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Rachewinter - Thriller

Andreas Gruber

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641205447 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

1

Als es an Evelyn Meyers’ Kanzleitür läutete, ahnte sie bereits, wer dort stand – ihr neuer potenzieller Mandant, von dem sie bisher nur seine Stimme kannte. Die hatte sie allerdings ziemlich neugierig gemacht.

» und deshalb würde ich gern für morgen einen Termin mit Ihnen ausmachen«, war sie ungewöhnlich hell aus dem Lautsprecher des Anrufbeantworters gedrungen, während im Hintergrund das Klappern eines Zuges zu hören gewesen war.

»Ist er das?«, fragte Flo.

Evelyn nickte. »Ich habe ihn noch gestern Abend zurückgerufen und für heute Morgen ein Treffen ausgemacht.«

Flo blickte zur Wanduhr. Es war Punkt neun Uhr. Flo – eigentlich Florian Zock, aber das war ihm zu unpraktisch und lang – war ein junger Rechtsanwaltsanwärter, der seit einem Jahr in ihrer Kanzlei arbeitete, um sich neben der mies bezahlten Gerichtspraxis etwas dazuzuverdienen. Tatsächlich war Flo jedoch mehr als nur ein gewöhnlicher Anwärter, vielmehr war er mittlerweile eher zu ihrem Assistenten geworden. Und jung war auch relativ. Er war 27 Jahre alt, hatte rotblondes Haar, einen blonden Dreitagebart und sah richtig gut aus.

Flo begleitete Evelyn durch den Korridor zur Eingangstür. »Was wissen wir über ihn?«

Evelyn hob die Arme. »Leider nichts.« Normalerweise informierte sie sich vorab über jeden ihrer potenziellen Mandanten, doch diesmal hatte sie aus Zeitmangel darauf verzichten müssen. Mit Stromausfällen im ganzen Gebäude und mehr Gerichtsterminen als üblich hatte die Woche gestern noch turbulenter als sonst begonnen, sodass sie Michael Kottens Anfrage auf ihrem Anrufbeantworter nur kurz hatte bestätigen können.

Jetzt öffnete sie die Tür, und da stand er. Sie sah zu ihm auf. Er wirkte jugendlich, war sicher knapp einen Meter neunzig groß und hatte einen schlanken athletischen Körperbau.

»Evelyn Meyers?« Seine Stimme klang ungewöhnlich sanft.

»Ja.« Sie trat zur Seite. »Und mein Assistent Florian Zock. Ich nehme an, Sie sind Michael Kotten. Kommen Sie doch bitte herein.« Sie ließ ihn in den Vorraum.

Kottens Aussehen passte zu der Stimme auf dem Anrufbeantworter. Er trug enge Jeans, schwarze Stiefeletten mit höheren Absätzen als normal, einen grauen Pullover mit Schalkragen und einen schwarzen Steppmantel, wodurch er irgendwie feminin wirkte. Nicht nur wegen seiner Figur, des schmalen Halses, der schlanken Finger und manikürten Nägel, auch wegen der feinen Gesichtszüge und des dezenten Lidstrichs. Und dann waren da natürlich die Augen. Mann, diese Augen! Groß und mandelförmig, mit langen Wimpern und starken Augenbrauen. Evelyn konnte auf Anhieb ein Dutzend Freundinnen nennen, die für diese Augen einen Mord begangen hätten.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Evelyn, wie Flo sie musterte. Sein Blick schien zu sagen: Hör auf zu starren!

»Es tut mir leid, dass ich Sie erst gestern Abend zurückgerufen habe«, entschuldigte sich Evelyn, »aber wegen der Baustelle gab es hier gestern mehrere Stromausfälle. Der ganze Tag war ein wenig chaotisch, weil auch die Alarmanlage ausgefallen war, der Kühlschrank abgetaut ist und so weiter.«

»Kein Problem, nun bin ich ja da.«

Wie zur Bestätigung von Evelyns Entschuldigung begann der Presslufthammer auf der Straße zu hämmern. Kotten legte den Mantel an der Garderobe ab, und Evelyn begleitete ihn in ihr Besprechungszimmer, wo er hinter einem niedrigen Couchtisch in einem Ohrensessel Platz nahm.

Flo ging zum Fenster, wobei der alte Parkettboden unter seinen Schritten knarrte. Evelyn besaß immer noch ihre Büroräume in dem Altbau in der Gonzagagasse im Herzen der Wiener Innenstadt. Allerdings hatte sie vor einem Jahr die kleine Nachbarwohnung dazugemietet und ihre Kanzlei vergrößert.

Nachdem Evelyn für ihren Besucher und sich Tee serviert hatte – Flo brauchte sie gar nicht erst zu fragen, der trank nie Tee –, setzte sie sich Michael Kotten gegenüber in einen Sessel. »Wie sind Sie auf mich gekommen?«

Er schlug ein Bein über das andere. »Sie wurden mir mehrfach als exzellente Strafverteidigerin empfohlen. Angeblich sind Sie die Beste.«

»Vielen Dank, aber …« Evelyn hob abwehrend die Hand. »Zu viele Vorschusslorbeeren sind nie gut«, sagte sie lächelnd. »Es kommt immer auf den Fall an. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Das erste Gespräch ist kostenlos?«

Evelyn nickte.

»Und die Schweigepflicht?«

»Gilt natürlich auch für dieses Gespräch, selbst wenn ich Ihren Fall nicht übernehme.«

Kotten blickte zu Flo. »Gilt das auch für Ihren …?«

»Ja, auch für meinen Assistenten«, antwortete Evelyn.

»Könnten wir nicht unter vier Augen sprechen?«

»Wenn Sie wollen, gern«, sagte sie. »Herr Zock hat sicher kein Problem damit. Aber Sie sollten wissen, dass seine Anwesenheit überaus nützlich sein könnte. Er hat nämlich die Polizeischule absolviert.«

Kotten hob eine Augenbraue. »Und was macht er dann bei Ihnen?«

»Da viele Täter gefasst, aber bei der Verhandlung freigesprochen werden, hat er beschlossen, Recht zu studieren, um später Staatsanwalt oder Richter zu werden.«

Auch das schien Kotten nicht wirklich zu überzeugen. »Aber damit steht er doch auf der gegnerischen Seite?«

»Ja, eines Tages. Aber glauben Sie mir, im Moment kann uns sein Wissen nur weiterhelfen. Er hat sein Studium abgeschlossen, darf mich vertreten und beendet gerade sein neunmonatiges Praktikum am Straflandesgericht. Ich bespreche alle meine Fälle mit ihm.«

Kotten nickte. »Gut, wenn Sie meinen.«

»Fein.«

Flo stand mit verschränkten Armen vor dem Fenster. Für ihn war es okay, wenn sie ihn so vorstellte. Was sie den Mandanten jedoch nicht unbedingt mitteilte, war ihrer beider Überzeugung, dass vor Gericht nur selten die Gerechtigkeit siegte. Darum wollte Flo sein Praktikum am Gericht zwar abschließen, dann jedoch Detektiv werden, um in Streitfällen für Anwälte die tatsächliche Wahrheit herauszufinden. Der Teilzeitjob in ihrer Kanzlei diente dazu, seinen Start in die Selbstständigkeit zu finanzieren. Die besten Voraussetzungen für diesen Beruf brachte er mit – und niemand konnte das besser beurteilen als Evelyn. Schließlich war ihr Freund, der vor zwei Jahren ermordet worden war, selbst Detektiv gewesen.

Evelyn räusperte sich. »Dann erzählen Sie mir doch, warum Sie hier sind.«

Kotten rührte seine Teetasse nicht an. Offensichtlich war er zu aufgeregt. Sein Fuß wippte auf und ab. »Vor einer Woche ist der Manager Johann Wulf ermordet worden.«

Evelyn nickte. »Wulf war Entwicklungsleiter einer großen Firma. Er ist zuerst mit dem Seil einer Jalousie gewürgt und danach mehrmals in die Halsschlagader gestochen worden.« Wer kannte diesen Fall nicht aus den Medien?

»Angeblich mit einem Brieföffner, aber die Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden«, ergänzte Kotten.

»Woher wissen Sie das?«

Kotten wischte sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht, und nun sah Evelyn ein Piercing in der Augenbraue. »Die Polizei glaubt, dass ich es war.«

Evelyn studierte Kottens Gesichtszüge. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, vielleicht etwas jünger. »Und, waren Sie es?«

»Nein.«

Ist ja klar! Schweigepflicht hin oder her – kaum jemand würde so etwas zugeben. Und schon gar nicht während eines ersten unverbindlichen Gesprächs. »Hat die Kripo Sie schon vernommen?«

»Gestern, kurz davor habe ich Sie angerufen.«

»Davor?«

»Ja, die Kripo wollte mich in dieser Mordsache sprechen, und auf dem Weg zum Revier habe ich auf Ihren Anrufbeantworter gesprochen.«

Ganz schön auf Draht, dieser Junge. Mit ihren siebenunddreißig Jahren kam er ihr in der Tat noch recht jung vor. »Haben Sie ein Alibi für die Tatzeit?«

»Nein. Um diese Uhrzeit war ich noch zu Hause. Im Bett. Allein.«

»Läuft schon ein Haftbefehl gegen Sie?«

»Nein, aber ich fürchte, der wird nicht lange auf sich warten lassen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Zeugen haben mich am Tag des Mordes angeblich in der Nähe des Tatorts gesehen.«

»Waren Sie dort?«

»Nein. Aber die wollen den Mord so rasch wie möglich aufklären und brauchen einen Schuldigen.«

Evelyn zuckte gleichgültig mit den Achseln, als wäre das nichts Neues. »Das ist immer so. Darüber würde ich mir jetzt keine Gedanken machen.« Sie dachte nach. »Allerdings … die Polizei konnte Sie lediglich anhand dieser Zeugenaussagen ausfindig machen?«

»Da wäre auch noch das Video.«

Ja, richtig. Evelyn hatte auch davon in den Nachrichten gehört. Sie rutschte näher. »Ein Bauarbeiter hat angeblich Teile des Mordes von einem Dach aus gefilmt, aber das Handy ist in einen Kaminschacht gefallen.«

»Die Feuerwehrleute haben es vor sechs Tagen bergen können, und die Polizei hat es sichergestellt. Wie durch ein Wunder hat der Speicher des Handys den Sturz überlebt. Daraufhin haben mich die Beamten aufgrund dieser Zeugenbefragungen und eines Phantombildes … wie heißt das offiziell?«

»Ausgeforscht?«, half Flo ihm weiter, und wartete ab, bis Kotten nickte. »Trotzdem ist es außergewöhnlich, dass man ausgerechnet auf Sie gekommen ist.«

»Es gab auch noch einen anonymen Anrufer, der behauptet hat, ich sei auf dem Film zu sehen.«

Evelyn überlegte. »Der Anrufer hat...