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Der Tourist

Massimo Carlotto

 

Verlag Folio Verlag, 2017

ISBN 9783990370735 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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16,99 EUR


 

Prolog


Venedig. Bahnhof Santa Lucia.

Es war das lässig-arrogante Geräusch der Absätze, das seine Aufmerksamkeit auf die Frau lenkte. Abrupt drehte er sich um und sah, wie sie sich einen Weg durch die dichte Schar von Reisenden bahnte, die gerade aus dem Schnellzug aus Neapel gestiegen waren. Dem Mann blieb genug Zeit, um den Blick auf die Knopfleiste ihres Frühjahrsmantels zu heften, der sich bei jedem Schritt öffnete, und flüchtig die geraden, wohlgeformten Beine in Augenschein zu nehmen, die dank des kurzen Kleides bestens zur Geltung kamen.

Als die Unbekannte auf seiner Höhe war, schaute er ihr direkt ins Gesicht, das er als nicht besonders attraktiv, doch zumindest als interessant beurteilte. Dann senkten sich seine Augen auf die Handtasche. Es war eine edle, hinreißende Legend aus gehämmertem Kalbsleder, ein teures Stück von Alexander McQueen, und sie gab den Ausschlag, ihr zu folgen. In der Menschenmenge, die sich auf das Vaporetto mit Ziel Fondamente Nuove schob, streiften sie sich kurz, und unauffällig reckte er den Hals, um ihr Parfum zu erschnuppern. Harzig, betörend, sinnlich. Er erkannte es sofort und war sich sicher – das war ein Wink des Schicksals. Nach vier Tagen des Wartens und unnützer Nachstellungen hatte er möglicherweise die Beute aufgespürt, die diesen Urlaub unvergesslich machen würde.

Für seine Jagdgänge hatte er die Abendstunden gewählt, wenn die Venezianer, die auf der Terraferma arbeiteten, den Heimweg antraten. Eine Masse müder und zerstreuter Personen, einzig und allein von dem Wunsch beseelt, in die Hausschuhe zu schlüpfen und es sich nach einem guten Abendessen vor dem Fernseher auf dem Sofa bequem zu machen. Angestellte und Beamte jeder Couleur, Freiberufler, Schüler und Studenten drängten sich zwischen den Ausländern, die die Boote überfüllten. Bei jedem Halt stiegen sie in Grüppchen aus und verloren sich eiligen Schrittes auf den stillen, schwach beleuchteten Plätzen und in den gepflasterten Gassen.

Die anderen Frauen, denen er gefolgt war, hatten sich letztendlich als Enttäuschung erwiesen. Unterwegs hatten sie sich mit Freundinnen oder dem Verlobten getroffen oder hatten, am Haustor angelangt, auf den Klingelknopf gedrückt – ein untrügliches Zeichen für die Anwesenheit anderer Personen im Haus. Nicht eingerechnet die Frauen, denen er bis zum Eingang eines Hotels gefolgt war.

Die Auserwählte zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche, um einen Anruf entgegenzunehmen. An der laut und deutlich gesprochenen Begrüßung, die dann in ein unverständliches Flüstern überging, erkannte er, dass die Frau Französisch sprach, eine Sprache, in der er nicht bewandert war. Er war überrascht und tadelte sich im Stillen, denn bis zu diesem Augenblick war er fest davon überzeugt gewesen, dass sie Italienerin war. Ihre Kleidung, ihr Haarschnitt hatten ihn hinters Licht geführt. Er hoffte inständig, dass es sich um eine Ortsansässige handelte. Schließlich gab es in Venedig eine große Schar von Ausländern, die sich dauerhaft in der Stadt niedergelassen hatten. Wenn alles nach Plan lief, würde er sie auf Englisch ansprechen, eine Sprache, die er wiederum so vollkommen beherrschte, dass man ihn für einen Briten halten konnte.

An der Haltestelle Ospedale stieg sie zusammen mit vielen anderen aus, und er richtete es so ein, dass er der Letzte war, und setzte dann seine Verfolgung fort, die dank des Geklappers der Absätze auf der Pietra d’Istria, dem istrischen Stein, aus dem ein Gutteil der Straßen Venedigs besteht, noch vereinfacht wurde.

Eilends durchquerte die Frau das gesamte Krankenhausareal, das zu dieser Stunde von Angehörigen auf Krankenbesuch bevölkert war, und nahm den Hauptausgang, der auf den Campo San Giovanni e Paolo mündete. Nur eine wirklich ortskundige Person konnte diese Abkürzung kennen, überlegte der Mann. Auf der Höhe von San Francesco della Vigna musste er beschleunigen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Auf dem Campo Santa Giustina angelangt setzte die Auserwählte ihren Weg Richtung Salizada bis zur Calle del Morion fort und steuerte schließlich auf den Ramo al Ponte San Francesco zu. Er schätzte, dass sie keine zehn Meter mehr voneinander trennten: Hätte seine Beute sich jetzt umgedreht, wäre er aufgeflogen und somit gezwungen, auf Abstand zu gehen oder gar kehrtzumachen, aber er war fest überzeugt, dass das nicht geschehen würde. Die Französin hatte es offenbar nur eilig, nach Hause zu kommen. Auf der Calle del Cimitero verlangsamte sie plötzlich und bog dann in einen ummauerten Hof ab. Ein zufriedenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

Die Frau, die ihn auch wegen seiner dunklen Kleidung und seiner federnden Gummisohlen nicht bemerkt hatte, kramte ohne Hast in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel und schloss die Tür zu einer ebenerdigen Wohnung auf.

Der Mann versicherte sich, dass keine Lichter brannten, und die Dunkelheit und die Gewissheit, dass die Frau allein war, erregten ihn derart, dass er jede Selbstbeherrschung verlor. Er kannte diesen Zustand sehr gut: Verstand und Selbsterhaltungstrieb waren wie ausgeschaltet, und er war der Macht des Zufalls, des Herrschers des Universums, ausgeliefert.

Rasch pirschte er sich an die Frau heran, bis er sie zu fassen kriegte, warf sie zu Boden und zog die Tür hinter sich zu.

„Rühr dich nicht und schrei nicht“, fuhr er sie an, während er an der Wand nach dem Lichtschalter tastete. Er war sich so sicher, die Situation unter Kontrolle zu haben, dass er überhaupt nicht mitbekam, wie die Frau sich erhob. In dem Moment, als er das Licht anschaltete, begann sie, ihn wortlos mit Fausthieben und Tritten zu traktieren.

Mindestens eine Rippe auf der rechten Seite musste gebrochen sein, und die Hoden taten höllisch weh. Er kippte zu Boden und hätte sich am liebsten zusammengerollt, um den stechenden Schmerz zu unterdrücken, doch ihm war klar, dass sie ihn in dieser Position überwältigen und somit dazu verdammen würde, nach peinlichen Prozessen, Untersuchungen durch qualifizierte Superhirne und viel Geschwafel von Journalisten und Schriftstellern den Rest seines Lebens in einem Hochsicherheitsgefängnis zu fristen. Das konnte er nicht zulassen.

Unter enormer Kraftanstrengung, die Sicht wie benebelt, rollte er zur Seite, weg von dem Wüten der Frau, und sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er sich verteidigen konnte.

Er hatte Glück. Trotz zweier fürchterlicher Tritte in die Nierengegend bekam der Mann einen Schirmständer aus Kupfer zu fassen und hieb ihn voller Verzweiflung wieder und wieder gegen die Beine der Frau. Endlich stürzte sie, und er war in der Lage, ihr den entscheidenden Schlag auf den Kopf zu verpassen.

Er verharrte und rang nach Luft, hielt aber die Behelfswaffe fest in den Händen, bereit zuzuschlagen, falls sie zu sich kommen sollte. Nach einigen Augenblicken gelang es ihm, sich trotz der Schmerzen aufzurichten. Die Französin lag reglos da, die Beine breit von sich gestreckt, das Kleid bis zum Schoß hochgerutscht. Sorgsam brachte er sie in eine weniger anzügliche Position und kontrollierte, ob sie noch am Leben war.

So hätte die Sache nicht laufen dürfen. Die Male zuvor war es ganz anders gewesen. Die Auserwählten hatten sich gut benommen und keinen Widerstand geleistet, im Gegenteil, vor Entsetzen hatten sie sich ihm unterworfen, und das gefiel ihm besonders gut. Sie hatten gewinselt, um Gnade gefleht, hatten alles getan, was er von ihnen verlangte, und unablässig an einen Rest von Menschlichkeit appelliert, die ihm in Wahrheit vollkommen abging. Die hier aber hatte mit einer solchen Heftigkeit und stummen Verbissenheit reagiert, dass ihn fröstelte.

Eigentlich wollte er ins Bad gehen, um sich das Gesicht zu waschen, aber das Ritual sah vor, dass sich alles unmittelbar hinter der Wohnungstür abspielte. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme: Je weniger Räume man betrat, desto weniger Spuren blieben zurück.

Er breitete ihre Arme aus und setzte sich rittlings auf sie, fixierte sie mit den Knien und wartete ab, bis sie das Bewusstsein wiedererlangte.

Erfreut stellte er fest, dass die Verletzung am Kopf nicht so schlimm war, und streichelte ihr mit den teuren Chirurgenhandschuhen aus Styrol-Butadien-Kautschuk, mit denen er mehr spürte als mit den herkömmlichen aus Latex, übers Gesicht.

Sie öffnete die Augen. Ihr erster Impuls war, sich zu befreien, also rammte sie ihm die Knie in den Rücken, aber ihr Angreifer begann, sie zu würgen. Hasserfüllt starrte sie ihn an, so als hätte sie gar keine Angst, als wäre sie immer und in jedem Moment bereit, um ihr Leben zu kämpfen. Sie versuchte alles, um die Lage zu ihren Gunsten zu wenden, und plötzlich flüsterte sie etwas. Ihm war, als wiederholte sie mehrfach ein und dasselbe Wort, vielleicht einen Namen.

Da wurde dem Mann bewusst, dass er seine Auserwählte fürchtete, ihr gegenüber eine gewisse Befangenheit verspürte, und im Gegensatz zu den anderen Malen hatte er es eilig, sie zu töten.

Nachdem...