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Schwarzes Watt - Ein Nordsee-Krimi

Hendrik Berg

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641220907 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3

Nein, nein, nein, ich darf nicht wieder zu spät kommen!

Die Erkenntnis, dass er keine Zeit mehr hatte, fuhr wie eine spitze Nadel durch seinen tauben Körper.

Lauf schneller! Du kannst es noch schaffen. Dieses Mal wirst du sie retten können. Dann wird alles gut sein. Die vielen Tage voller Einsamkeit und Schmerz, die wird es niemals gegeben haben.

Er lief durch die Nacht, vorbei an kleinen Baracken und Gärten. Endlich sah er das Licht am Ende des Weges. Wie eine Kerze in der Dunkelheit. Doch obwohl eine Kerze Wärme und Geborgenheit versprach, wusste er, dass ihn dort nur ein Albtraum erwarten würde. Der Blick in seine persönliche Hölle.

Aber nicht heute! Heute Nacht kann ich sie retten!

Nur noch wenige Meter, und er war angekommen. Er verspürte Freude und Erleichterung. Und Wut. Wut auf den Kerl, der seiner Familie das angetan hatte. Jetzt würde er seinen Zorn zu spüren bekommen! Er ballte die Fäuste, schrie. Gleich wurde abgerechnet! Und wenn er das eigene Leben für das seiner Tochter opfern musste.

Doch was war das? Plötzlich lag ein gewaltiges Gewicht auf seinen Beinen. Er stemmte sich dagegen, mit aller Kraft, aber von einem Moment zum anderen kam er nicht mehr vorwärts. Die Luft wie dickflüssiger Sirup. Eiskaltes Wasser, das sich um die Beine legte, die Muskeln betäubte.

Nein! Bitte nicht!

Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Wie ein Ertrinkender strampelte er mit Armen und Beinen, unfähig, sich aus der Umklammerung zu lösen.

Ich komme zu spät! Zu spät!

Die Erkenntnis, dass er das Grauen nicht aufhalten konnte. Sein Herz krampfte, ein furchtbarer Schmerz jagte ihm durch den Kopf. Er schluckte Wasser, immer mehr von der fauligen Brühe füllte den Hals.

Nein, Schluss! Ein Traum, er wusste genau, das war nur eine Illusion. Und jetzt musste er endlich aufwachen, sofort!

Der Verstand führte das träge Bewusstsein aus der Tiefe an die helle Oberfläche. Mit einem heftigen Zucken erwachte er, schreckte stöhnend aus den Kissen.

Wo bin ich?

Nicht auf der Hallig Hooge, auch nicht in der Kleingartensiedlung in Berlin-Pankow, wo seine Tochter Hannah vor vielen Jahren von einem Unbekannten lebensgefährlich verletzt wurde. Nein, er lag im gemütlichen Bett seiner kleinen Wohnung in Husum. Durch das halboffene Fenster strömte frische Luft herein. Vor dem Haus rauschten leise die Eichen und Kastanienbäume. Benommen vor Müdigkeit drehte er den Kopf, starrte auf den Wecker. Erst vier Uhr morgens.

Doch etwas stimmte nicht. Er war wach, hatte aber immer noch kein Gefühl in den Beinen. Unterhalb der Knie spürte er nur ein gewaltiges Gewicht, das ihn auf das Laken drückte.

Ein Schlaganfall? Erschrocken richtete er sich auf, blickte an sich herunter – und schrie auf. Auf dem Bett, auf seinen Beinen, lag ein gewaltiges Untier mit einem riesigen Maul und großen pelzigen Tatzen.

»Oh mein Gott!« Sein Aufschrei dröhnte durch das Zimmer, als die Tür aufging und das Licht angeschaltet wurde.

»Was um Himmels willen ist …« Marianne, seine Vermieterin, stand vor dem Bett. In der Eile hatte sie nur einen Bademantel übergeworfen, die Haare vom Schlafen noch zerzaust. Ihre zuerst noch besorgte Miene entspannte sich, als sie den Grund für Krummes Angstattacke sah. Sie lächelte. »Schau mal an. Da seid ihr beide ja schnell Freunde geworden.«

Endlich kehrte Krummes Erinnerung vollständig zurück. Watson, der Hund ihrer Nachbarin Anette. Eine struppige Mischung aus Labrador, Hirtenhund und Bernhardiner. Marianne hatte Watson gestern Abend Asyl gewährt, weil sein Frauchen für ein paar Wochen nach Kiel musste. Natürlich war Krumme dagegen gewesen, aber er war ja nur der Untermieter.

»Was macht das Vieh hier?«, schimpfte er.

Marianne hielt den Finger an den Mund. »Nicht so laut, Theo. Du weckst ihn noch auf. Hast du denn die Tür nicht richtig zugemacht?«

Er überlegte. »Zugeschlossen jedenfalls nicht. Sollte ich vielleicht, wenn der Hund länger bei uns bleibt.«

»Keine Sorge. Anette hat gesagt, länger als ein, zwei Wochen ist sie nicht weg.«

Krumme betrachtete den großen Hund auf seinen Beinen. Kaum zu glauben: Trotz des hellen Lichts und der Unruhe um ihn herum schlief Watson immer noch, bleckte im Schlaf friedlich lächelnd sein Gebiss. Ein Wachhund schien er jedenfalls nicht zu sein.

»Nimm ihn mit. Bitte.« Krumme flüsterte, nicht aus Rücksicht auf Watsons Schlaf, sondern aus Angst, das Ungeheuer könnte aufwachen.

»Aber warum? Er ist doch ganz lieb.«

»Bitte!«, wiederholte Krumme. »Meine Beine sind völlig abgestorben.«

Marianne strich sich nachdenklich über den Arm. »Ich hatte ihm sein Schlafkissen eigentlich in den Flur gelegt. Aber offensichtlich will er lieber bei dir sein.«

»Ich aber nicht bei ihm. Und auch als Untermieter habe ich meine Rechte.«

Marianne grinste. »Schon gut, ich kümmere mich um ihn.« Sie begann den Hund am Hals zu kraulen. »Komm, Watson, du bist hier nicht erwünscht.« Tatsächlich gelang es ihr, Krummes Bettgenossen zu wecken. Watson sah sich verschlafen um, machte zunächst aber keine Anstalten, sich zu rühren. Erst als Marianne ihn mit sanfter Gewalt am Halsband zog, stand er auf, schüttelte sich und kletterte dann gemächlich aus dem Bett. Nicht ohne Krumme beim Verlassen noch einmal mit seinen großen Füßen schmerzhaft zwischen die Beine zu treten. Immerhin folgte er Marianne ohne Murren hinaus aus dem Zimmer. Sie wünschte Krumme noch eine gute Nacht und zog die Tür leise hinter sich zu. Erleichtert ließ er sich zurück auf sein verschwitztes Kissen fallen und starrte an die Decke.

Na toll, vier Uhr in der Früh, und er lag hellwach im Bett. Und das nicht nur wegen Watson, sondern auch weil diese düsteren Träume ihn immer noch verfolgten. Ja, die Sturmflutnacht auf der Hallig war schrecklich gewesen. Und die Nacht, in der er nicht verhindern konnte, dass seine Tochter Hannah schwer verletzt wurde, würde er nie vergessen. Aber nun war doch eigentlich alles gut. Jetzt lebte er glücklich in Nordfriesland. Hatte sein Leben neu geordnet, Freunde gefunden, und mit der Arbeit gab es auch keine Probleme mehr. Trotzdem holten ihn die Erinnerungen immer wieder ein.

Er fasste sich an die trockene Kehle. Er musste unbedingt etwas trinken. Mit einem leisen Ächzen schwang Krumme sich aus dem Bett. Er schlüpfte in seine Hausschlappen und schlich über die knarrenden Dielen vorbei am jetzt friedlich auf einem sofagroßen Kissen im Flur schnarchenden Watson in die dunkle Küche. Als er den Kühlschrank öffnete, war er für einen kurzen Moment geblendet. Zum Glück gab es noch etwas frische Milch. Krumme trank sie direkt aus der Milchtüte.

»Was ist nur los mit dir?«

Er zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Marianne stand wieder in ihren Bademantel gehüllt hinter ihm. Sie hatten ihre eigenen Schlafzimmer, aber die Küche und ein kleines Wohnzimmer teilten sie sich.

»tschuldigung«, stammelte Krumme und hielt das Tetra Pak hoch, »ich hätte wohl lieber ein Glas nehmen sollen, was?«

Marianne winkte ungeduldig ab. »Du kannst so viel trinken, wie du willst.«

»Ist es wegen Watson?«, fragte er verwirrt. »Hör zu, ich weiß, ich stelle mich ziemlich an. Aber ich habe eben keine Erfahrung mit Hunden und …«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast vorhin wieder schlecht geträumt, oder?«

Er sah sie überrascht an. »Woher …?«

»Zwischen unseren Schlafzimmern befindet sich nur eine dünne Wand. Wenn du in der Nacht aufstöhnst, kann ich das genau hören.«

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.«

»Wovon hast du denn geträumt?«

Er sah auf die Milchtüte. »Ach, ich kann mich gar nicht erinnern.«

Marianne musterte ihn. Seine Vermieterin war mit ihren 53 Jahren immer noch eine attraktive Frau. Krumme hatte sich im Laufe des einen Jahres, in dem er hier in Husum wohnte, dabei ertappt, dass er immer neue Details entdeckte, die ihm an ihr gefielen. Die frechen Fältchen um die Augen. Die Sommersprossen. Die dunklen, vollen Haare. Sie bemühte sich zu verbergen, dass es mittlerweile auch einige graue Härchen gab, was Krumme völlig überflüssig fand. Aus seiner Sicht stand ihr das Älterwerden sehr gut.

»Na schön, dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein«, erwiderte sie. Krumme spürte ihre Enttäuschung darüber, dass er mit ihr nicht über seine Gefühle und Ängste reden wollte. Sie wünschte ihm einen ruhigen Schlaf und verschwand in ihrem Zimmer.

Du Idiot!, ärgerte sich Krumme. Wieso hast du ihr nicht die Wahrheit gesagt?

Er sah nachdenklich aus dem Küchenfenster hinaus in den Himmel, wo ganz schwach schon das Morgenlicht zu glimmen begann.

So ganz klar war ihm nicht, was für eine Beziehung er und Marianne hatten. Nur Freunde? Oder mehr? Holger Mannsen, sein Kollege und Freund von der Schutzpolizei in Bredstedt, hatte ihn mehrmals aufgefordert, nicht immer auf Abstand zu bleiben. Aber Krumme war unsicher, ob er nicht genau diese Distanz mochte. Es hatte lange gedauert, bis sie sich bei einem Essen mit den Mannsens darauf geeinigt hatten, sich zu duzen. Sie hatte ihm angeboten, ihn wie alle ihre Freunde nur Maria zu nennen. Aber das wollte Krumme nicht. Maria, das war der Name seiner Exfrau, die sich nach der Geschichte mit Hannah von ihm getrennt hatte und jetzt mit einem anderen Mann in...