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Die Gentlemen vom Sebastian Club - Ein viktorianischer Krimi

Sophie Oliver

 

Verlag Dryas Verlag, 2018

ISBN 9783941408999 , 280 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

4. Croydon

Croydon war eine große Stadt am südlichen Rand der Metropole, die sich London vor einigen Jahren offiziell einverleibt hatte. Seitdem hieß sie, als eines von vielen Stadtvierteln, »The London Borough of Croydon«. Die neue Eisenbahn hatte unzählige Menschen nach Croydon gelockt, so viele, dass die Bevölkerungszahlen dort regelrecht explodiert waren. In der Old Town quollen die Häuser über mit Arbeitern und deren Familien, die in den feuchten, überfüllten Wohnungen ein trübes Dasein fristeten. Ungeziefer breitete sich rasant aus, mit ihm Krankheiten und Not. Freddie hatte noch nie derartiges Elend gesehen, geschweige denn den Gestank der Gosse gerochen. Als Kind war sie ein einziges Mal in diese Gegend gekommen, genauer gesagt nach Addington Palace, der Sommerresidenz des Erzbischofs von Canterbury, welche außerhalb Croydons lag. Das herrschaftliche Anwesen mit seinem geometrischen Aufbau aus hellem Stein hatte allerdings nichts gemeinsam mit den Armenvierteln, durch die Freddie und Lord Philip kutschiert wurden. Trotzdem musste sie in diesem Moment an jenen sonnigen Tag denken, an dem Erzbischof Tait ihr sein Beileid zum Tod ihrer Eltern ausgesprochen hatte. Sie war erst sechs Jahre alt gewesen, trotzdem erinnerte sie sich noch genau an die streng gescheitelten, zurückgekämmten Haare des älteren Herrn, an seine niedrige Stirn, die sich über traurige Augen wölbte. Jene schwermütig dreinblickenden Augen hatten sich in Freddies Gedächtnis gebrannt. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würde er ihren Schmerz verstehen, während er ihr die Hand schüttelte, als wüsste er, was es bedeutete, wenn einem das Liebste entrissen wurde. Später hatte sie erfahren, dass Bischof Tait im Zeitraum von ein paar Wochen fünf seiner Kinder durch Scharlach verloren hatte. Er fühlte in der Tat dieselbe Trauer wie Freddie. Als Lord Philip ihr später von Taits Tod berichtet hatte, war sie ehrlich betroffen gewesen. Der Gedanke, dass er nun wieder mit seinen Liebsten vereint war, hatte sie ein wenig getröstet.

Doch jetzt galt es, sich auf die Situation vor Ort zu konzentrieren und nicht die Geister der Vergangenheit aufzuwecken. Entschlossen öffnete sie die Tür der Droschke, die eben angehalten hatte. Sie bemühte sich redlich, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen, als sie beim Aussteigen über ein öliges Rinnsal trat, in dem eine tote Ratte schwamm. Dabei hatte Theodore Hobbs, das erste Opfer, nicht einmal im ärmsten Teil der Old Town gelebt. Als Lehrer hatte er sich eine bescheidene Wohnung in einem Mietshaus leisten können, das ein wenig entfernt von der High Street lag. Noch dazu befand sie sich in einem der oberen Stockwerke, wohin der faulige Geruch nach Abwässern nicht mehr ganz so beißend aufstieg. Auf der Treppe zum Eingang saß ein mageres, kleines Mädchen in einem schmutzigen Kittel. Sie spielte mit ein paar leeren Büchsen. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, und als sie hustete, wurde Freddie klar, dass dieses Kind nicht alt werden würde. Am liebsten hätte sie es aufgehoben, mit nach Hause genommen, gebadet und ihm zu essen gegeben. Dann sah sie sich um, die Straße hinauf. Vor jedem Haus spielten unterernährte Kinder, alle sahen krank aus und ein jedes blickte ihr nach, als sie zusammen mit ihrem Onkel das Haus Nummer drei an der Abbey Road betrat. Es kam sicher nicht oft vor, dass sich zwei reiche Gentlemen mit polierten Schuhen hierher verirrten – und wenn doch, dann führten sie bestimmt nie etwas Gutes im Schilde.

Die Treppe in den vierten Stock hinauf knarzte bei jedem Schritt. Freddie bemühte sich, den schimmligen Wänden nicht zu nahe zu kommen. Je weiter sie nach oben stiegen, desto ordentlicher sah es aus. Auf Theodore Hobbs’ Etage saß der Schimmel nur noch in den Ecken eines schummrigen Flurs, und eine abblätternde Tapete mit Stockflecken ließ vermuten, dass das Haus einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Hier wirkte der Boden auch leidlich gefegt. Mit einem spitzen Instrument öffnete Lord Philip die Wohnungstür so selbstverständlich, als würde es sich dabei um einen Schlüssel handeln. Freddie sah ihm interessiert zu und war ebenso erstaunt wie ihr Onkel, als sie schließlich in dem kleinen Raum standen, in dem das erste Opfer sein Leben zugebracht hatte.

»Jemand hat sauber gemacht!«, rief Freddie aus.

»Das hatte ich befürchtet. Die Polizei hat die Wohnung freigegeben, und anscheinend hat der Hausbesitzer alles schon für den nächsten Bewohner vorbereitet. Er will wohl weder Zeit noch Geld verlieren.« Lord Philip drehte sich einmal im Kreis, besah sich das schmale Holzbett, das Küchenbuffet und den Tisch mit seinen zwei Stühlen daneben. Dann trat er an das einzige Fenster des Raums, öffnete es und blickte auf die Straße hinunter.

»Ziemlich hoch. Unser Mörder konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass Hobbs den Sturz nicht überleben würde. Allerdings bedurfte es einer gewissen Kraft, den Mann durch dieses kleine Fenster zu befördern. Selbst für den Fall, dass er bewusstlos war.«

»Er konnte ihn nicht einfach nur schubsen«, stimmte Freddie ihm zu. »Dafür liegt der Sims zu hoch. Er musste ihn heben, zumindest kippen. Ich könnte das nicht. Damit scheidet eine Frau als Täterin schon mal aus.«

»Nur was die Ausübung angeht. Aber alle Morde könnten von einer Frau in Auftrag gegeben worden sein. Deshalb würde ich deine Geschlechtsgenossinnen nicht allzu früh freisprechen, liebe Nichte«, meinte Lord Philip mit einem Augenzwinkern.

Aus der darunterliegenden Wohnung war bellendes Husten zu hören.

»Nicht sehr gut isoliert«, stellte Freddie fest. »Und das Treppenhaus ist eng und steil, mit knarzenden Stufen. Wie unauffällig, denkst du, kann man nachts einen verletzten Mann gegen seinen Willen bis in die vierte Etage schleppen?«

Anstatt zu antworten, lief Lord Philip an Freddie vorbei, polterte, gefolgt von ihr, ein Stockwerk tiefer und klopfte an die Tür der Wohnung, aus der das Husten zu hören gewesen war. Nach einer Weile näherten sich schleppende Schritte. Eine alte Frau öffnete einen Spaltbreit und blickte misstrauisch auf die beiden Herren. Krauses graues Haar stand wie die Samen einer Pusteblume um ihr Gesicht, so fein und spärlich, dass zwischen den einzelnen Strähnen die rosa Kopfhaut zu erkennen war.

»Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Madam, bezüglich des Ablebens von Mister Hobbs.«

Bei dem Wort »Madam« riss die Frau ihre wässrigen Augen auf, bei der Erwähnung von Mister Hobbs kniff sie sie wieder zusammen.

»Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie misstrauisch.

»Mitnichten! Mein Name ist Lord Philip Dabinott, dies ist Mister Westbrook. Wir sind private Ermittler. Und Ihr werter Name ist …?«

»Ottilie Brunswick.«

»Wenn Sie uns ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken, Madam Brunswick, würden wir Sie natürlich gebührend entschädigen.« Er zog einen Beutel mit Münzen aus seiner Jackentasche und hielt ihn an den Türspalt. »Wäre diese Summe für einige Auskünfte angemessen?«

Die Finger der Frau schnappten sich den Beutel, sie schloss die Tür und Freddie befürchtete schon, dass dies das Ende ihrer Ermittlungen in der Abbey Road sei. Aber nach einer Minute öffnete sich die Tür wieder – vielleicht hatte sie die Münzen durchgezählt und auf ihre Echtheit geprüft – und sie wurden hereingebeten.

Der Schnitt der Wohnung war mit der darüberliegenden identisch, lediglich ein Zimmer diente der Alten als Schlaf- und Wohnraum. Es roch nach ungewaschener Kleidung und säuerlichem Schweiß. Mit einem Ächzen setzte sich die Frau auf den Rand ihres Bettes, bot Freddie und Lord Philip aber keinen Stuhl an, worüber zumindest Freddie angesichts des schmuddeligen Mobiliars nicht unglücklich war. Um ihre Nase nicht länger als nötig zu quälen, kam sie sofort auf den Punkt. »Fiel Ihnen in der Nacht, als Mister Hobbs starb, irgendetwas Ungewöhnliches auf? Kam er später nach Hause als sonst? Hatte er einen Gast? Konnten Sie ihn hören, wie er die Treppe hochstieg?«

Die Frau wischte sich mit einem schmutzigen Ärmel über ihre rot geäderten Augen, bevor sie antwortete. »Sie sind ein schlaues Bürschlein, Mister. So genau wie Sie hat die Polizei nicht nachgefragt. Der Schulmeister kam tatsächlich später nach Hause als gewöhnlich. Ein richtiger Eigenbrötler war er, ging eigentlich kaum aus, und wenn doch, dann war er niemals betrunken oder laut. Scheint ein ziemlich langweiliger Philister gewesen zu sein. Aber in jener Nacht hatte er ordentlich einen sitzen, konnte nicht mal mehr alleine laufen.«

»Ach ja?« Lord Philip horchte auf.

»Sein Freund musste ihn stützen. Er schleppte ihn regelrecht nach oben. Haben mächtig Lärm dabei gemacht, die beiden. Ich öffnete kurz meine Tür, als sie hier vorbeikamen, weil ich nicht wusste, was los war.«

»Konnten Sie erkennen, wie der zweite Mann aussah?« Freddie bemühte sich, ihre Stimme nicht aufgeregt klingen zu lassen.

Aber Ottilie Brunswick schüttelte den Kopf. »Meine Augen sind nicht mehr die besten. Alles, was weiter als drei Fuß von mir entfernt ist, sehe ich nur noch verschwommen. Außerdem trug Mister Hobbs’ Begleiter einen langen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und einen Hut. Von seinem Gesicht hätte ich sowieso nichts erkennen können. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass er sehr groß war.«

»Wann kam er denn wieder herunter?«, wollte Freddie wissen. »Direkt nachdem er Mister Hobbs abgeliefert hatte, oder blieb er noch eine Weile?«

Verdutzt legte Ottilie Brunswick den Kopf schief. Sie hustete ein paar Mal, wie um Zeit zu gewinnen, bevor sie antwortete. »Sehen Sie, jetzt haben Sie mich. Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Wahrscheinlich bin ich...