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Ohne ein einziges Wort - Roman

Rosie Walsh

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641222581 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Zweites Kapitel

Sechster Tag: Als wir es beide wussten

Das Gras war feucht geworden. Feucht und dunkel war es und sehr geschäftig. Es erstreckte sich von hier bis zum rußschwarzen Waldrand und wimmelte nur so von arbeitsamen Ameisenbataillonen und behäbigen Schnecken und winzigen, hauchdünne Seidenfäden ziehenden Spinnen. Die Erde unter uns saugte das letzte bisschen Wärme auf wie ein durstiger Schwamm.

Eddie lag neben mir und summte die Star-Wars-Titelmelodie. Sein Daumen streichelte meinen. Behutsam, sanft wie die Wolken, die gemächlich über die schmale Mondsichel am Himmel über uns strichen. »Komm, wir suchen Außerirdische«, hatte er vorhin gesagt, als der violette Himmel sich langsam purpurrot gefärbt hatte. Und jetzt lagen wir beide immer noch hier.

In der Ferne hörte ich den letzten Zug des Tages laut seufzend über den Hügel schnaufen, und ich musste lächeln beim Gedanken daran, wie Hannah und ich als Kinder immer hier draußen gezeltet hatten. Auf einem kleinen Streifen Wiese, in diesem kleinen Tal, versteckt vor der, wie es mir damals schien, winzig kleinen Welt.

Kaum hatte sich der Sommer angekündigt, hatte Hannah jedes Jahr aufs Neue unsere Eltern angebettelt, endlich das Zelt aufstellen zu dürfen.

»Also gut«, hatten sie dann irgendwann widerstrebend nachgegeben. »Solange du im Garten bleibst.«

Der Garten vor dem Haus war platt und eben. Er war von beinahe jedem Fenster einsehbar. Aber das reichte Hannah nicht. Sie war zwar fünf Jahre jünger als ich, aber immer schon viel verwegener und abenteuerlustiger gewesen. Sie wollte hinaus auf die große Wiese, hinaus in die weite Welt. Die Wiese zog sich den steilen Hang hinter dem Haus hinauf und war ganz oben gerade eben genug, um dort ein Zelt aufzustellen. Einsehbar war es nur vom Himmel. Sie war mit harten, eingetrockneten Kuhfladen-Frisbees übersät und so steil, dass man von oben beinahe in unseren Schornstein gucken konnte.

Unsere Eltern fanden Zelten auf der Wiese keine besonders gute Idee.

»Aber da kann doch gar nichts passieren«, hatte Hannah mit ihrer vorlauten Piepsstimme beharrt. Wie diese Stimme mir fehlte.

»Alex ist doch dabei.« Hannahs beste Freundin war eigentlich ständig bei uns zu Hause. »Und Sarah auch. Die beschützt uns, wenn irgendwelche Bösewichter uns was wollen.«

Als wäre ich ein schrankgroßer Muskelprotz mit zielsicherem rechten Haken.

»Und wenn wir zelten, brauchst du uns auch kein Abendessen zu machen. Und kein Frühstück …«

Hannah war wie ein Minibulldozer; nie gingen ihr die Argumente aus, und immer gaben unsere Eltern irgendwann klein bei. Zuerst schlugen sie neben uns auf der Wiese ihr Zelt auf. Aber irgendwann, als ich mich gerade mühsam durch den undurchdringlichen, unwegsamen Dschungel der Pubertät schlug, erlaubten sie Hannah und Alex, allein draußen zu campen, mit mir als Aufpasserin.

Und so lagen wir drei dann zusammen in Dads altem Festivalzelt – ein ausladendes Ding aus orangerotem Segeltuch, riesig wie ein Beduinenzelt – und lauschten auf die Sinfonie seltsamer Geräusche draußen im Gras. Oft lag ich noch lange wach, nachdem meine kleine Schwester und ihre beste Freundin längst eingeschlafen waren, und fragte mich, wie ich die beiden beschützen sollte, würde man uns tatsächlich überfallen. Die Last dieser verantwortungsschweren Aufgabe, Hannah zu beschützen – nicht nur hier im Zelt, sondern immer und überall –, fraß sich wie geschmolzenes Gestein in meinen Magen, kochend wie ein brodelnder Vulkan. Mal ehrlich, was hätte ich denn schon ausrichten können? Potenzielle Angreifer mit gekonnten Teeniehandkantenschlägen ausschalten? Sie mit einem marshmallowverklebten Grillspieß erdolchen?

Oft zögerlich, nicht besonders selbstsicher, so hatte meine Klassenlehrerin mich mal in einem Zeugnis beschrieben.

»Na toll, das ist ja mal wirklich hilfreich«, hatte Mum gebrummt in demselben Tonfall, mit dem sie sonst unseren Vater rüffelte. »Hör einfach nicht auf sie, Sarah. Sei so unsicher, wie du willst! Dafür ist die Pubertät schließlich da!«

Ganz erschöpft vom mentalen Tauziehen zwischen schwesterlichem Beschützerinstinkt und jugendlicher Ohnmacht schlief ich schließlich ein, und wenn ich morgens viel zu früh wieder aufwachte, machte ich mich gleich daran, aus den bunt zusammengewürfelten Zutaten, die Hannah und Alex anscheinend vollkommen wahllos eingepackt hatten, ihre berühmt-berüchtigten »Frühstückssandwichs« zusammenzubauen.

Ich legte eine Hand auf die Brust, um das harte Schlaglicht auf diese Erinnerung zu dämpfen. Das war kein Abend zum Traurigsein: Es war ein Abend für das Hier und Jetzt. Für Eddie und mich und das große, beständig wachsende Was-es-auch-war zwischen uns.

Ich konzentrierte mich auf die nächtlichen Geräusche der Lichtung im Wald. Wirbelloses Rascheln, Säugetierschnuffeln. Das grüne Rauschen flatternder Blätter; wie Eddies Atem sich unbeschwert hob und senkte. Ich lauschte auf seinen Herzschlag, der gleichmäßig durch den Pullover klopfte, und bewunderte diese stete Verlässlichkeit. »Es wird sich alles zeigen«, sagte mein Vater immer gerne. »Abwarten und Tee trinken, Sarah.«

Aber ich wartete jetzt schon eine ganze Weile. Schon eine ganze Woche lang beobachtete ich diesen Mann und hatte noch keine Spur von Unruhe oder Unsicherheit ausmachen können. In vielerlei Hinsicht erinnerte er mich an das Ich, das ich mir für meine Arbeit angeeignet hatte: beständig, vernünftig, unbeeindruckt vom unsteten Auf und Ab des Lebens – aber dieses Ich hatte ich mir mit jahrelanger Übung mühsam antrainiert. Eddie dagegen schien einfach so zu sein.

Ich fragte mich, ob er die kribbelnde Aufregung in meiner Brust wohl spüren konnte. Noch vor ein paar Tagen war ich: frisch getrennt, bald geschieden, stramm auf die vierzig zugehend. Und jetzt das. Er.

»Schau mal, ein Dachs!«, rief ich aufgeregt, als ich aus den Augenwinkeln eine gedrungene maskierte Gestalt undeutlich vorbeitrotten sah. »Ob das wohl Cedric ist?«

»Cedric?«

»Ja. Wobei, das kann er unmöglich sein. Wie lange leben Dachse im Allgemeinen so?«

»Ich glaube, so ungefähr zehn Jahre.« Eddie lächelte; ich konnte es hören.

»Dann ist es ganz bestimmt nicht Cedric. Aber vielleicht sein Sohn. Oder Enkel.« Ich unterbrach mich. »Wir haben Cedric sehr gemocht.«

Ein vibrierendes Lachen pulsierte durch seinen ganzen Körper und sprang auf mich über. »Wer ist denn wir?«

»Ich und meine kleine Schwester. Wir haben früher oft auf einer Wiese ganz in der Nähe gezeltet.«

Er drehte sich auf die Seite, das Gesicht ganz nahe an meinem, und ich sah es in seinen Augen.

»Cedric, der Dachs. Ich … du«, raunte er leise, schnell. Mit dem Finger strich er an meinem Haaransatz entlang. »Ich mag dich. Ich mag dich und mich, uns beide zusammen. Ich mag uns beide zusammen sehr.«

Ich lächelte. Mitten hinein in diese gütigen, aufrichtigen Augen. Strahlte ihn an, mit seinen Lachfältchen, dem markanten Kinn. Ich nahm seine Hand und küsste ihn auf die Fingerspitzen, die nach zwei Jahrzehnten Holzarbeit rau waren und gesprenkelt von unzähligen Splittern. Schon jetzt kam es mir vor, als würde ich ihn schon immer kennen. Mein ganzes Leben lang. Es war, als seien wir füreinander geschaffen, als seien wir von Geburt an füreinander bestimmt gewesen, und jemand hätte so lange geschubst und geschoben und geplant und gemauschelt, bis wir uns endlich vor sechs Tagen »zufällig« begegneten.

»Ich hatte gerade ein paar schrecklich kitschige Gedanken«, murmelte ich nach langem Schweigen.

»Ich auch.« Er seufzte. »Mir kommt es fast vor, als hätte jemand das Drehbuch der vergangenen Woche zu einer Filmmusik mit einem ganzen Orchester schmachtender Geigenmelodien geschrieben.«

Ich musste lachen, er küsste mich auf die Nasenspitze, und ich fragte mich, wie es sein konnte, dass man Wochen, Monate – sogar Jahre – dumpf vor sich hin lebte, ohne dass irgendwas passierte, und dann, innerhalb von ein paar Stunden, alles plötzlich kopfstand. Wäre ich an diesem Tag etwas später losgegangen, ich wäre wohl schnurstracks in den Bus gestiegen und ihm nie begegnet, und dieses neue Gefühl vollkommener Sicherheit wäre nichts weiter gewesen als das ungehörte Flüstern verpasster Gelegenheiten.

»Erzähl mir noch mehr von dir«, bat er. »Ich weiß immer noch nicht genug. Ich will alles über dich wissen. Die lückenlose und ungekürzte Lebensgeschichte der Sarah Evelyn Mackey – einschließlich sämtlicher ungeschönter unschöner Kapitel.«

Nachdenklich drehte ich mich auf die Seite.

Nicht, dass ich nicht damit gerechnet hätte, dass so etwas früher oder später kommen würde. Ich hatte mir nur noch nicht überlegt, was ich dann machen sollte. Die lückenlose und ungekürzte Lebensgeschichte der Sarah Evelyn Mackey – einschließlich sämtlicher ungeschönter unschöner Kapitel. Vermutlich würde er damit umgehen können. Dieser Mann trug eine unsichtbare Rüstung, ihn umgab eine stille Stärke, die mich an eine mittelalterliche Stadtmauer erinnerte oder eine wettergegerbte stämmige Eiche.

Mit der Hand fuhr er die Linie meiner Hüfte bis hinauf zum Brustkorb nach. »Ich liebe diese kleine Kurve«, murmelte er versonnen.

Ein Mann, der sich so wohlfühlte in seiner eigenen Haut, dass man ihm beinahe jedes Geheimnis verraten, jede Wahrheit anvertrauen konnte, und der in der Lage wäre, sie für sich zu behalten, ohne dabei selbst ins Wanken zu geraten oder irreparable...