denn nicht ein bisschen Freiheit zu? Ist das zu viel verlangt? Ist das denn so frevelhaft?«

Einige Sekunden sagte keiner der beiden etwas. Montpelier beäugte Clint. In dessen Kopf flitzten die Worte herum wie Kaulquappen. Sie wären leicht zu fangen gewesen, aber er hielt sich weiterhin zurück.

Hinter seinem Besucher lehnte ein gerahmtes Bild an der Wand, ein Druck von Hockney, den Clint von Lila bekommen hatte, »damit das Büro gemütlicher ist«. Er hatte vor, ihn später aufzuhängen. Neben dem Bild standen halb ausgepackte Kartons mit seinen medizinischen Fachbüchern.

Jemand muss dem Mann helfen, dachte der junge Arzt unwillkürlich, und das sollte man durchaus in dem hübschen, ruhigen Zimmer hier mit dem an der Wand lehnenden Hockney-Druck tun. Aber musste es sich bei der helfenden Person tatsächlich um Dr. med. Clinton R. Norcross handeln?

Schließlich hatte er extrem hart gearbeitet, um Arzt zu werden, und ihm hatten seine Eltern nicht die Studiengebühren finanziert. Er war in schwierigen Umständen aufgewachsen und hatte alles selbst bezahlt, teilweise nicht nur mit Geld. Um durchzukommen, hatte er Dinge getan, von denen er seiner Frau nie etwas erzählt hatte, wobei es auch bleiben würde. Hatte er all die Dinge für so etwas getan? Um jemand wie den sexuell ambitionierten Paul Montpelier zu behandeln?

Montpeliers breites Gesicht verzog sich zu einer Verständnis heischenden Grimasse. »Oje. Mist. Ich gebe keine gute Figur ab, was?«

»Aber nicht doch«, sagte Clint und schob seine Zweifel für die nächste halbe Stunde beiseite. Gemeinsam walzten sie das Problem aus und betrachteten es von allen Seiten; sie debattierten über den Unterschied zwischen Begierde und Bedürfnis; sie sprachen über Mrs. Montpelier und deren (nach Meinung ihres Gatten) dröge sexuelle Vorlieben; sie machten sogar einen erstaunlich aufrichtigen Abstecher zu Paul Montpeliers frühester sexueller Erfahrung in der Pubertät, wo er mit dem Maul des...