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Die Toten vom Dartmoor - Kriminalroman

Paul Marten

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN 9783732556038 , 333 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

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2


Craig stieg in seinen Spitfire, blieb einen Moment reglos hinter dem Lenkrad sitzen und vermied es, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Er wusste ja, was er darin sehen würde. Die Ringe unter seinen Augen waren in den letzten Monaten bedenklich dunkel geworden, obwohl er sich inzwischen ausreichend ausgewogen ernährte, fast jede Nacht mehr als vier Stunden schlief und sich der Stress auf der Arbeit in Grenzen hielt, solange Keen ihn nicht in den Senkel stellte. Es war ganz normaler Polizeialltag, alle zwei Tage eine Leiche, drei Morde, die innerhalb weniger Tage aufgeklärt waren, allesamt Beziehungstaten. Umso mehr Zeit hatte Craig, um über sich selbst nachzudenken und über Mary. Allein der Gedanke an sie schickte Hitzewellen durch seinen Körper.

Olivia Stone hatte ihn diesmal fast erwischt. Die zehn Minuten, die er wie weggetreten gewesen war, beunruhigten Craig. So etwas durfte ihm nicht noch einmal passieren. Er musste sich besser kontrollieren, musste Situationen vermeiden, in denen er zu tief in seinen Erinnerungen versank. Natürlich wusste er, dass das auf Dauer nicht helfen würde, seine Seele würde ihm irgendwann die rote Karte zeigen, die gelbe hatte sie ja bereits heute gezogen. Und vielleicht konnte Stone ihm ja tatsächlich helfen?! Er konnte ihr aber einfach nicht ganz trauen; sie arbeitete schließlich für seinen Arbeitgeber als Psychologin und Gutachterin, Spezialistin für Glaubwürdigkeitsgutachten und das False-Memory-Syndrom bei Zeugen. Dennoch: Sie hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, und er hatte es nicht kommen sehen.

Craig ließ den Motor an, der vor sich hin blubberte und ihn beruhigte wie sanfte Musik.

Er würde sie auf die Probe stellen und dann entscheiden, ob sie die Richtige war, um das schwarze Loch in seinem Gedächtnis zu erhellen.

Die Behörden hatten die Suche nach Mary schon lange eingestellt. Es gab keinerlei Anzeichen eines Verbrechens, es gab keine Leiche und keine Zeugen. Das Ermittlungsverfahren gegen Craig wurde eingestellt, und Craigs ehemaliger Chef in Edinburgh, Gordon Brodie, hatte die ganze Sache fein säuberlich vor den Medien verborgen. Als Craig einen vermeintlichen Zeugen zu hart angefasst hatte, hatte Brodie Craig einen Deal angeboten: Alkoholentzug und Versetzung nach Exeter oder Rauswurf.

Craig nahm die A38, um den Touristenströmen auf den engen Straßen durch das Dartmoor zu entgehen, die das schöne Wetter aus jedem Cottage und jedem Bed and Breakfast im Umkreis von hundert Kilometern gelockt hatte: Der Oktober wartete mit spektakulärem Sonnenschein auf, der bis ins zentrale Dartmoor reichte und die Landschaft geradezu lieblich erscheinen ließ. Üblicherweise wechselte sich hier Starkregen mit kaltem Wind und Schnee ab, zu fast jeder Jahreszeit. Diese Wetterkapriolen verbanden Schottland mit dem Dartmoor. In Edinburgh, Craigs Heimatstadt, hieß es: »Gefällt dir das Wetter nicht, warte einfach eine halbe Stunde.«

Die Touris schlichen mit ihren Leihwagen und gezückter Kamera durch das Dartmoor, hielten plötzlich, wenn sie ein Pferd sahen oder ein Schaf oder eine Kuh, als gäbe es diese Tiere nur im Dartmoor. Craig musste zugeben, dass es tatsächlich einige nette Eckchen gab, aber bei allen Vorfahren der McPhersons: Schottland bestand nur aus netten Ecken, abgesehen von ein paar Stadtteilen von Edinburgh.

Craig bog von der A38 rechts ab Richtung Poundsgate und musste mehrmals halten, weil schießwütige Touris die Straße blockierten. Besonders selbstvergessen waren die Asiaten. Wie die kleinen Kinder hüpften sie umher, grinsten, dass es in den Mundwinkeln weh tun musste, und trugen Kameras um den Hals, die mindestens tausend Pfund kosteten. Craig ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern bat die Blockierer freundlich, die Straße freizugeben. Peinlich berührt kamen die Fahrer seiner Bitte eiligst nach und entschuldigten sich überschwänglich. Craig verstand kein Wort, vor allem, wenn die Touristen versuchten, Englisch zu sprechen.

Two Bridges kam in Sicht, von dort aus waren es nur noch wenige Autominuten bis Princetown. Etwas mehr als eine Stunde hatte Craig für die Strecke benötigt, ein guter Schnitt. Von der Two Bridges Road aus konnte Craig das Dartmoor-Gefängnis sehen, eins der verrufensten in ganz England. Es würde bald geschlossen werden, aber bis dahin würden sich die Missstände wohl nicht mehr ändern: Gewalt, Drogen und Banden. Craig schauderte bei dem Gedanken, dort sein Leben verbringen zu müssen, gleich, ob als Wärter oder Gefangener. Sein Gefängnis, sein Exil, war zumindest eine Stadt, in der er sich frei bewegen konnte. Exeter lag zwar im äußersten Süden der Insel, aber es hätte schlimmer kommen können. Die Orkneys oder die Shetlands. Craig bezweifelte, dass er eine solche Isolationshaft lange ohne Alkohol ertragen hätte.

Craig bog in die Tavistock Road ein. Der Verkehr wurde ab dem Postamt über einen Feldweg umgeleitet. Wunderbarerweise gab es keinen Rückstau. Ein Constable wedelte heftig mit den Armen, die Autofahrer verstanden und fuhren zügig weiter. Niemand gaffte, niemand versuchte, mit überlangen Zoomobjektiven einen Blick auf den Grund der Absperrung zu erhaschen. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn die St. Michael and All Angels Church lag dreihundert Meter hinter der Umleitung, verborgen von Bäumen und Gebäuden und Sichtblenden der Devon and Cornwall Police. Der Constable warf einen flüchtigen Blick auf Craigs Ausweis und winkte ihn durch.

Craig sah sich um. Jetzt erkannte er, was ihn irritiert hatte. Es waren keine Journalisten zu sehen. Wenn Keen eine Nachrichtensperre verhängt hatte und sie tatsächlich funktionierte, dann musste wirklich etwas Großes im Gange sein. War in der Kirche ein Sprengstofflager von Terroristen entdeckt worden? Oder verbarg sich unter der Soutane des Priesters ein Schläfer? Aber nein, Terror machte London, Craig hatte keinen Schimmer von den Netzwerken und Methoden der Terroristen. Es musste also etwas anderes sein.

Auf der linken Seite kam die Kirche in Sicht, die komplett von Sichtblenden umringt war, inklusive des vorderen Teils des Friedhofs. Sechs Streifen sperrten die Straße in jede Richtung ab, blaues Flatterband zog sich in wirren Mustern quer über die Straße, an den Gärten der Anwohner vorbei und wieder zurück. Zwei Dutzend Constables bewachten die Absperrung, als wäre die Queen persönlich anwesend und müsste geschützt werden. Die Kirche war von einer brusthohen Bruchsteinmauer umgeben, der Eingang bestand aus drei Durchgängen, in der Mitte ein breiter, an den Seiten jeweils schmalere. Die schmiedeeisernen Tore standen offen. Auf dem Friedhof erhob sich ein weißes Tatortzelt, eins von den großen mit einer Grundfläche von mehr als dreißig Quadratmetern.

Sienna Fly war bereits hier, das erkannte Craig an ihrem Defender, der vor dem Tor parkte.

Craig parkte hinter Siennas Wagen, stieg aus, hielt seinen Ausweis hoch und betrat den Friedhof durch das rechte kleine Tor. Er blieb einen Moment stehen. Bis auf das Zelt war der Friedhof nichts Besonderes. Alte Grabsteine standen auf einer Wiese herum, manche schief, manche beschädigt, und wie es üblich war, gab es keine Abgrenzungen zwischen den einzelnen Grabstellen. Craig hatte mal Urlaub in Deutschland gemacht und sich über den Totenkult dort gewundert. Alle Gräber in Reih und Glied, ständig frische Blumen, manche Menschen, so schien es Craig, verbrachten mehr Zeit auf dem Friedhof als zu Hause. Er hatte nichts dagegen, die Erinnerungen an die Toten lebendig zu halten. Aber war es nicht besser, sie im Herzen zu tragen? Waren die gepflegten Gräber nicht eher eine Art Abwehr, um sich nicht dem Unvermeidlichen stellen und sich damit abfinden zu müssen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war? Für ihn jedenfalls war das so. Während seines Psychologiestudiums hatte er mit diesem Thema immer wieder spannende Diskussionen ausgelöst, und er war zu dem Schluss gekommen, dass der Umgang mit dem Tod von Mensch zu Mensch so unterschiedlich war wie die Fingerabdrücke.

Auch vor dem Zelteingang standen zwei Constables.

Dass Keen anwesend war, konnte jeder hören, der mindestens ein halbwegs gesundes Ohr hatte. Sein Bass drang aus dem Zelt, im Umkreis von zehn Metern konnte jeder mitschreiben, was er von sich gab.

»Wo, verdammt und zugenäht, bleibt McPherson? Sonst ist er doch schneller! Will er sich drücken?«

Der Constable begutachtete Craigs Ausweis, verzog das Gesicht und schob die Plane zur Seite.

Keen stand mit dem Rücken zu ihm, er trug seine Uniform, Sienna stand seitlich, sie trug ebenfalls ihre Arbeitskleidung, einen hellblauen Overall.

Sie drehte sich zu Craig hin, grinste und sagte: »Wenn man vom Schotten spricht …« Sie reichte ihm die Hand.

Craig machte einen Schritt ins Zelt und griff zu. »Hallo Sienna!«

»Schön, Sie mit an Bord zu haben, Craig. Wie war die Fahrt?«

»Ungewöhnlich reibungslos. Was ist los? Keine Medien, riesige Absperrung, riesiges Aufgebot.«

Ein halbes Dutzend Männer und Frauen in Hellblau wuselten im Zelt herum.

»Das hat einen Grund.« Sie zeigte auf Keen, ließ seine Hand dafür los.

Craig musste sich eingestehen, dass er sie gerne noch etwas gehalten hätte. Sienna gab ihm das Gefühl, ein Mensch zu sein, willkommen zu sein. Auch Craig brauchte von Zeit zu Zeit ein wenig Zuneigung, und er schämte sich, dass er sie sich auf diesem Wege schnorrte.

»Okay, McPherson«, röhrte Keen ohne eine Begrüßung los. »Hören Sie zu.«

Craig verbiss sich die Bemerkung, dass er wohl keine Wahl hatte.

»Ich wollte Sie gar nicht dabeihaben. Der Fall verlangt äußerste Diskretion und ein Vorgehen mit Samthandschuhen. Beides...